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Archiv 2005 – Die ermächtigte Frau

Christian Jandrisits

Wenn dir eine Frau in unerhörter Wäsche unter die Augen tritt, brauchst du keinen Kalender, um zu sehen, dass heute Weihnachten, Ostern und dein Geburtstag sind. Sie signalisiert, dass sexuell einiges drinnen ist, wenn du dich nicht wie ein Volltrottel anstellst.

Text: Manfred Sax Fotos: Studiomato

Es steht nun fest: Der Sommer wird penetrant heiß. Daran wird auch das Wetter nichts ändern. Ein extremes Hoch wird von der Kinofront gemeldet. In „Sin City“, Kultfilm des Jahres, geht ein entnervend weibliches Trio seiner gewerblichen Wege: die blonde Jessica Alba im samtenen Bustier; die Straßen-geeichte Brittany Murphy im kleinen schwarzen Zweiteiler; die aufwärts mobile Latina Rosario Dawson im Fishnet-Bodystocking. Inzwischen, im Kinosaal nebenan, macht Angelina Jolie in „Mister & Mrs Smith“ vergessen, dass neben ihr auch noch Brad Pitt. den Action-Mann raushängen lässt. Eine unerhörte Garnitur aus Latex-Korsett, Stockings und Suspenders hilft dabei so erheblich, dass die Oberweite von Miss Jolie auf den begleitenden Plakaten nachträglich jugendfreundlich entsorgt wurde. Eine vorbeugende Schadensbegrenzung, die ihren Beinen erspart blieb. Die neckischen Strumpfbänder über der strategisch angelegten, fünf Zentimeter breiten Blöße ihrer Schenkel blieben ganz im Fokus der Kamera. Als Kunstfreund kann man da nur danken.

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Aber lassen wir die Details. In Zeiten der Postmoderne hat sich für all die sündteuren, dennoch sparsamst aus Seide und Spitze geschaffenen Artefakte mit „Lingerie“ ein Sammelbegriff durchgesetzt, der alles Wesentliche sagt, ohne auch nur halbwegs seriös zu informieren. Das Wort meint ja lediglich „Leinen für darunter“. Das wäre erstens falsch, weil die Dinger mit Leinen nichts mehr am Körbchen haben. Zweitens deutet auch das „Darunter“ im Normalfall nur eine Zwischenphase an. Lingerie ist heute so beruhigend teuer, dass die Frau, die sie trägt, darin auch gesehen werden will. Für alle anderen Zwecke hat sie Unterwäsche. Frau in Unterwäsche, das ist Alltag. Frau in Lingerie dagegen ruft in ihrem befangenen männlichen Betrachter eine sozusagen vorauseilende Erinnerung an „gewisse Stunden“ wach.
Wohl deswegen hält sich das Wort so hartnäckig. Das französische Flair, you know. Die Franzosen sind bekanntlich die eine Westkultur, die den „gewissen Stunden“ eine präzise Uhrzeit gewidmet hat, nämlich von 5 bis 7 (,,cinq a sept“). Bis fünf ist Beruf, nach sieben ist Alltag. Dazwischen sind die gewissen Stunden. Die Wahrscheinlichkeit, eine Französin in Lingerie anzutreffen, ist zwischen fünf und sieben am größten. Womit wir nun weniger die Uhrzeit importieren wollen, vielmehr den Geist, der in diesen Stunden Atmosphäre wird.


Wie gewiss diese Stunden sich im Gemüt der Lingerie-Trägerin manifestieren, erhellt ein Blick auf die einschlägige Industrie. Die Mode-Branche steckt in der Krise. Die Abteilung Lingerie erfreut sich lebhafter Konjunktur. Seit Jahren. Aber gerade traditionelle Größen in Sachen Dessous (Palmers, Marks & Spencers) orten heftigen Rückgang beim Verkauf ihrer Lingerie. Und ein Grund dafür wurde an den „braven“ und „anständigen“ Designs festgemacht: Wenn du mit einer Frau in Lingerie plakatwerben kannst, ohne Proteste und religiösen Eifer zu provozieren, dann stimmt heute was nicht. Zumindest die Frau als Lingerie-Käuferin ist mit der Botschaft „brav“ nicht zu ködern. Sie will ,,gewagt“, „unerhört“, ,,sündig“ oder wenigstens „nobelnuttig“. Meint man zumindest bei luxuriösen Lingerie-Riesen wie „Agent Provocateur“ – die mit entsprechenden Designs entsprechend punkten.
Wenn dir also die Angebetete heute in einer wahrhaftig unerhörten Wäsche leibhaftig erwächst, brauchst du keinen Kalender, um zu sehen, dass heute Weihnachten, Ostern und dein Geburtstag sind. Kraft ihrer unverfrorenen Selbstdarstellung hat sie gesprochen, ohne was gesagt zu haben. Sie will – und hat – deine Auimerksarnkeit. Sie signalisiert, dass sexuell heute einiges möglich ist, wenn du dich nicht wie ein Volltrottel anstellst. Dass sie sich verdammt wohl fühlt in ihrer Haut. Müßig zu fragen, warum. Es ist die Wäsche. Der nobelnuttige Dreiteiler.
Wenn du bereits seitjahren ihr Partner bist, wird sie dir auch gestehen, dass Lingerie ihr ein Gefühl von Unverwundbarkeit gibt. Wodurch sich – z.B. – die eine oder andere Hemmung erübrigt. Es ist aber knifflig – und nicht unbedingt ratsam – bezüglich des Themas „Frau & Lingerie“ zu sehr in die Partnerin zu dringen. Sie wird sich hüten, allzu viel zu sagen. Der Partner ist letztlich das, was sie unter Alltag versteht und wie wir mittlerweile etabliert haben:

Lingerie ist das genaue Gegenteil. Aber zurück zum Weihnachts-Ostergeburtstag. Die unvermeidliche, spontane Betörtheit des Mannes angesichts ihrer sauteuren Textilien setzt neben den obligaten Blackouts im Gehirnlappen häufig auch zu einem seiner legendären Trugschlüsse an, nämlich, dass sie die Lingerie ihm zu Liebe trägt. Irrtum. Die Seide auf ihrer Haut ist ein Liebesakt, den sie exklusiv sich selbst erweist: Sie ermächtigt sich gerade einen. Sie fühlt sich wie die einzige Oase in der Wüste. Und du bist in dem Szenario der arme Hund, in dessen Eingeweiden der Durst nagt. Ja, sie ist unwiderstehlich. Ein Prachtweib, dank Strapsen. Tolle Sache, so eine Ermächtigung. Seltsam nur, dass die „ermächtigte Frau“ als Begriff erst seit kurzem im modernen Bewusstsein existiert. Sie ist gerade so alt wie der Postfeminismus. Die positive Phase der bewussten weiblichen Ermächtigung begann – sinnbildlich gesprochen – mit den Spuren eines Lippenstifts am Mund einer deklarierten Feministin. Es war die seine winzige Geste für das Girl, aber ein bahnbrechender Akt für die ermächtigte Frau. Hardcore-Feministinnen outeten sie zwar als „Verräterin“. Tatsache war aber wohl auch, dass sie sich mit Lippenstift besser fühlte als ohne. Geschehen ist das irgendwann in den 1980ern. Was sich im Jahrzehnt darauf in Form der Postfeministin über die westliche Welt ergoss, ist uns hinlänglich vertraut: Sie konnte Karriere machen, hatte Geld, leistete sich Manolos. Sie war unabhängig genug, sich für den Single-Lifestyle zu erwärmen. Alles sehr ermächtigend.

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In Form der Sex-and-the-City-Girls hatte sie Idole, die ihr bestätigten, dass es in Wahrheit ganz okay ist, sich über Banalitäten auf äußerst komplizierte Weise den Kopf zu zerbrechen. Am Sektor Sex erweiterte sie ihr Vokabular. Der Blowjob, zum Beispiel, den sie zuvor als pure Gefälligkeit zu Gunsten ihres Lovers verbuchte, avancierte nun zum ermächtigenden Tool, mit dem sie den Lover verrohnmächtigte. Nett, wenn man es kann. Kein Wunder also, dass das Selbstwertgefühl der modernen Frau heute auf einem weniger kranken Niveau ist. Und nicht wirklich verblüffend, dass mit dem Selbstwert auch ihr Bedürfnis nach Schönheit stieg. So gesehen ließ sich der erste Zug des Luxusware Lingerie eigentlich nicht verhindern. Eine effektivere Beziehung als jene zwischen weiblichem Leib und Lingerie muss erst gefunden werden. Müßig zu fragen, wie es um den weiblichen Selbstwert bestellt war, ehe obige Lippenstift-Feministin ihren großen Moment hatte. Nun, der war im Eimer. Man könnte „Seventies“ dazu sagen, aber vom Standpunkt der Lingerie aus betrachtet reden wir da vom Zeitalter der großen Finsternis. Es war ja nicht so, dass Madame ihren massiven Identitätskonflikt diskret austrug. Sie war ziemlich lautstark. Unter anderem geriet auch Lingerie unter die Räder ihrer Rhetorik und degenerierte imagemäßig zu einer Art Sklavenuniform, ersonnen von Monsieur Pascha, um seine Madame aufs Niveau eines Nichts-als-Lustobjekts zu erniedrigen, ihrer Persönlichkeit beraubt, seiner schmutzigen Fantasie willenlos ausgeliefert. Schwer zu sagen, wie es passierte. Aber der Rufmord hielt. Anno Seventies war die Lingerie-Industrie so gut wie tot. Einzig die heute verstorbene, legendäre „Mieder-Königin“ Janet Reger hielt ihr Business quasi im Underground am Leben. Besonders ärgerlich aber der entstellte historische Kontext. Lingerie war nie ein Mittel zum Zweck ihrer Erniedrigung. Das erste notierte Korsett kam vor 3.000 Jahren in Kreta zur Anwendung. Es huldigte der weiblichen Form, straffte die Weichteile der Bauchgegend und brachte die Kretierin – ästhetisch mühelos nachvollziehbar – auf die Idee, den Brüsten darüber maximale Frischluft zu gönnen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren Korsette die einzige Form weiblicher Unterwäsche. Nichts wirklich Bequemes, vermutlich. Aber die kreative Vision war immer die weibliche Idealform, also Schönheit. 1889 kam dann Bewegungsfreiheit in ihre Sachen. Eine französische Mademoiselle namens Cudelle schnitt das Korsett in Taillenhöhe ab, und die Urform der Brassiere war gegeben. 1913 band eine gewisse Mary Phelps zwei Taschentücher aneinander und hatte den Prototyp des Büstenhalters in der Hand. Der Rest – von der Erfindung von Lycra über den Wonderbra bis zur Unterwäsche als Oberbekleidung von heute ist Modegeschichte.

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Hier ein paar historische Damen: Etwa Marlene Dietrich als Blauer Engel (1930). Nicht ganz die ihr ergebene Sklavin, wie es die 70er-Feminas sahen. Aber man konnte unschwer erkennen, dass die Persönlichkeit der Wäsche mit der Dame wuchs. In den 40ern bettete die formidable Jane Russell für „The Outlaw“ ihre zwei begnadeten Attribute in eine eigens konstruierte Brassiere, die einen Effekt schuf, der „den Gesetzen der Schwerkraft entschieden widersprach. Phänomene dieser Art wurden in der Folge auch „Russells“ genannt. Erwähnenswert ferner Miss Joan Collins, die 1978 als „das Biest“ in einem Bustier von Janet Reger bewies, dass Lingerie nicht ganz so tot war wie in der „dunklen Epoche“ zuvor angenommen wurde. In den Eighties mausierte sich schließlich Madonna kraft ihres von Gaultier konstruierten „konischen“ BHs zur ersten postfeministischen Ikone.

Bleibe noch ein Hinweis auf den Film „Basic Instinct“ (1995). Dessen Hauptdarsteller Michael Douglas ist bis heute der Ansicht, dass sein Sex mit Sharon Stone das Prädikat „Fuck of the Century“ verdient. Nur war eben seine Nummer mit Sharon nicht einmal der beste Fuck im Film. Diese Lorbeeren gehen an die Nebendarstellerin Jeanne Tripplehorn, deren anmutige Strapsgarnitur bis heute als Stehkader in der Erinnerung des geneigten Voyeurs erhalten blieb.

Womit wir im Heute sind. Bei Sin City und Mrs. Smith. Als Moral sei noch festgehalten, dass die Fashion-History beweist, dass die ermächtigte Frau und Lingerie ein perfektes Paar ergeben. Und wenn das Morgen nur halb so viele sinnliche Akzente setzt wie Lingerie-Fan Gwen Stefani in ihrem aktuellen Video, dann brauchen wir keinen Revolver in der Hosen­tasche, um unseren zutiefst ehrlichen Respekt zu bekunden.