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Archiv 2001 – Die neue Economy

Christian Jandrisits

Am 10. September war die Welt zum letzten Mal so, wie wir sie kannten. Seit dem 11. September gelten völlig andere Regeln. Fünf Thesen für das neue Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik.

Nach den Terroranschlägen ist nichts mehr, wie es war.“ Diesen Satz hat man in den vergangenen zwei Monaten so oft gehört, dass man ihn mittlerweile schon berührt. Er ist zum Standardsatz politischer Kommentatoren geworden, zum Allgemeinplatz, zur Floskel. Und doch zeichnet sich langsam ab, wie wenig Übertreibung darin steckt.

Als die Börsen einbrachen, die Luftfahrtindustrie zu kollabieren drohte und das Selbstverständnis des Westens wankte, wurden politische Entscheidungen getroffen, deren Tragweite den meisten erst allmählich bewusst wird. Am 10. September stand die Regierung von George W. Bush für ein Zurückdrängen des Staates auf allen Linien und ein grenzenloses Vertrauen in einen Weltmarkt, der alle Probleme von selbst lösen würde. Seit dem 11. September zieht dieselbe Regierung die Zügel an, pumpt Geld in die Wirtschaft und setzt die Finanzmärkte unter Druck, um die Geldquellen Bin Ladens zum Versiegen zu bringen. Auch die EU und Japan, beide ohnehin nie so marktgläubig wie Amerika, wechseln bereits den Kurs.

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen noch nie so schnell und umfassend geändert wie in den vergangenen Wochen. Für viele Unternehmen wird es eine Überlebensfrage sein, darauf zu reagieren. Der WIENER wagt fünf Thesen für das neue Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik.

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THESE 1: DER STAAT MELDET SICH ZURÜCK Bis 10. September: Zwanzig Jahre lang, seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan, galt: Der Staat hat sich aus der Wirtschaft herauszuhalten, der Markt wird alles regeln. Dieser Glaube, maßgeblich auf den Theorien des Ökonomen Milton Friedman basierend, wurde zum Dogma. Die eiserne Lady prägte dafür das Kürzel TINA: There Is No Alternative! George W. Bush war bis vor zwei Monaten der eifrigste Kreuzritter dieses Glaubensbekenntnisses, das allerdings schon längst nicht mehr exklusiv dem bürgerlichen Lager gehörte. Es war Mainstream, auch von Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder geglaubt und gepredigt.

Seit 11. September: Die zivile Luftfahrt droht zusammenzubrechen. US-Linien kündigten allein in der ersten Woche nach dem Terror 65.000 Mitarbeiter, Boeing weitere 30.000. Das SwissAir-Debakel ist Europas spektakulärste Pleite seit langem. Doch das trifft nicht irgendeinen Wirtschaftszweig, sondern eine Lebensader aller westlichen Staaten. ,,Hier ist eine starke und aktive Rolle der Regierung nötig“, sprach George W. Bush und stellte der US-Wirtschaft 75 Milliarden Dollar Steuergeld zur Verfügung. Kritiker, die immer noch an den Markt glauben wollen, werden von seinem Sprecher Ari Fleischer belehrt: ,,Der Präsident wird nicht an irgendeinem Dogma festhalten. Nicht in Zeiten wie diesen.“ Ein Bann ist gebrochen: Weltweit greifen Regierungen ein, um Fluglinien zu helfen. Die EU-Kommission hat nichts dagegen. Großbritannien geht noch weiter und reverstaatlicht gar das Schienennetz: Der private Betreiber hatte es so kostengünstig gewartet, dass es im Vorjahr zu einer ganzen Serie von Unfällen gekommen war.

Damit noch nicht genug: Budgetdefizite sind international plötzlich wieder akzeptabel. Bush bezeichnete ein Minus als „gerechtfertigt“. Sogar die BusinessWeek, kaum eine Sozi-Gazette, forderte Geld für Schlüsselindustrien und Sozialnetz. „All this means [ … ] budget deficits“ stand dunkelrot auf ihrer Titelseite.

Ausblick: Welche Branche auch immer als nächste ins Schleudern kommt, sie wird laut nach den Regierungen rufen – und die werden zuhören. Privatisierungen haben in den nächsten Jahren wohl kaum Top-Priorität. Und was die Sache mit dem Nulldefizit betrifft – ach, vergessen Sie’s …

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THESE 2: DIE FINANZMÄRKTE WERDEN ANGEKETTET Bis 10. September: Stichwort Steueroasen, Stichwort Bankgeheimnis. Egal ob Luxemburg oder Liechtenstein, Cayman Islands oder Kanalinseln: Die Liste der Länder, die Geld damit verdienen, dass sie kaum Fragen stellen, ist lang. Auch Österreich findet sich darauf. Bisher haben die großen Wirtschaftsmächte aufgrund des Dogmas ein Auge zugedrückt. So genannte Off-Shore-Finanzzentren galten als ein Übel, das man eben in Kauf nehmen muss, wenn man einen freien Markt haben will. Milliarden Dollar, Pfund, Mark und Yen, die an den jeweiligen Finanzministern vorbei in diese Steueroasen geschleust wurden, waren der Preis. Bezahlt wurde er mit einem kontinuierlichen Abbau der Sozialnetze.

Seit 11. September: Das von den Österreichern einst so geliebte anonyme Sparbuch hätte gerade ein Imageproblem. Geheime Konten, undurchsichtige Firmenkonstruktionen, lasche Gesetze – alles, was bisher die internationale Steuerhinterziehung begünstigte, ermöglicht auch eine Finanzierung des Terrors. Jetzt ist Schluss mit lustig. Die EU hat kürzlich das Bankgeheimnis radikal entschärft. Nun sind sogar Rechtsanwälte von ihrer Schweigepflicht entbunden, wenn es um Steuerhinterziehung geht. Sowohl von der Union als auch aus den USA hört man immer lauter die Forderung, den diskreten Finanzhäfen wenig diskret auf die Zehen zu steigen.

Ausblick: Anonymes Geld wird nicht mehr lange anonym bleiben. Wenn Sie Schwarzkonten besitzen, könnte es jetzt echt fies werden – dagegen ist die Euro-Umstellung nix.

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THESE 3: DIE ZOCKER WERDEN EINGEBREMST Bis 10. September: Die internationalen Finanzmärkte wurden in den vergangenen Jahren von nahezu allen Regeln und gesetzlichen Verpflichtungen befreit. Milliarden jagen jede Sekunde um den Globus, immer auf der Suche nach ein paar Promille Gewinn. Dafür wurden auch raffinierte Instrumente entwickelt. Leerverkäufe etwa ermöglichen es, satte Gewinne zu machen, wenn eine Aktie fällt. Das Prinzip ist simpel: Man leiht sich Aktien gegen eine Gebühr, verkauft sie und wartet. Fallen die Kurse, kauft man dieselbe Menge Aktien, gibt sie dem Verleiher zurück und freut sich über den Gewinn. Steigen die Kurse, hat man ein Problem. Bei Krisen wie in den vergangenen eineinhalb Jahren lassen sich aber schöne Geschäfte machen. Besonders perfide dabei: Gerade durch das massenhafte Verkaufen von Aktien geraten die Kurse unter Druck. Und das, obwohl der echte Besitzer sie behalten möchte …

Ähnliches gilt für Calls und Puts, mit denen man auf steigende oder fallende Kurse „wetten“ kann. Wer beide Möglichkeiten gleichzeitig spielt, verliert seinen Einsatz nur, wenn der Markt ruhig bleibt. Stabilität ist daher das Letzte, was sich die Glücksritter an den Weltbörsen wünschen. Die für solche Geschäfte zu entrichtenden Gebühren liegen im Promille-Bereich, mit ein paar Millionen kann man in luftigen Sphären spekulieren. Hedge-Fonds, die mit diesen und ähnlich riskanten Finanzwerkzeugen spekulieren, hatten unmittelbar vor dem Terroranschlag geschätzte 100.000 Milliarden Dollar (!) an Krediten offen. Wenn so ein Fond Pleite geht, reißt er die halbe Weltwirtschaft mit, alles schon da gewesen. Die Terroristen könnten damit einen weiteren Erfolg verbuchen.

Seit 11. September: Der Verdacht, Osama Bin Laden hätte seine Kriegskasse gefüllt, indem er auf fallende Aktienkurse bei Fluglinien und Versicherungsunternehmen setzte, stand schon wenige Stunden nach den Anschlägen im Raum. Klar, kein professioneller Spekulant hätte es anders gemacht – und zumeist haben sie es auch nicht anders gemacht. Während die Wall Street geschlossen blieb, hielt die Deutsche Börse in Frankfurt offen. Die meisten Papiere sind heutzutage ohnehin international handelbar, und das binnen Millisekunden. Die Kurse rasselten in den Keller und wenn der Verdacht stimmt, verdiente Bin Laden Unsummen. Seit 11. September ist dieses Transaktionsmodell eine Einladung an das organisierte Verbrechen.

Ausblick: Hochspekulative Finanzwerkzeuge sind Waffen und werden von Politikern endlich auch als solche betrachtet. Noch gibt es keine konkreten Pläne für ihre Eindämmung oder ein völliges Verbot, die Diskussion läuft aber auf Hochtouren. Es wird kein Verlust für die Weltwirtschaft sein – denn produktiv war das eingesetzte Kapital ohnehin nie.

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THESE 4: DIE GLOBALISIERUNG WIRD HUMANER Bis 10. September: Die G8, also die Staats- und Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, USA, Kanada und Russland, regieren die Welt. Sie kontrollieren de facto den UNO-Sicherheitsrat, die NATO, die Weltbank, den Internationalen Währungsfond IMF und die NAFTA. Ihre europäischen Mitglieder sind die vier stimmenstärksten Länder im EU-Ministerrat und verfügen dort über beinahe die Hälfte der Stimmen. Und seit wir Wladimir Putin so lieb haben, weil er perfekt Deutsch spricht und die Tschetschenen bombardiert, befinden wir uns zum ersten Mal in der Weltgeschichte an einem Punkt, wo alle mächtigen Nationen an einem Strang ziehen.

Die Länder auf der anderen Seite dieses Strangs sehen das naturgemäß mit Besorgnis. Bei der letzten Konferenz der Welthandelsorganisation WTO in Seattle verhinderten ihre Vertreter (auch unter dem Druck der massiven Demonstrationen von Globalisierungsgegnern) jeden Minimalkompromiss, der die WTO das Gesicht hätte wahren lassen. Die meisten armen Länder zappeln in der Zinsenfalle wie in einem Spinnennetz. Sie können sich nicht mehr daraus befreien und stehen in totaler Abhängigkeit von den Kreditgebern. Viele empfinden das als neue Form der Sklaverei. Der Islam verbietet Zinsgeschäfte generell – aus genau diesem Grund. Strenggläubige Muslime empfinden es daher als doppelt schlimm, wenn ihre Länder von korrupten Regimen überschuldet und die Zinsen dann aus der Bevölkerung gepresst werden – wie es zwischen Mauretanien und Indonesien praktisch überall passiert. Bricht ein solches Land unter der Schuldenlast zusammen, wird es ein Fall für den IMF. Im Rahmen von so genannten Strukturanpassungsprogrammen gewährt dieser Kredite, um Währung und Wirtschaft zu stabilisieren. Im Gegenzug müssen die betroffenen Staaten ihre Budgets straffen – ganz oben auf der Streichliste des IMF stehen immer Sozialausgaben. Als der Fond unmittelbar vor den Anschlägen in Argentinien »helfen“ wollte, demonstrierten in Buenos Aires mehr als 100.000 Arbeiter dagegen.

Seit 11. September: Für die Bush-Administration ist mehr eingestürzt als zwei Brotürme: ihr Weltbild. Was andere im Kindergarten lernen, haben Bush und Co. durch die Katastrophe erfahren: In einer Gruppe der Größte und Stärkste zu sein, ist praktisch, aber wer von den Vorteilen zu oft Gebrauch macht, macht sich unbeliebt. Das „Nachdenken über die Globalisierung“, das Politiker wie Schröder und Jospin nach den Protesten von Genua gefordert hatten, hat erst nach den Anschlägen wirklich begonnen – und treibt schon wieder seltsame Blüten in die Gegenrichtung. Die deutsche „WirtschaftsWoche“ und der britische „New Statesman“ riefen nach dem Terror auf ihren Titelseiten gleich das „Ende der Globalisierung“ aus.

Ausblick: Wer den Terror ausrotten will, muss die Armut bekämpfen. Das verstehen plötzlich sogar Republikaner. Die Chancen für eine Entschuldung der Dritten Welt standen noch nie so gut. Heimische Konzerne, die in der Dritten Welt investieren, tragen ab jetzt ein größeres Risiko: Der IMF wird im Falle einer Krise ihr Kapital nicht mehr so forsch verteidigen. Und jede Wette, dass der US-Präsident das Kyoto-Protokoll jetzt unterschreiben würde.

THESE 5: UNTERNEHMEN WERDEN HUMANER Bis 10. September: Kinderarbeit, Hungerlöhne, an Sklaverei erinnernde „Dienstverträge“. Die Liste der Vergehen, die sich internationale Konzerne in der Dritten Welt zu Schulden kommen lassen, ist lang und wohl dokumentiert (zuletzt im „Schwarzbuch Markenfirmen“ der österreichischen Autoren Klaus Werner und Hans Weiss).

Seit Jahren ist etwa bekannt, dass der Ölkonzern Shell in Nigeria ganze Landstriche verwüstet. Kaum an die westliche Öffentlichkeit drangen aber Informationen über den Widerstand des betroffenen Ogoni-Volkes. So gab es allein im Vorjahr 176 gewalttätige Übergriffe auf Mitarbeiter von Shell. Dass die lokalen Arbeitgeber oft noch schlimmer sind und die jeweiligen Regime den Status quo zu erhalten trachten, wird von den Betroffenen kaum als mildernder Umstand gewertet. Dazu gibt der reiche Westen, der all das im Überfluss konsumiert, was unter unwürdigen Umständen in der Dritten Welt produziert wird, ein zu klares Feindbild ab. „Sie sagen zu uns: Wir sehen hier niemanden von der Regierung, wir sehen euch!“, beschwerte sich Shell-Mitarbeiter Donald Boham gegenüber „Fortune“. Das Magazin befragte ihn zu Shells Hilfsprojekten in Nigeria. 408 davon waren im Jahr 2000 als fertig gestellt gemeldet worden. Bei einer Überprüfung funktionierte nicht einmal ein Drittel …

Seit 11. September: Es ist nicht gerade so, dass aus den Chefetagen der Weltkonzerne plötzlich Reuebekenntnisse und Mea-Culpa-Litaneien dringen. Aber die Verunsicherung ist groß. Als der WIENER ein Dutzend nationaler und internationaler Großkonzerne bat, zu dem Thema Stellung zu nehmen, winkten beinahe alle ab. „Wir wollen niemanden mit der Nase auf uns stoßen“, sagte einer der Manager. Einzig Starbucks-Chef Franz Holzschuh, der in den nächsten fünf Jahren 60 (!) Kaffee-Geschäfte in Österreich aufsperren will, wagte sich aus der Deckung. „Wir reden seit 1995 mit unseren Gegnern. Damals liefen in Amerika massive Kampagnen gegen Starbucks“, erinnert er sich. „In Seattle haben Demonstranten sieben oder acht Stores zertrümmert. Mittlerweile haben wir unseren ganzen Kaffee-Einkauf umstrukturiert, kaufen zu garantierten Fixpreisen bei Kleinbauern. Und damit sind wir auch aus der Schusslinie geraten.“ Vorbildwirkung könnte auch die McDonalds-Filiale in der Salzburger Getreidegasse haben, deren Gestaltung ins Straßenbild integriert wurde – dezentes, der lokalen Kultur angepasstes Auftreten hat weniger Sprengkraft …

Ausblick: Vermutlich wird vielerorts gerade eine neue Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt. Österreich kann sich in diesem Punkt aber entspannt zurücklehnen: Mozartkugeln und Lipizzaner werden schon niemanden zur Gewalt reizen. Obwohl … ◄