AKUT

Archiv 1995: Kamikaze-Sex

Jakob Stantejsky

Ist Liebe stärker als der Tod? Sie sind in Menschen verliebt, die das Aids-Virus haben. Und tun es trotzdem – ohne Angst und Gummi. Aus Fatalismus, Leidenschaft und Lust am Spiel mit dem Tod.

Gerhard Kummer über Grenzfälle der Zuneigung und Sex mit Zeitzünder. Fotos von Michael Kammeter.

Zwei Wochen kannten sie einander und waren das glücklichste Paar, das sie kannten. Die Wahrheit sagte sie ihm, kurz bevor sie zum ersten Mal miteinander ins Bett gehen wollten: „Ich bin HIV-positiv.“ Es traf ihn wie ein Hammer, aber er ging nicht zu Boden. Er lief auch nicht weg. Er fing einfach nur an nachzudenken. Und da er keinen Schlussstrich zog, kam er nur auf zwei Möglichkeiten: mit oder ohne Gummi. Er hat sich für die zweite entschieden, sagt Claudia, obwohl er das Risiko kannte. Vier Jahre ist das her, ihre positive HIV-Diagnose war damals gerade fünf Monate alt und das Resultat einer kurzen Heroin-Phase. Der erste Schock war bereits überwunden und die Zukunft in jeder Beziehung klar: Nie wieder einen Mann!

Was sich bald als gewaltiger Irrtum erwies, Claudias derzeitiger Freund ist der dritte Mann seit damals. Und jeder musste durch dieses Nadelöhr aus vier Buchstaben: Aids. Und jeder Mann reagierte anders. Einer überlegte lange. Zwei kurz. Einer gar nicht. Der wurde blass im Gesicht, stand auf und ging. Die anderen blieben. „Und beschlossen, dass sie mich spüren wollen!“ Frank, ein Grafiker, war der, der lange überlegt hat. Am härtesten kämpfte er mit der Frage, warum gerade sie dieses verfluchte Virus haben musste. Und was es bedeuten mochte, dass ausgerechnet er sie haben wollte. Eine Woche später war er überzeugt, dass Liebe stärker ist als jedes Virus. Dass es für ihn unumgänglich war, sie ganz zu spüren. Und dass er ohnehin ganz sicher war, sich nicht anzustecken. „Damit war der Ball bei mir“, sagt Claudia, die bis heute von der Krankheit verschont blieb. „Man muss sich das einmal vorstellen: Da will jemand mit dir ins Bett, den du liebst und möglicherweise töten wirst, wenn du ihn liebst. Und das ganze Drama eingebettet in das Gefühl totaler Verliebtheit.“

Gemeinsam entschieden sie sich für die Großoffensive. Ohne Hemmung. Ohne Gummi. Ohne Fallschirm.

Mehr ist über die erste Nacht nicht zu sagen, resümiert Claudia: „Nur dass eben hinterher klar war, dass wir das jetzt immer so machen würden. Solange die Beziehung eben hält.“ Und die hielt ein knappes Jahr. Sie trennten sich im Guten, nicht wegen Aids. Monate später fand sie seinen druckfrischen HIV-Test im Briefkasten und ein großes Herz daraufgemalt: Alles Liebe, nichts passiert.

Glück oder Statistik? Die jüngste zum Thema Sex und Aids behauptet: Ein Mann müsse schon 200 Mal mit einer infizierten Partnerin ins Bett, um das Virus garantiert zu übernehmen. Bei Frauen sei das Risiko zwei- bis dreimal so hoch. „Zahlen“, sagt Dennis Beck, geschäftsführender Obmann der Aids-Hilfe Wien, „die stimmen auf dem Papier, gehen aber völlig an der Realität vorbei.“ Denn es kann genauso gut auch schon beim ersten Mal passieren. Das beweisen genug Fälle todbringender One-night-Affären. Doch auch bei der Aids-Hilfe ist das Phänomen bekannt: Die Tatsache, dass Menschen im Hochgefühl der Liebe jeden Schritt über Vernunft, Logik und Statistik tun. Und sich für Sex unter Lebensgefahr entscheiden. Eine klassische Variante menschlicher Erotik. Das Romeo-und-Julia-Prinzip. Liebe auf dem Vulkan ergibt heißen Sex. Früher musste der Prinz sich dem Drachen stellen, heute dem Virus. Einem Mikro-Killer. Das ist wie russisches Roulette, nur schöner.

Auch Claudias zweiter Freund, ein Sportartikelverkäufer Anfang 30, setzte sein Leben ein. Das Kondom blieb im Talon. Die Sache bekam langsam System, sagt die Frau mit dem Virus: Er, butterweich vom langen Tête-à-tête, erfährt die Wahrheit und setzt das Leben hinters Komma. Eine Rechnung mit keiner Unbekannten. Nur mit der Hoffnung, dass sie trotzdem nicht aufgeht. Claudia blieb standhaft – zwei Wochen länger als beim Ex-Lover. Weil, wie sie sagt, körperliche Liebe allein schon Vertrauen und gute Feelings braucht. Ist Aids im Spiel, braucht’s noch viel mehr.

Dass Claudias einschlägige Erfahrungen langsam immer dasselbe Psychogramm ergaben, ahnte keiner ihrer Männer. Ihr Murren machte sie schwach in Claudias Augen. Und sie fragte sich schon damals, ob einer, der sein Leben so leichtfertig aufs Spiel setzt, nicht irgendein Problem haben musste. Zum Beispiel mit der Liebe selbst: „Es sind Menschen, die aus Liebe alles tun, aber nichts davon für sich selbst.“ Menschen, die überhaupt dazu neigen, übers Limit zu gehen. „In jedem Fall Grenzcharaktere!“ Dennoch schlief sie auch mit dem neuen Boy ohne Wenn, Aber und Konjunktiv. Denn was keiner wusste: Er war ein unehelicher Sohn der Justitia. Einer der auf Bewährung freikam, nachdem er die paar notwendigen Monate später absolvierte, ergab seinen Freispruch. Und Claudia begann, an der eigenen Infektion zu zweifeln. Aber auch ein neuer Test bestätigte: eindeutig HIV-positiv. Aber nach wie vor fern vom Ausbruch der Krankheit. Dass auch Claudias dritter Freund nach nunmehr eineinhalb Jahren noch immer vom Virus verschont blieb, macht die Beteiligten und selbst Mediziner stutzig: Kann Psycho-Power Viren hemmen? Ist Liebe wirklich stärker als der Tod?

Keine Frage für den neuen Lebensgefährten: „Leute, die verknallt sind, werden, das weiß man ja, selten bis gar nicht krank. Und eins war mir von vornherein klar: Die Nacht würde sowieso kommen, in der einmal kein Gummi im Haus sein wird, sondern nur sie, ich und das Virus. Es ist wie ein Filmbeginn, du kannst da nur hineingehen, wenn du dir sicher bist, du überstehst den Showdown am Schluss.“

Ein Crash dagegen war’s, genaugenommen ein Arbeitsunfall, der die Zeitbombe in der Beziehung zwischen Anneliese K. und Wolfgang P. überhaupt erst offenbarte: Sie, 37, Sekretärin in einer Wiener Handelsfirma. Er, 42, Mechaniker und ihr Mann fürs Leben seit 17 Monaten.

Jetzt nennt sie ihn den Mann fürs Sterben. Auch wenn die Ärzte im Wiener Wilhelminenspital im Frühjahr vor einem Jahr noch ganz anderer Meinung waren. Dorthin war Wolfgang nach seinem Unfall eingeliefert worden. Und dort brachte der routinemäßig durchgeführte Aids-Check ans Licht, dass er – immer brav die Hände weg von Drogen – offenbar im falschen Bett gelandet war. Vor Jahren. Fatal war vor allem auch die Resonanz des Spitalpersonals. Denn nicht so sehr die Diagnose schockte Wolfgangs Partnerin, als vielmehr die Tipps der Götter in Weiß. Die Ärzte hätten ihr geraten, erinnert sich Anneliese noch immer, als wäre es gestern, passiert, schleunigst die Finger von dem Mann zu lassen. Alles im Tuschelton, versteht sich. Der Hausarzt hatte auch keinen besseren Rat.

Anneliese hörte nicht auf sie und holte Wolfgang ins eigene Nest, nachdem sie bislang in verschiedenen Wohnungen gelebt hatten. Die erste Zeit verging mit Experimenten: Kaum eine Gummi-Variante war nicht im Schubverkehr. Bis kam, was beide ahnten: Eine dieser innigen Nächte, in denen der bereits montierte Viren-Stopper schon vor der Kür aus dem Bett flog. „Und plötzlich war da eine Nähe wie nicht oft zuvor, wenn überhaupt jemand sagt Anneliese. Angst machte Platz für Gefühle. Und die wuchsen sich in vier Wochen Dolce Vita an der Adria zum pursten Lebenshunger aus. Das Virus war schon damals kein Thema mehr im Haushalt, sicher auch, weil mittlerweile ihr vierter HIV-Test innerhalb eines knappen Jahres keinen Nachweis einer Übertragung erbrachte.

Was Anneliese für sich so interpretiert: „Ich habe körperlich schon einiges hinter mir, zahlreiche Operationen nach einem Unfall vor zehn Jahren. Mir ist klar, dass ich für mein Leben genug gelitten habe, für mich gibt’s keinen Grund mehr, Aids zu kriegen. Ganz tief drinnen bin ich mir da sicher.“ Wolfgang genauso. Von Natur aus selten down, kann er sich nicht vorstellen, der Geliebten den Tod zu bringen: „Entweder man verzichtet auf alle Zweifel oder auf den Partner.“ Aber: „Natürlich rate ich niemandem, es genauso zu tun. Es könnte fatal enden.“

„Keine Frage“, schlägt auch Aids-Hilfe Chef Dennis Beck in die gleiche Kerbe, „hochprozentige Vorsicht, manchmal kann es lange dauern, bis die Übertragung erfolgt. Auch wenn Aids – auch das ist eine Tatsache eine relativ schwer übertragbare Krankheit ist.“ Die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, ist abhängig von ein paar wesentlichen Faktoren: vor allem von der Sex-Technik und der Intensität, ob „safe“ oder hemmungslos. Weiters kann gute körperliche und psychische Konstitution die Infektions-Anfälligkeit mindern. Und schließlich gibt es unterschiedlich aggressive Viren, die sich von Opfer zu Opfer auch noch anders verhalten. Wenn die Beziehung dann auseinandergeht und der Partner doch angesteckt wurde, „warnt Fachmann Beck, „hat das einen unendlich bitteren Nachgeschmack.“ Und zwar bitterer, als die Liebe je süß sein kann, wenn sie hält.