AKUT

Vorsicht Trinkwasser! – Der WIENER Wassertest 1982

Tausend Brunnen nördlich der Donau mußten gesperrt werden. Doch das restliche Wiener Wasser sei in Ordnung, wurde beteuert. Der WIENER ließ das Trinkwasser in allen Bezirken stichprobenartig untersuchen. Ergebnis: Aus allen getesteten Wasserleitungen sprudeln die Giftmoleküle. (Aus der WIENER-Ausgabe Juli 1982, Autor: Michael Hopp)

Wien-Floridsdorf, Autokaderstraße, sechs Uhr, die Sonne geht auf. Vereinzelt Menschen in Schlafmänteln und Hauspantoffeln, in der Hand Kübel, Limonadeflaschen, Kochtöpfe. Zwei, drei stehen schon beim Hydranten und lassen ihre Behälter vollaufen. Wie lange es noch so gehe, will einer wissen. Das können doch nicht einmal die vom Wasserwerk sagen, weiß eine ältere Dame. Die Gruppe löst sich auf, die Leute kehren mit dem Wasser, das ihnen wertvoller denn je erscheint, in ihre Wohnungen zurück, um die Morgentoilette fortzuführen, um mit dem erbeuteten Naß Kaffee oder Tee zu kochen, um den Rest einzukühlen, damit sie sich bis zum Abend den Weg zum Hydranten ersparen.

Die Brunnen dieser Menschen sind vergiftet, ihre Wasserleitungen behördlich gesperrt. Krebserregende Substanzen in einer Konzentration, die mehrere tausend Male einen diskutierten Richtwert überschreitet, wurden in der chemischen Analyse gefunden, Insgesamt eintausend Brunnen in den Bezirken Floridsdorf, Donaustadt und Liesing sind verseucht. Die Wasserversorgung dieser Gebiete, die teilweise nicht an die öffentliche Wasserleitung angeschlossen sind, ist empfindlich gestört
Tageszeitungen und Magazine berichten ausführlich, Fernsehdiskussionen werden einberufen. Journalisten kämpfen sich wacker durch den Kompetenzendschungel, finden heraus, daß nicht weniger als fünf Stadtrate zuständig seien, was auch so interpretiert werden könne, daß eigentlich keiner zuständig sei. Doch die öffentliche Empörung bleibt in diesem heißen Juli gering.
Die allgemeine Verunsicherung wächst so wie die Konzentration der giftigen Substanzen nur in Spurenelementen – aber mit steigender Tendenz. Der vor kurzem noch selbstverständliche Gang zur Wasserleitung um ein Glas Wasser wird zum Gegenstand gesundheitsbewußter Überlegung: Soll man oder soll man nicht – wer würde schon für die Beschwichtigungsfloskeln der politischen Mandatare, wonach die Vergiftung auf die Brunnen am Stadtrand Wiens beschränkt seien, die Hand ins Feuer legen? Ein Indikator für die Angst der Menschen vor unserem Trinkwasser das vor nicht allzu langer Zeit noch als eines der besten Europas galt, ist ihre Bereitschaft, es durch Mineralwässer zu substituieren: Der Konsum dieser Produkte ist in Österreich seit 1970 immerhin um ein Fünfhundertfaches angestiegen.

Ingenieur Fritz Bolzer, wissenschaftlicher Leiter der chemisch-bakteriologischen Untersuchungsanstalt der Stadt Wien, muß im Rathaus nachfragen, bevor er mit einem Journalisten reden darf. Bolzer verkörpert den Typ des loyalen Wissenschafters. Nie käme es ihm in den Sinn, Forschungsergebnisse zu manipulieren, sie der jeweiligen politischen Saison anzupassen. Aber er – will natürlich auch nicht seinen Dienstgeber, die Gemeinde Wien, desavouieren. „Wenn wir Beamte nicht dazu da sind, für das Wohl der Allgemeinheit zu sorgen, wozu sind wir dann da?“ beschreibt er seine Dienstmoral und gibt damit der verzweifelten Hoffnung Ausdruck, daß es bei seinen Vorgesetzten ebenso sei.

Fritz Bolzer ist jener Mann, der die Untersuchungen der Brunnen in der Floridsdorfer Gegend veranlaßt hat, sie, als er auf eine Spur gestoßen war, den unterirdischen (und nur zu vermutenden) Weg des Grundwassers entlang vorangetrieben hat, ohne Rücksicht auf Überstunden und Überbelastung seiner Mitarbeiter. Ihm haben es die Menschen im Norden Wiens zu verdanken, daß sie nicht weiter giftiges Wasser trinken. Auf die Frage, wie sich denn Rathaus und Wasserwerke gegenüber seinem alle Budgets sprengenden, fast schon detektivischen Ehrgeiz verhalten hätten, gibt er die elegante Antwort: „Die ganze Aktion war zweifellos eine Initiative von unten, ein Werk der Basis. Ich seh‘ mich gern als „Basis*“.

Woher kommt das Gift?

Bolzer erzählt, seit vier Jahren die Wiener Trinkwässer nach den gegenwärtig besonders aktuellen Vergiftungen, den chlorierten Kohlenwasserstoffen, zu untersuchen. Die politische Opposition, aber auch engagierte Umweltschützer bezweifeln dies aufs heftigste: „Wenn sie seit vier Jahren suchen“, sagt etwa der ÖVP-Wissenschafter Wolfgang Struntz, „warum haben sie dann erst jetzt was gefunden?“
Die chlorierten Kohlenwasserstoffe, zumindest so viel ist für den Laien interessant, sind häufig verwendete Bestandteile chemischer Putz- und Lösemittel, wie sie in kleinen Dosen im Haushalt (Fleckputzmittel) und weitaus größeren Mengen vor allem in der metallverarbeitenden Industrie (Fettlösemittel) verwendet werden. Aus undichten Aufbewahrungsbehältern und nicht abgedichteten Mülldeponien geraten sie (oft über den Umweg undichter Kanalrohre) ins Grundwasser, von dort in die Brunnen und Grundwasserwerke (Lobau, Nußdorf), von dort in die Wasserleitung und somit in den Organismus des Menschen, wo sie sich in den Fettgeweben anreichern, um von dort aus ihre zerstörerische Wirkung auf Leber und Nervensystem zu entfalten. Langzeitfolge sei, so prognostizieren es die Wissenschafter mit erstaunlich großer Einhelligkeit, Krebs.

Die Frage, was gegen die seuchenartige Verbreitung dieser chlorierten Kohlenwasserstoffe zu unternehmen sei, läßt sich aus verschiedenen Perspektiven beantworten. In Österreich geht man in umweltschüt-
zerischen Belangen vorwiegend nach dem „Verursacherprinzip“ vor: Man versucht. jene Schmutzfinken herauszufinden (und zu bestrafen), die giftige Substanzen fahrlässig in den Boden sickern lassen. Doch die Industrie beteuert, es seien noch keine besseren Lösemittel erfunden und droht mit dem Zusperren, sprich mit der Dezimierung von Arbeitsplätzen, was erfahrungsgemäß auch den Umweltschutzminister beeindruckt. Prallen die Appelle an die Industrie ab, wendet man sich in der Regel an den Einzelverbraucher, er soll doch mit seinem Fleckputzmittel vorsichtiger umgehen. Fritz Bolzer empfindet solche Aufrufe nicht einmal als Tropfen auf den heißen Stein: „Wir haben es hier mit Verschmutzungen in der Dimension von ganzen Giftfässern zu tun. Außerdem: Wer schüttet schon sein Putzmittel ins Klo?“

Umweltschützer wollen durch diese in sich logische Überlegung den Letztverbraucher dennoch nicht aus seiner Verantwortung entlassen sehen: „Es mag nicht viel ausmachen, aber gerade bei den Putzmitteln gibt es umweltfreundliche Alternativen.“ Die Bekämpfung des Vordringens der chlorierten Kohlenwasserstoffe von einer anderen Seite, nämlich die Gifte erst ins Wasser geraten zu lassen, sie aber dann herauszufiltern, erscheint durch den Kostenpunkt tauglicher Aktivkohlefilteranlagen im Moment als nicht finanzierbar.

Welche Menge ist zulässig?

Man wird also in der Frage der chlorierten Kohlenwasserstoffe wie bei anderen Umweltgiften einen Verträglichkeits-Grenzwert festlegen. Das Futurum des vorangestellten Satzes erklärt sich aus dem mehr oder weniger doch skandalösen Umstand, daß es zum Zeitpunkt der akuten Trinkwasserkrise im Norden Wiens einen solchen noch gar nicht gab, es ihn im Moment nicht gibt, er aber (nach Kompetenzverhandlungen von Bund und Ländern) demnächst festgelegt werden soll. „In ein paar Monaten vielleicht“, sagt Fritz Bolzer und wirkt etwas resigniert. „Bei diesem Grenzwert wird es sein wie bei allen anderen“, befürchtet unser nächster Gesprächspartner, der Umweltwissenschafter des Ludwig-Boltzmann-Instituts, Hans Weihs, „erstens wird er nicht eingehalten werden, und zweitens ist es überhaupt absurd, zu glauben, die Wirkungen von Giften durch bürokratischen Erlaß festlegen zu können. Es steht zwar fest, daß Werte über der Grenze schädlich sind. Daß es unter der Grenze aber gesund ist, wird ja wohl niemand ernsthaft behaupten wollen.“

Der logische Satz wird ungehört verhallen. Statt, wie es Umweltschützer der gesamten westlichen Welt fordern, eine absolute Nullgrenze zu dekretieren, oder aber zumindest, wie es die Richtlinie des Europäischen Rates vorsieht, nur ein einziges Mikrogramm der giftigen chlorierten Kohlenwasserstoffe zuzulassen, diskutiert man in Wien allen Ernstes eine Höchstgrenze von stattlichen 25 Mikrogramm.

Ganz Wien ist betroffen.

Als die WIENER-Redaktion der Idee verfiel, das Trinkwasser aller Wiener Bezirke stichprobenartig auf chlorierte Kohlenwasserstoffe zu untersuchen, wurde ihr von den verschiedensten Leuten abgeraten. Dauere ein Jahr, eine solche Untersuchung – tönte es von offizieller Seite. Hat doch niemand das millionenschwere Gerät, außer vielleicht die Wasserwerke, und die geben’s nicht her – fürchteten die Kritischen und die Alternativen. Sei nicht nötig, werde ohnehin laufend untersucht – reihten sich die Wasserwerke in den Chor der Nein-Sager. Mag sein – leider aber ist nur der kleinste Teil dieser Untersuchungen öffentlich zugänglich. Die Ergebnisse der – allen Widerständen zum Trotz vorliegenden – WIENER-Trinkwasseruntersuchung, die auf dieser Seite schematisch dargestellt sind, sind kein Anlaß zur Hysterie (wie es der Opposition gefiele) – aber noch weniger einer zum halbherzigen Weiterwursteln (wie es der Regierungspartei gefiele). Die von der „Lebensmittel-Versuchsanstalt“ mittels eines Gaschroma-tographen unter der wissenschaftlichen Aufsichgt von Janos Gombos durchgeführte Analyse spricht eine deutliche Sprache:

  • Das Trinkwasser aller Wiener Bezirke ist mit chlorierten Kohlenwasserstoffen verseucht. (Nicht, wie es das Rathaus gern behauptet, nur die akuten Krisengebiete nördlich der Donau.“
  • Die relativ hohen Anteile an Trichloräthylen weisen auf eine Verschmutzung durch industrielle Abfälle. (Nicht, wie bisher vermutet wurde, auf Verbindungen, die durch die Chlorung des Wassers entstehen, was zwar nicht minder ungesund, aber leichter zu kontrollieren wäre.)
  • Das Wasser sämtlicher Wiener Bezirke überschreitet die Verträglichkeitsgrenzen, wie sie vom Europäischen Rat und der amerikanischen EPA empfohlen werden. (Nicht aber jene, die bequemer- und verantwortungsloserweise für Wien diskutiert wird.)
  • Das Wasser sämtlicher Wiener Bezirke sollte Neugeborenen nicht mehr verabreicht werden. (ÖVP-Struntz: „Ich könnte das nicht verantworten.“ Weihs.: „Wer gäbe seinem Kind schon ein krebsförderndes Getränk?“)

RATLOSE EXPERTEN

Der zweite Schock, der von der WIENER-Untersuchung ausging, bezieht sich auf die Verantwortlichkeit der Experten. Wie es sich für eine ordentliche Recherche gehört, nahm der diensthabende Redakteur die Untersuchungsergebnisse, um also Giftforscher, die eigentliche zuständige Spezies von Wissenschaftern, über die zu befürchtenden, der Gesundheit abträglichen Konsequenzen des Konsums von Wiener Wasser zu befragen.

Warum zum Schmiedl, gleich zum Schmied! – sagten wir uns und klopften an bei Österreichs maßgeblichem Toxikologen, dem Professor und Inhaber eines Lehrstuhls, Otto Kraup. „Mit diesen kleinen Konzentrationen kenn‘ ich mich nicht so aus …“, lautete seine entwaffnend offene Antwort. Die Odyssee von einem Toxikologen zum nächsten, vom Biochemiker zum Bakteriologen, vom Institut für Arbeitsmedizin zu jenem für Krebsforschung brachte ähnliche Ergebnisse.

Die Wiener Wasser-Zukunft sieht düster aus. Sie gewinnt an Kontur, stellt man folgende Milchmädchenrechnung an: Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Zeitschrift lagern in Österreich etwa
15.000 Tonnen Verbindungen, die chlorierte Kohlenwasserstoffe enthalten. Erfahrungsgemäß werden ein bis zwei Prozent „diffus weggeleitet“ (das heißt, sie versickern im Boden). Auch über die Dichte der Rohrsysteme (und damit ihre Anfälligkeit für Verschmutzungen) ließe sich streiten. Als Beispiel sei angeführt, daß die Wiener Hochquellwasserleitung auf ihrem Weg von der Rax nach Wien cirka 10 Prozent ihres Wassers verliert. Warum sollen die Kanäle dichter sein? Bürgermeister Leopold Gratz äußerte sich in einer Pressekonferenz am 19. August zum Wiener Wasser-Problem: Es gäbe keinen Grund zu Beunruhigung oder gar Hysterie.

Die Menschen nördlich der Donau wandern zum Hydranten. Und entnehmen auch ihm Wasser, das chlorierte Kohlenwasserstoffe enthält, wenn auch in geringerer Konzentration als in den gesperrten Brunnen. In dieser ganzen Stadt gibt es keinen einzigen Tropfen sauberes Wasser mehr.