AKUT
Die AIDS-Terroristen
Der Horror ist perfekt: Die AIDS-Kranken wehren sich gegen Isolation und Tätowierung, indem sie noch nicht erkrankte Menschen wissentlich anstecken. Der WIENER bringt einen Bericht über die Hintertgründe und Interviews mit Menschen, die durch Liebe töten. (Aus der Ausgabe Februar 1987 des WIENER)
Die Geschichte, die seit gut anderthalb Monaten durch Wien kursiert, ist wild genug. Dass sie dennoch den Weg von der Beiseltour in eine rund 250.000 TV-Zuseher breite Öffentlichkeit geschafft hat, verdankt sie dem Club 2 vom 8. Jänner. Die 20-jährige Jusstudentin Daniela Krenn gab dort zu nachtschlafener Zeit zum Besten, was sie im „Servus“ – einem Lokal auf der Mariahilfer Straße – von einem Mann aus ihrem weiteren Bekanntenkreis aufgeschnappt hatte: Er habe in einer New Yorker Bar ein Mädchen kennengelernt, erzählte er. Wer wen abgeschleppt habe, könne er nicht mehr sicher sagen. Die Nacht hätten sie jedenfalls in einem Stundenhotel verbracht. Sie wäre schon weggewesen, als er am Morgen danach aufwachte. Er sei ins Badezimmer gegangen und habe am Spiegel dann die Nachricht vorgefunden, die sie ihm mit Lippenstift dort hinterlassen hätte: „Welcome to the Aids Member Club.“
Er sei verärgert, ein klein wenig beunruhigt, aber nicht geschockt gewesen – wie nach einem bösen Scherz. Erst Wochen später habe er sich in Wien auf Anraten eines Freundes dem Antikörpertest unterzogen. Mit positivem Ergebnis. Das ist der Stoff, aus dem Albträume sind. Eine an sich unglaubliche Story, die vielleicht bedeutungslos wäre, wenn nicht schon wenige Tage vor Silvester dem WIENER eine gleichlautende Geschichte zugetragen worden wäre.
Gleicher Ort, New York, diesfalls allerdings in einer Diskothek. Gleicher Ablauf, ähnliche Botschaft. Nur bei der Quelle – dem Opfer – handelte es sich nicht um einen Wiener, sondern um den Sohn eines oberösterreichischen Mittelunternehmers.
Wie der erste bleibt freilich auch dieser Fall den Wahrheitsbeweis schuldig. Beide Männer waren nicht dazu bereit, ihre Geschichten dem WIENER gegenüber zu bestätigen. Die Geschichte vom rächenden Todesengel ist freilich kein harmloser Joke mehr. Sie ist eine Art Judenwitz im Aids-Zeitalter, sät Misstrauen und Zwietracht und schlägt in dieselbe Kerbe wie all die anderen Maßnahmen, die sogenannte Seropositive demnächst diskriminieren werden. Tatsache bleibt, dass zwei Österreicher behaupten, auf die beschriebene Weise mit dem HIV-Virus infiziert worden zu sein und dass jene Personen, die dabei waren, nicht glauben wollen, dass sie angeflunkert wurden. Ein Rätsel mehr um die geheimnisvolle Seuche – oder ein weiteres Indiz dafür, wie schnell die Angst auch unter stinknormalen Heteros um sich greift: Willkommen im Club der Aids-Verrückten?
Die Furcht vor Aids im Ausland: Im November ist in London eine Gruppe von 18 – ausnahmslos HIV-positiven – Strichjungen zwischen 15 und 19 Jahren aufgedeckt worden, die sich auf ein gemeinsames Ziel eingeschworen hatten: möglichst viele Freier mit in den Tod zu nehmen. In Edinburgh hatte die 21-jährige Prostituierte Nora Jung vor Weihnachten ihr Foto in allen Zeitungen veröffentlichen lassen. Nicht so sehr, um ihre ehemaligen Kunden, sondern deren Ehefrauen und zukünftige Kinder vor der Ansteckung zu bewahren. Auch sie hatte das Geschäft im Wissen um ihre Infektion aus Rache weiter ausgeführt.
Der Journalist Peter Rogge schließlich hatte schon Ende 1985 in New York ein Interview mit der Sprecherin einer Gruppe von HIV-Positiven über deren Strategie der Lust geführt. Unter dem Pseudonym Maria Plague (Maria Pest) gab die Frau an, sie und ihre Freunde hätten sich in die höchsten Kreise der Gesellschaft hineingevögelt – mit dem Ziel, die wachsende Diskriminierung von Aids-Kranken zu unterbinden. Motto: Je mehr Menschen infiziert sind, umso schwerer kann man sie in Internierungslager pferchen. Plague wörtlich: „Verstehen Sie, es kommt nicht darauf an, das Problem einzugrenzen, sondern es auszuweiten, das heißt, den Infizierten klarzumachen, dass sie trotz des erwarteten Todes einen realen Machtfaktor darstellen. Statt einer Politik des Mitleids eine aggressive Politik des Betroffen-Machens. Erpressen wir die Gesellschaft mit uns.
Noch reagiert die postmoderne Industriegesellschaft auf Aids völlig gegenteilig. Wo nichts zu heilen ist, wird die namentliche Erfassung der HIV-Positiven gefordert. In der benachbarten Republik sind bereits 66 Prozent der Bundesbürger dafür, und es wird den Kohl-Listen nicht schwerfallen, diesem Wunsch nach der Wahl beizukommen – Bayern stürmt allemal schon jetzt vorweg. In Rom hat im Jänner ein Movimento mit dem Namen „Guerra all’Aids“ für die rechte Behandlung von Aids-Kranken in der Quarantäne demonstriert. Bis zum Aids-Tattoo ist es nur mehr ein kleiner Schritt, und es fragt sich, welches Land ihn als erstes gehen wird. In Österreich herrscht um die Diskussion über die Zwangserfassung vorerst noch noble Zurückhaltung – sogar bei der FPÖ. Aber auch das wird sein Ende haben. Spätestens, wenn die Koalitionsregierung ihre Arbeit aufgenommen hat. Eine verschwindend kleine, aber umso wirkungsvollere Gruppe von Todesengeln macht den neuen Zwängern das Polemisieren leicht. So erzählte der französische Aids-Patient Michel Simonin der Presse von einem „Mann, von dem jeder in Paris inzwischen weiß, dass er Aids hat und der seitdem nach Berlin fährt, um sich Liebhaber aufzureißen, mit denen er ohne Kondom schlafen kann“. Eine Studie des Pariser Spitals La Pitié-Salpêtrière ergab, dass die Hälfte der Infizierten nicht beabsichtigt, ihre Sexualpartner durch ein Kondom zu schützen. Frankreich ist – mit 200.000 Fällen – das europäische Land mit den meisten HIV-Trägern.
Interviews von der Art, die der WIENER mit drei Aids-Infizierten führte, zeigen deutlich zwei Motive für die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der Umwelt: Wurschtigkeit und den Wunsch nach Rache. Tatsächlich ist dieser diffuse Wunsch, die Krankheit der Welt im Allgemeinen und den Sexualpartnern im Besonderen heimzuzahlen, wenigen HIV-Trägern fremd. Er rutscht nach übereinstimmenden Schilderungen von Aids-Kranken ins Bewusstsein, wenn der erste Schock abgeklungen ist und der Patient sich zwischen dem Wunsch nach Selbstzerstörung und dem nach Rache hin- und hergerissen fühlt. „Aber zwischen dem Gedanken und seiner Realisierung liegt natürlich ein Weg“, schränkt Dr. Reinhard Brandstätter von der Österreichischen Aids-Hilfe ein: „Es zeigt sich bei den Infizierten ein überraschend hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit und Selbstbeschränkung. Meistens jedenfalls. Gefährlicher, weil häufiger verbreitet, ist freilich das Phänomen der Gleichgültigkeit: Viele mit Aids Infizierte treffen keine Sicherheitsvorkehrungen, weil sie meinen, mit dem positiven Antikörpertest wäre ihr Todesurteil ohnehin schon unterschrieben.“
So übte die 28-jährige oberösterreichische Prostituierte Ingrid W. ihr Gewerbe weiter aus, obwohl sie einen positiven Befund erhalten hatte: Sie musste sich Geld für ihren Drogenkonsum beschaffen. Dennoch wurde sie im April 1986 von einem Linzer Gericht freigesprochen, weil das Aids-Gesetz damals noch nicht in Kraft war. Heute ist Ingrid W. clean und vom Strich weggekommen. Doch sie hat Nachfolgerinnen: In Westösterreich sind bereits 30 bis 40 Prozent der Fixer durchseucht. Geheimprostitution ist oft der einzige Weg, die nötige Kohle für den nächsten Schuss herbeizuschaffen.
Die Swinging Singles in der Wiener Innenstadt sind längst vorsichtiger geworden. Galten bisexuelle Männer früher als besonders reizvolle Beute, ruiniert heute schon das Gerücht, es einmal von Mann zu Mann probiert zu haben, jede Aufrißchance. Frauen, die einst mit bisexuellen Erfahrungen prahlten, stehen heute im Off. Manchem reicht schon der Ruf, ein erfülltes Sexualleben genossen zu haben, zur Isolation.
Die Furcht eilt der realen Verbreitung der Seuche freilich weit voraus. Nach wie vor sind in Österreich die sogenannten Risikogruppen hauptbetroffen: promiske Homosexuelle, Benutzer intravenös injizierter Drogen und Bluter, denen verseuchtes Plasma verabreicht wurde. Daneben, als jüngste Risikogruppe, Menschen, die in Schwarzafrika gelebt oder geliebt haben. Der – mit 90 Prozent weltweit höchste Durchseuchungsgrad – wurde in einem Fernfahrerpuff bei Nairobi festgestellt. Auch eine Frau, die nach eigenen Angaben regelmäßig zu den schwarzen Knaben nach Mombasa fuhr, gehört zu den Aids-positiven Österreichern.
Zwischen 1.500 und 3.000 getestete Österreicher sind seropositiv. Insgesamt rechnet man mit über 10.000 Virusträgern. Etwa 10 bis 20 Prozent der aktiven Homosexuellen sind Aids-Träger. Bei den Fixern liegt die Durchseuchung in Ostösterreich zwischen 7 und 12 Prozent. Dass die Rate in Westösterreich höher ist, mag daran liegen, dass es im Westen – entgegen einer Empfehlung des Gesundheitsministeriums – kaum möglich ist, frische Einwegspritzen zu kaufen, ohne dass der Apotheker gleich das Drogendezernat alarmiert.
Auch die Verwendung von Präservativen hat den ministeriellen Segen. Doch der ORF sträubt sich, die Empfehlung seinen Sehern und Hörern zuzumuten. Das Wort „Präservativ“ ist den Programmdirektoren – die beim Kantinenklatsch nicht übertrieben prüde wirken – zu gewagt.
In Großbritannien hat Frau Thatcher höchstselbst eine offene Sprache in der Aids-Aufklärung gefordert, nachdem eine verklauseulierte Kampagne gescheitert war. Offensichtlich müssen wir diesen Fehler erst selbst nachmachen, bevor wir daraus lernen. Nach ausgiebigen Tests empfiehlt die Aids-Hilfe das Gummiprodukt „Blausiegel ABC“ wegen seiner antibakteriellen Beschichtung. Auch Sperma-Killer, wie „Patentex-Oval“, haben eine begrenzt virentötende Wirkung. 25-mal wirksamer als die Nonoxynol-9 enthaltenden Patentex- und Delfinprodukte wäre ein bei uns nicht erhältlicher, französischer Spermienkiller, der den Wirkstoff Benzalkoniumchlorid enthält. Erste Erfolge der „Safer Sex“-Kampagne konnte Dr. Reinhard Brandstätter jedenfalls in der Wiener Homosexuellenszene feststellen. „In den Saunas wird heute mehr gewichst als gefickt. Und wenn, gibt es einen gewissen Gruppendruck, ein Kondom zu verwenden. Man nimmt eben lieber den Gummi, bevor man sich den missbilligenden Blicken von fünf, sechs Leuten aussetzt.“
Die gesellschaftliche Konsequenz ist eindeutig: Sicherer Sex ist der einzige Weg, die Ausbreitung von Aids zu stoppen, welcher die Infizierten nicht stigmatisiert. In der Österreichischen Aids-Hilfe versucht man, die Seropositiven bei regelmäßigen Gruppenabenden zu einem möglichst gesunden Lebenswandel zu animieren. Durch genug Schlaf, wenig Stress, Nikotin und Alkohol soll das Immunsystem entlastet und der mögliche Ausbruch der Krankheit hinausgezögert werden. Eine harmlose Grippe sollte bei Virusträgern sofort mit starken Medikamenten niedergekämpft werden. Auch andere Faktoren, die das Immunsystem auf Trab halten, wie eitrige Zahnwurzeln, müssen bei seropositiven Patienten sofort ausgeschaltet werden.
Die meisten Patienten, die sich dem Test unterzogen haben und dabei erfahren mussten, dass sie infiziert sind, waren im Nachhinein froh über ihre Entscheidung. Kaum einer, der den Test bereut. Viele, die ihre Situation bewältigt haben – nicht durch Resignation, sondern indem sie etwas Neues angefangen haben. So rührselig und kitschig es klingen mag: Einigen Patienten ist es gelungen, aus einem Todesurteil, auf dem nur mehr die letzte Unterschrift des Schicksals fehlt, noch einmal etwas zu machen und so ein neues Leben zu beginnen.
INTERVIEW: Marlies, 34, Verlagsangestellte aus München. Sie verschweigt ihren Liebhabern, dass sie Aids hat. Motiv: Verzweiflung aus Todesangst.
WIENER: Wann hast du erfahren, dass du seropositiv bist?
MARLIES: Vor knapp einem Jahr. Das war so, dass ich in einem Lokal einen Mann kennengelernt habe, der mir ganz gut gefallen hat. Ich habe ihn mit nach Hause genommen. Einige Tage später nochmal. Er hat mich infiziert.
WIENER: Warum bist du dir da so sicher?
MARLIES: Um es kurz zu machen: Ein anderer Mann aus diesem Beisel hat es mir gesagt. Ein paar Monate später hat er mir gesagt, dass ich mit einem Aids-Typen geschlafen habe. Ich habe den dann angerufen, aber er hat alles abgestritten.
WIENER: Hast du deshalb nur zweimal mit ihm geschlafen?
MARLIES: Nein, da lief schon lange nichts mehr. Ich habe das abgebrochen, weil er so eigenartig war in der ersten Nacht. Plötzlich wollte er nicht mehr. Er hat gesagt, es reicht ihm, wenn er bei mir schlafen darf. Das wollte ich aber nicht. Er hat mir ja wirklich sehr gut gefallen, und ich denke mir doch was dabei, wenn ich einen mitnehme. Also, wir haben dann doch miteinander geschlafen. Beim zweiten Mal war es ganz ähnlich. Er hat Vorträge gehalten, aber irgendwie ohne Sinn. Ich habe ihm gesagt: Du, bei mir zieht das nicht. Ich habe selber genug Probleme.
WIENER: Vielleicht wollte er nicht mit dir schlafen, weil er wusste, dass er Aids hat.
MARLIES: Ein Arschloch ist er, weil er’s nicht gesagt hat. Der Test war dann jedenfalls positiv. Aber seitdem ist alles durcheinander. Das hat schon beim Arzt angefangen, der mich zum Test geschickt hat. Der hat mich gefragt, ob ich mich denn im Geschäft angesteckt hätte – als ob ich eine Hure wäre.
WIENER: Beschreib einmal, wie geht’s dir seitdem?
MARLIES: Ich bin eigentlich nur mehr fertig. Ich glaube, kein Mensch kann sich vorstellen, wie das ist mit Aids. Jeden Tag liest man was drüber. Einmal sterben nur zwei von zehn Infizierten, dann sieben von zehn. Also, ich glaube, wir sterben alle. Aber am meisten Angst habe ich, dass es rauskommt. Dass man es hinter meinem Rücken herumerzählt. Oder dass man es mir ansieht. Wenn jeder weiß, dass ich Aids habe, dann ist es besser, ich bringe mich gleich um.
WIENER: Schläfst du noch mit Männern?
MARLIES: Ja. Ich meine, ich halte mich zurück. Und dann bleibe ich in meiner Wohnung und versuche, nicht an Aids zu denken. Und dann denke ich meist automatisch dran. Ich habe neulich im ORF den Club 2 gesehen, wegen der namentlichen Meldepflicht, und ob man alle tätowieren soll. Ich meine, wer hat mich denn gewarnt?
WIENER: Du sagst Männern, mit denen du schläfst, nichts von deiner Krankheit?
MARLIES: Ja, glaubst du, der schläft mit mir, wenn ich es ihm sage? Einmal habe ich einem Mann erzählt, dass ich positiv bin und dass ich es verstehe, wenn er nicht mit mir ins Bett gehen will, auch mit Präservativ. Weißt du, was der gemacht hat? Der hat seinen Aktenkoffer aufgemacht, hat sich einen Ordner genommen und mir den voll ins Gesicht geschlagen, mit dem Scheißpapierordner. Verstehst du? Damit er mich nicht mehr angreifen muss.
WIENER: Aber dir ist schon klar, dass du deine Partner ohne deren Wissen in Gefahr bringst?
MARLIES: Was kümmert mich, was mit den anderen passiert. Es ist ja auch nicht so, dass ich mit dem Mann schlafe, damit er Aids bekommt. Wenn’s geht, schau ich ja auch immer, dass er ein Präservativ verwendet. Du kannst ihm nur einfach nicht sagen, warum. Und dann wollen viele das Ding eben erst überziehen, wenn sie kommen.
WIENER: Aber warum machst du es dann? Warum sagst du dir nicht: Das ist das einzige, was ich jetzt nicht mehr machen darf: Ich darf keine Männer mehr nach Hause nehmen.
MARLIES: Ekelt’s dich? Warum gehst du denn am Abend fort? Um herumzureden, bis es dir aus den Poren kommt? Entschuldige schon. Weißt du überhaupt, was es heißt, mit niemandem mehr schlafen zu können, nicht wochenlang, sondern monatelang? Weil du jedem sagen musst, du, das geht nicht, bei mir ist was nicht in Ordnung? Keiner weiß das.
WIENER: In Wahrheit ist es aber andersrum: Wenn Virusträger mit noch nicht infizierten Menschen ins Bett gehen, ohne etwas davon zu sagen, haben die Scharfmacher ein leichtes Spiel. Tätowieren, Quarantäne oder nur die namentliche Meldepflicht – das gibt es dann alles auch bei uns.
MARLIES: Das kommt sowieso. Mir wird es dann aber weder etwas schaden noch was bringen. Die machen doch ohnehin, was sie wollen. Ich habe mir auch diese Broschüren besorgt, über „Safe Sex“ und so. Weißt du, was „Safe Sex“ ist? Nichts ist das. Und weißt du, was es heißt, wenn der einzige Mann, der anruft, dein Ex-Ehemann ist, der von nichts weiß, und dich fragt, ob du zum Geburtstag seiner Mutter kommen willst, weil die dich immer mochte?
WIENER: Hast du Rachegefühle gegenüber der Gesellschaft?
MARLIES: Ich habe bloß das Gefühl, dass bei mir alles vorbei ist. Ich versteh‘ die Zeitungen nicht mehr, das Fernsehen – was kümmert mich, was in Äthiopien ist oder wo? Aber dass ich mit Männern schlafe, ohne ihnen was zu sagen, das hat mit Rache nichts zu tun. Das ist, weil ich es nicht aushalte, einen Monat lang zu Hause zu sitzen oder im Büro, und immer denkst du an Aids. Ich habe alle Fotos von Freunden verbrannt, damit ich nicht an sie erinnert werde. Aber es kommt ein Punkt, da geht es nicht mehr. Da gehst du aus, und einer spricht dich an, und dann machst du es schlecht oder falsch, und er kommt sowieso nicht wieder.
Interview: Michael, 22, Friseur aus Hamburg. Er verschweigt seinen Liebhabern, dass er Aids hat. Motiv: Angst vor der Einsamkeit.
WIENER: Seit wann weißt du, dass du Aids hast?
MICHAEL: Ich habe mich vor vier Monaten leider von meinem Arzt zu einem Test überreden lassen. Der war positiv. Ich habe damals noch in einer festen Beziehung gelebt, aber – glücklicherweise – meinen Freund nicht angesteckt. Die Beziehung ging dann trotzdem auseinander, weil ich seine Überempfindlichkeit nicht mehr ausgehalten habe, Fragen, wie: Hast du dieses Handtuch benutzt, hast du auf dieser Bettdecke onaniert?
WIENER: Du hast zwar mit diesem Mann zusammengelebt, aber trotzdem häufig andere Geschlechtspartner gehabt?
MICHAEL: Oft. Wenn ich deprimiert war, bin ich in die Szene gegangen. Ganz gezielt: Man trifft sich, geht in die Klappe, bekommt seinen 5-Sekunden-Orgasmus und aus.
WIENER: Hat sich dein Sexualverhalten verändert, seit du weißt, dass du positiv bist? Verkehrst du noch in der Schwulenszene?
MICHAEL: Ich gehe auch weiterhin in die Sauna. Aber ich mache keinen Analverkehr mehr ohne Präservativ. Oralverkehr schon, aber ich glaube, da ist die Ansteckungsgefahr nicht so groß.
WIENER: Sagst du deinen Sexualpartnern, dass du Aids hast?
MICHAEL: Nein. Ich fürchte mich davor, dass der mich in der Szene verpfeift und kein Kontakt mehr mit anderen zustande kommt.
WIENER: Was denkst du dir in diesen Situationen eigentlich? Was läuft da bei dir ab?
MICHAEL: Na, da denkst du zunächst einmal nicht. Nur nachher habe ich immer ein ganz schlechtes Gewissen. Da wird mir dann ganz schlecht, weil ich mir denke, dass ich vielleicht einen infiziert haben könnte. Da gehe ich dann nach Hause und lenke mich ab.
WIENER: Dein schlechtes Gewissen ist aber nicht so stark, dass du deine Partner beim nächsten Mal warnen würdest?
MICHAEL: Nein, ich verdränge es völlig und gehe wieder los. Zur Zeit habe ich eine engere Beziehung mit einem Mann. Wir mögen uns einfach sehr gerne. Aber ich kann es ihm nicht sagen. Ich glaube, ich habe Angst, dass ich ihn dann verlieren würde. Also, ich habe bisher darauf geschaut, dass es nicht zum Analverkehr kommt. Oral habe ich aber nicht verhindern können.
WIENER: Glaubst du nicht, dass er Verständnis haben könnte, wenn er dich mag?
MICHAEL: Ich meine, dass mehr da sein muss, als sich nur zu mögen, wenn einer das Risiko in Kauf nimmt. Oder ich müsste sehr an mir arbeiten, um ohne Sexualität auszukommen. Aber diese Kraft habe ich im Moment einfach nicht.
WIENER: Was verstehst du – in deiner Situation – unter dem Begriff der „Verantwortlichkeit“?
MICHAEL: Das ist es ja gerade. Ich kann die Verantwortung einfach nicht tragen. Darum auch mein schlechtes Gewissen. Trotz aller guten Vorsätze passiert es doch wieder.
WIENER: Glaubst du, dass Schwule, die in die Szene gehen, einfach damit auch das Risiko eingehen, sich zu infizieren?
MICHAEL: Meiner Meinung nach tragen die Leute die Verantwortung, die wissen, dass sie HIV-positiv sind. Doch die Durchführung ist sehr schwierig. Wenn ich losgehe, in die Sauna, in ein Schwulenlokal – ja, dann habe ich ohnehin immer diese guten Vorsätze. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Du triffst einen Typen und bist in Minuten absolut geil. Danach ist dir dann zum Kotzen. Aber ich habe trotzdem Angst, dass sie mich erfassen und ich auf einer Liste stehe, wo jeder erfahren kann, dass ich positiv bin – der Chef oder sonst wer. Ich will selbst entscheiden, wer es wissen soll und wer nicht.
Interview: Gabi, 28, Prostituierte aus Wien. Sie nimmt auch Freier ohne Kondom an. Motiv: Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben.
WIENER: Du stehst in der Ausstellungsstraße in Wien am Strich, obwohl du einen positiven Aids-Test hast?
GABI: Ja. Nur, dass ich keine Hure bin. Ich gehe nur, wenn es nicht anders geht, wenn ich einfach dringend Geld brauche, halt. Außerdem nicht nur auf der Ausstellungsstraße – dort ist es jetzt ohnehin zu kalt. Ich war auch schon am Südbahnhof bei den Jugoslawen.
WIENER: Wie hast du dich mit dem Virus infiziert?
GABI: Mit der Nadel, wahrscheinlich. Ich habe zwar immer, wenn’s möglich war, eine frische Spritze genommen oder die Nadel wenigstens ausgekocht. Aber wenn du schon auf Entzug bist, denkst du nicht mehr an sowas. Der Test war dann eben positiv.
WIENER: Hast du dir überlegt, dass du deine Freier anstecken könntest, wenn du auf den Strich gehst?
GABI: Überlegt schon. Aber ich sage dir ehrlich: Es ist mir egal. Soll er sich doch anstecken. Er kann ja einen Gummi nehmen. Auf jedem Häusl gibt es einen Automaten, und mir ist es ohnehin lieber mit.
WIENER: Ich meine: Der Mann könnte seine Frau anstecken oder ein Aids-krankes Kind zeugen. Hast du keine Gewissensbisse?
GABI: Soll ich mich vielleicht um die Probleme der Herren auch noch kümmern? Wer kümmert sich denn um mich? Wer hat Gewissensbisse, wenn ich bei diesem Wetter (15. Jänner) kein Geld zum Heizen habe? Die Herren sicher nicht. Und wenn einer es ohne Gummi will – ablehnen tue ich nicht, wenn er zahlt. Ich brauche das Geld.
WIENER: Was sind das eigentlich so für Männer, deine Kunden?
GABI: Arbeiter, Ungarn, viele Fernfahrer, manchmal Messebesucher – die laufen ja nicht mit dem Ausweis auf der Brust rum. Ich meine: Wenn sie sich anstecken, haben sie eben Pech gehabt. Ich hab‘ auch Pech gehabt.
WIENER: Schläfst du auch mit anderen Männern?
GABI: Seit mein Freund im Gefängnis ist, nicht mehr. Und der hat’s ohnehin auch. Meine Bekannten wissen, dass ich Aids habe. Die lassen mich in Ruhe.
WIENER: Du weißt, dass das, was du machst, in Österreich strafbar ist. Hast du keine Angst davor, dass dich die Polizei erwischt?
GABI: Angst habe ich schon lange keine mehr. Ich darf halt nicht auffallen, wenn sie mich kassieren.
WIENER: Aids-Symptome hast du selbst noch keine?
GABI: Nein, mir geht’s gut. Ich meine, mir geht’s gar nicht gut, aber Aids habe ich noch nicht. Und wenn, wäre es mir auch egal.
WIENER: Du hast keine Angst vor der Krankheit? Vorm Sterben?
GABI: Na schon, irgendwie. Aber du kannst ja nichts dagegen tun. Wenn du Pech hast, bist du dran. Manchmal denke ich mir, es hat alles so kommen müssen. Ist vielleicht so eine Art Strafe.
WIENER: Strafe von wem?
GABI: Was weiß ich. Vergiss es.
WIENER: Überlegst du dir manchmal nicht, ob du dein Leben ändern und die nächsten paar Jahre anders leben sollst? Es sind ja vielleicht deine letzten.
GABI: Und was soll ich tun? Entzug. Und dann? Mich beim Billa vorstellen, ob sie nicht eine Aids-verseuchte Fixerin, die auf den Strich gegangen ist, für die Kasse brauchen? No Chance. Dazu habe ich nicht mehr die Power.
WIENER: Irgendwie tust du so, als würdest du schon im Krankenhaus liegen.
GABI: Ins Krankenhaus lege ich mich nicht. Wenn ich merken sollte, dass ich wirklich krank werde, will ich, dass es schnell geht. Dann checke ich mir ein paar Gramm vom besten Stoff und gebe mir die Überdosis. Und dazu lege ich die Doors auf: „This is the end, my friend.“