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Das warme Wien der Zwischenkriegszeit

Franz J. Sauer

Nachmittags in einer Kabine des Römerbades eine flüchtige Bekanntschaft machen. Am frühen Abend im Buchheim den Strichbuben zuzwinkern. Gegen Mitternacht auf einen Sprung ins Myrthenhof, wo vielleicht ein Herren-Striptease angesagt ist. So könnte ein Streifzug durch das schwule – pardon: homophile – Wien anno 1923 ausgesehen haben. Michael Hopp hat das warme Wien der Zwischenkriegszeit rekonstruiert. Ergebnis der Archiv-Ausgrabung und der Befragung homosexueller Pensionisten: In der Zeit zwischen den Kriegen war Wien die europäische Homosexuellen-Metropole. (Aus der WIENER-Ausgabe April 1982)

An einem Abend des November 1921 saß der Student Erwin Bestenreiner im Cafe Tyrol im ersten Wiener Gemeindebezirk. Nervös löst er den Zucker in seinem kleinen Schwarzen auf. Endlich! Siegfried K., ein Redakteur der kommunistischen „Roten Fahne“, betritt das Cafe. Auf ihn hat Bestenreiner gewartet. Nach kurzem Geplänkel packt Bestenreiner aus: Er wolle ein elegantes Homosexuellenlokal eröffnen und eine homophile Zeitschrift herausgeben – und bittet K. um Unterstützung dieser Pläne. K., das wußte Bestenreiner, stammt aus einer niederösterreichischen Grundbesitzerfamilie und verfügt über beträchtliche Summen Geld. So schildert Erich Lifka, ein 58iähriger Schriftsteller, die Entstehung des Clubs „El Dorado“ und der Zeitschrift „Dorado Wien“. Glaubt man Lifka, soll der kommunistische Redakteur den Studenten Bestenreiner nicht nur finanziell unterstützt, sondern für das „Dorado Wien“ auch gleich einen prominenten Autor aufgetrieben haben: Felix Salten („Bambi“, „Mutzenbacher“) lieferte schwule Kurzgeschichten mit harten Pornoeinlagen.

Originalton Lifka: „In einem Haus in der Jasomirgottstraße, gleich beim Stephansplatz, ließ Bestenreiner eine mehrstöckige Bar erbauen, wie sie Wien noch nie gesehen hatte. Das homophile junge Wien erschien in Scharen. In der Empfangshalle stand eine überdimensionale Statue eines nackten Jünglings, des Namenpatrons El Dorado. Auf kleinen Rosenholztischen am Rand der Tanzfläche lagen die ersten Exemplare des ‚Dorado Wien.“

Die Zeitschrift trug einen luxuriösen Goldrahmen und brachte eine Mischung aus schöngeistigen Essays, Sexgeschichten und Aktfotos, die Bestenreiner selbst fotografiert haben soll. Lifka: „Bestenreiner hatte ein eigenes Studio für diese Aufnahmen. Und an Modellen mangelte es wahrlich nicht!“ Erich Lifka, der heute mit einer alten Tante in einer schummrigen Villa in Hietzing lebt, weiß viele, vielleicht die meisten Geschichten und Anekdoten aus dem homophilen Wien der Zwischenkriegszeit. Lifka hat freilich auch viele Feinde: Andere Homosexuelle, die die Zeit erlebt haben und damals schon in der Szene unterwegs waren, können sich weder an das Lokal noch an die Zeitschrift erinnern. verweisen Lifkas Histörchen schlicht ins Reich der Dichtung.

In den Wiener Bibliotheken sucht man das „Dorado Wien“ vergeblich. Was aber nichts besagt: Das homophile Wien der Zwischenkriegszeit ist aus den Geschichtsbüchern fast restlos getilgt. Der Nationalsozialismus bedrohte es mit Pogrom. Später, in der Nachkriegszeit, blockierten Ängste und Tabus die Rekonstruktion des schwulen Teils der Wiener Kulturgeschichte. In den Archiven stößt man auf Unkenntnis und Ratlosigkeit. „An der Dokumentation solcher Dinge hatte die Stadt Wien natürlich kein Interesse“, erklärt Dr. Johann Luger von der Wiener Stadtbibliothek. Und in der Nationalbibliothek trägt das homosexuelle Standardwerk der damaligen Zeit, „Magnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes“, noch heute den unübersehbaren Vermerk „Gesperrt“ Alexander Wegerer, 72, ist einer der wenigen (über-)lebenden Zeugen der Zeit.

Das Römerbad im zwelten Bezirk war nicht nur zum Schwitzen gut. In seinen über hundert Kabinen, die auf vier Stockwerke verteilt waren, praktizierten die Homophilen eine Art Sexualanarchie – Jeder mit jedem, aber freiwillig und ohne Zwang. Ins Römerbad, das Mitte der sechziger Jahre abgerissen wurde, kamen Homophile aus ganz Europa. Das Wien unter Leopold Gratz hat keine Attraktionen dieser Art zu bieten. Daher sah sich Gerhard Heller gezwungen, die Szene für sein Aufmacherfoto nachzustellen – allerdings auf historisch-authentischem Boden: Im Kaiserbründel, dem früheren Zentralbad und Konkurrenzunternehmen des Römerbades.

Heute lebt er zusammen mit seinem 23jährigen Freund in einem kleinen Einfamilienhaus in der Nähe des Laaerbergs. Wegerer reagierte auf die Homosexuellen-Verfolgung auf seine Weise: Er trägt derzeit sein drittes Pseudonym. An seiner Eingangstür fehlt ein Namensschild. 

Zentraler Punkt seiner Erinnerungen, die er feierlich hervorkramt, während der junge Freund an seinen Lippen hängt, ist kein Lokal, sondern das Römerbad. Das Römerbad befand sich im zweiten Bezirk, Ecke Kleine Stadtgutgasse/Holzhausergasse. Seit der Jahrhundertwende die berühmteste und größte Schwulensauna der Stadt, die dem Mittelklasse-Homo in jeder Hinsicht Entspannung bot.

Das Römerbad war ein klassizistischer, prunkvoller Bau, von dem Architekturstudenten noch heute schwärmen. „Es war Ausdruck einer Bäderkultur, die jetzt unvorstellbar geworden ist. Seine Wurzeln hatte es noch in der Monarchie, man merkt starke Einflüsse der ungarischen Badehäuser, die ihrerseits die türkischen Bäder als Vorbild hatten“, gerät ein Assistent der Architekturklasse an der Wiener Akademie der Bildenden Künste ins Schwärmen. Aus ganz Europa kamen in der Zwischenkriegszeit Schwule nach Wien, um das Römerbad von ihrem Reiseplan abhaken zu können.

Wie haben wir uns den Betrieb im damaligen Römerbad vorzustellen?

Wegerer: „Vor dem Eingang standen die Stricher. Wenn man für sie den – relativ teuren – Eintritt bezahlte, sind sie mitgekommen und haben dann drinnen weiter ihre Dienste angeboten. Gefragt war übrigens nicht ausschließlich Geld, sondern auch Zigaretten der Marke Camel oder Chesterfield!“

An der Kassa löste man eine Karte für eine der über hundert Kabinen, die auf die vier Stockwerke des Bades aufgeteilt waren. Jede Kabine war mit einer roten Plüschliege ausgestattet. Den Gang und die Kabinen trennte nur eine Schwingtür. unter der man in die Kabine sehen konnte“, erinnert sich Wegerer. Sinn der Sache: Der Herr, der am Gang promenierte, konnte auf einen Blick feststellen, ob sich in der Kabine nur einer oder bereits zwei seiner Kollegen aufhalten. Wegerer: „Man ist einfach dringesessen und hat gewartet. Irgendwann ging sicherlich die Tür auf und ein Hübscher stand da.“

Eine seltsame Autorität scheinen die • Badewärter ausgeübt zu haben. „Wenn man ihnen ein Trinkgeld gab, hielten sie den Mund. Und warnten dich sogar, wenn eine Razzia bevorstand. Die meisten waren ohnehin Polizeikonfidenten und wußten über die Pläne der Sicherheitsdirektion genau Bescheid“

Trotz der Bespitzelung herrschte im Römerbad eine Liberalität, wie sie selbst für heutige Verhältnisse schwer vorstellbar ist. Es gab kein Jugendverbot und selbst die homosexuelle Prostitution, die heute unter Strafe steht, wurde in keiner Weise beschränkt. Lifka, der nicht nur in seinen Werken zum Pathos neigt: „Wenn wir Alten uns zurückerinnern, steigen unweigerlich Tränen in die Augen“

Harte Konkurrenz für das Römerbad war das Zentralbad in der Weihburggasse, das jetzige Kaiserbründel, dieses war den Spitzen der homophilen Gesellschaft vorbehalten. Es verzeichnete immer wieder prominenten Besuch, der den schwulen Pensionisten von heute noch in lebhafter Erinnerung ist: Stammgast war zum Beispiel der Prince of Wales und spätere Herzog von Windsor.

„Das Zentralbad war nie ausschließlich schwul“, erklärt uns Alexander Wegerer, aber an den schwulen Tagen ist es ganz ordentlich zugegangen. Ganze Fußballmannschaften, Vienna, Rapid, Wacker kamen und ließen sich bewundern.“

Und nach der Sauna? Ins Buchheim, das historische Wiener Schwulencafé, gleich vis-à-vis vom Zentralbad, Weihburggasse/Ecke Rauhensteingasse. Das Buchheim hatte zwei Räume, einen zum Schäkern, einen zum Tanzen. Ein blinder Klavierspieler, den alle Gäste hassten, der aber trotzdem nie ausgewechselt wurde, quälte das Piano – unter anderem mit der flotten Schwulenhymne der Zwischenkriegszeit: Wir lieben die lila Nacht/die schwül ist/weil wir ganz anders/ als die anderen sind“ An kleinen runden Tischen saßen vereinzelt Strichjungen, die – wie heute in Hetero-Animierlokalen – rechtoffensichtlich ihre Dienste anboten. Herr Buchheim, der Besitzer, dick und selber schwul, war – wie könnte es anders sein – Polizeispitzel. Die Sicherheitsdirektion wußte ihre Schwulen bei Buchheim in guten Händen.

In den sechziger Jahren stellte ein Nachfahre des alten Buchheim den Homo-Betrieb ein – und führt heute an selber Stelle ein Restaurant mit Namen „Tokyo“. Aus irgendwelchen Gründen dürfte Erich Lifka das Buchheim gemieden haben, denn er schwörte auf den Myrthenhof im siebenten Bezirk – und die damals alljährlich stattfindende „Lila Redoute“ als deren Höhepunkt jeweils ein schwuler „Mister Vienna“ gewählt wurde. Sein Foto erschien im „Dorado Wien“, sollte es dieses gegeben haben. „Ich kann mich sogar erinnern, daß ein gewisser Graf S. – wir alle wußten seinen Namen nicht – für diesen Mister einen hohen Geldpreis ausgesetzt hatte“

Wegerer wiederum weiß von einer anderen Schwulenszene, die in einem der traditionsreichsten Wiener Kaffeehäuser, im Herrenhof in der Herrengasse, beheimatet war: „Im Erdgeschoß war ganz normaler Kaffeehausbetrieb, aber der Kellner war einer von uns. Und er veranstaltete im ersten Stock wilde, homophile Feste, zu der aber nur die Elite des warmen Wien geladen war.“ Der Höhepunkt eines solchen Festes: Im Herrenhof gab es eine eigene Kapelle, die nur aus Homophilen bestand und im Stile der Comedian Harmonists aufspielte. Obwohl alle alten Homosexuellen Wiens von dieser Kapelle wissen, ist kein einziges Bilddokument überliefert. Was soll man von unseren Historikern halten, die solche – einzigartigen – Geschichts-Juwelen verkommen lassen?

Auch die ersten Ansätze organisierter Emanzipation fallen ins Wien der zwanziger Jahre. Im Jahr 1926 wurde im sechsten Bezirk ein „Klub der Vernünftigen“ gegründet, der gegen den Homosexuel-lenparagraphen 129 polemisierte. Schon wenige Jahre nach seiner Gründung wurde er im Rahmen einer Polizeirazzia ausgehoben.  Doch der Aufstieg Wiens zur europäischen Schwulenmetropole sollte noch einige Jahre andauern: 1930 kam Magnus Hirschfeld, der Berliner Sanitätsrat und Vordenker späterer Homosexuellengenerationen, nach Wien. Hirschfeld wollte eine Wiener Filiale seines „Instituts für Sexualforschung“ gründen, und traf sich dazu mit seinen hiesigen Freunden in einem Café in der Berggasse (sic!), das wiederum einem Schwulen gehörte – dem heute 89jährigen Ferdinand Lukschandel: „Ich kann mich noch genau erinnern, wie er da gesessen ist. Ich war richtig aufgeregt Hirschfeld war ja damals der einzige, der sich auf wissenschaftlicher Ebene für die Warmen eingesetzt hat“

Hirschfelds Theorien, die er in dicken Schinken (die Homosexualität des Mannes und des Weibes“, 1920 erschienen, hat über tausend Seiten) und in seinen „Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen“ veröffentlichte, gelten unter Homos noch heute als Kult-Lektüre. Hirschfelds Kernaussage: Schwule sind deshalb nicht zu verfolgen, weil sie genetisch determiniert seien – also für ihre Veranlagung „nichts können.“ In minutiösen, empirisch angelegten Studien wies Hirschfeld bestimmte Gemeinsamkeiten in Fettpolsterung, Größe der Brustwarzen, Stimmlage und Haaransatz nach, die seine „Urninge“ (wie er die männlichen Homosexuellen nannte) als „Rasse“ konstituierten.

Nach seinem Kaffeehaustermin hielt Hirschfeld im Wiener Konzerthaus einen Vortrag, der mit einem Eklat endete: Ein junger Rechtsradikaler feuerte mit einer Pistole auf den Sexualwissenschaftler, verfehlte ihn freilich knapp. Eine Begebenheit mit großer Signalwirkung. Denn von nun an wurde Wien zum Ausgangspunkt jener Schwulenjagd, die Himmler ab 1933 veranstaltete. Heimwehrtruppen stürmten das „El Dorado* und zerstörten den schwulen Götzen aus Gips. Das Buchheim schloß seine Pforten.

In die Redaktion des „Dorado Wien* flogen Handgranaten. Die Vertreibung aus dem Schwulenparadies Wien begann. 1938 gab es die ersten Homosexuellen-Transporte nach Dachau. Hunderttausend Homosexuelle – darunter fast alle Aktiven des homophilen Wien der Zwischenkriegszeit – starben in den Gaskammern.