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Archiv 2002 – Stunde X

Christian Jandrisits

Vor 10 Jahren erfand der kanadische Autor Douglas Coupland die Generation X. Ein schönes Konstrukt, das aus Nichts eine Identität stiftete. Heute haben wir das Ruder übernommen und wissen noch immer nicht, wo es langgeht. Gut so.

Text Eberhard Lauth I Fotos: Peter M. Mayr

Nennen wir es nicht Problem, nennen wir es Zustand. Wir wurden zwischen 1965 und 1975 geboren, haben seither mehr als 20.000 Stunden ferngesehen, in unserem Hirn etwa 10.000 Videoclips gespeichert, könnten Kurt Cobain, Michael Jackson und Bill Clinton spontan auf einem Blatt Papier porträtieren (wenn wir es eben könnten), haben an der Börse Millionen verloren oder uns mit einem Bio-Laden selbstständig gemacht, legen in hippen Clubs Schallplatten auf oder verkaufen nach anständig erworbener Lehre Bücher – und haben etwas gemeinsam. Wir sind eine Generation. Nicht die Kriegsgeneration, denn die hat etwas mitmachen müssen. Nicht die Nachkriegsgeneration, denn die hat etwas aufgebaut. Und nicht die 68er-Generation, denn die hat dagegen revoltiert.

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Wir sind da schon komplizierter: Wir wollten spätestens mit 15 zum ersten Mal betrunken sein, sahen im Fernsehen den Fall der Berliner Mauer, haben trotz Kondom mehr als einmal beim One-Night-Stand an AIDS gedacht und trinken gerne im stimmigen Ambiente von Stahlrohr und Milchglas unseren Caffè Latte. Vor gut zehn Jahren waren wir noch anders, denn da waren wir plötzlich wer. Da sollte der Kunststudent Douglas Coupland für einen New Yorker Verlag eine Studie über die aktuelle Jugend schreiben, über ihre Bedürfnisse, Ängste, ihren Lifestyle. Aus der Studie wurde nicht viel außer einem Bestseller-Roman. „Generation X“ prangte da in großen Lettern auf dem Cover, „Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur“ im Untertitel. Das war was. Ein geflügeltes Wort, ein griffiges Label, eine Bewegung, die sich irgendwo zwischen MTV und halbherziger Konsumverweigerung, Politikverdrossenheit und „Stoppt den Walfang“, Nirvana und Love Parade manifestierte.

„Ihr seid furchtbar“, moserten wieder alle, die älter waren. „Ihr erlebt nichts, ihr glaubt, dass die Gesellschaft funktioniert, ohne dafür etwas tun zu müssen, ihr identifiziert euch nur mit Typen, die nicht ins Bett gehen können, ohne Stunden später am eigenen Erbrochenen zu ersticken.“ Dabei taten wir nur, was MTV und das Privatfernsehen uns gelehrt hatten: Mache alles aus dir. Lerne ein paar Akkorde auf der Gitarre wie Kurt Cobain. Kaufe dir ein Snowboard, lerne einen Salto und lukriere einen Werbevertrag mit einem Sonnenbrillenhersteller. Schneide noch besser dämliche Grimassen als Jim Carrey und werde Schauspieler. Stelle dir zwei Technics-Plattenspieler ins Zimmer und werde zum Helden des Nachtlebens. Kaufe dir eine Garage und werde Software-Milliardär. Und wenn selbst das nichts wird, gehe mit einer kruden E-Commerce-Idee an die Börse. Mache alles aus dir. Das haben wir getan, zehn Jahre lang, und wir haben gewonnen.

Generation X nennt uns zwar kaum mehr jemand, dafür aber „Generation Golf“ wie der deutsche Autor Florian Illies. Wir sind in allen Lagen weltgewandt und witzig, kokettieren unverblümt mit Luxus und Mode, auch wenn wir es uns gerade gar nicht leisten können. Wir lassen uns fast so gerne scheiden wie wir heiraten. Wir haben akzeptiert, dass wir mit unseren unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wohl nie den Wohlstand unserer Eltern lukrieren werden, aber es ist uns egal. Und wir wissen auch, dass wir für deren ökologische und ökonomische Sünden haften müssen, sind ihnen aber nicht einmal böse. Alles eitel Wonne also? Nicht ganz.

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Wie sollte es anders sein, passierte es vor einem Jahr am 11. September auf CNN, als die Weltgeschichte uns kalt erwischte. „Generation-X-Ironie und Zynismus sind wahrscheinlich für immer obsolet“, schrieb kurz danach schon das US-Satiremagazin „The Onion“ ausnahmsweise bitterernst. Im November 2001 setzte dann „Newsweek“ nach. All jenen, die durch die Gnade der späten Geburt von Vietnam, Martin Luther King, JFK und Kaltem Krieg nichts aktiv mitbekommen hatten und sich stattdessen in fettem Weltfrieden sonnten, lieferte die Attacke auf das New Yorker World Trade Center plötzlich live via TV das identitätsstiftende Moment ihres Lebens, stand dort geschrieben. Und wirklich: Ratlos starrten wir, die ehemalige Generation X und frisch gebackene „Generation 9-11″, auf die tagelang in Endlosschleife wiederholten Bilder von den rauchenden Trümmern. Holy Shit.

Douglas Coupland ließ uns damals nicht allein: Zehn Tage später lieferte er ein kleines Essay an eine US-Tageszeitung. Er beschrieb, wie er in Madison, Wisconsin, in den durch das Flugverbot verstummten Himmel starrte und daran dachte, vielleicht für immer dort bleiben zu müssen: „Es schien, als wäre von irgendwoher, von irgendwem plötzlich eine Art Gesundheit über uns gekommen. Es war wie ein Spiel, in dem ich – je nach Gesichtspunkt – Sieger oder Verlierer sein könnte, weil ich in Madison gestrandet bin. Die Natur hat ihren Willen vollstreckt und damit den offiziellen Beginn des 21. Jahrhunderts ausgerufen, eines Jahrhunderts, dessen erste Regel lautet: Die Musik kann auch aufhören zu spielen. Und offensichtlich will sie das auch.“ Die Kultur der Oberfläche ist tot. Es lebe die Kultur der ohnmächtigen Paranoia. Paranoia vor Anthrax-Sporen, Paranoia vor dem Klonen, Paranoia vor verdorbenem Supermarkt-Fleisch, vor amerikanischen Großstädten mit Wolkenkratzern im Zentrum, vor purzelnden Börsenkursen, vor unserer Zukunft. Früher hätten wir eine krachende Weltwirtschaft noch super gefunden. Heute können wir es nicht einmal genießen, wenn der Euro gleich viel wert ist wie der Dollar, weil niemand sich in ein Flugzeug nach New York traut, um beim Shopping den Kreditkartenrahmen auszuschöpfen.

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Ja, wir sind wohl in der Krise, müssen neue Überlebensstrategien finden, auch wenn das Leben es uns so schwer macht. Und ja, wir sind besser als unser Image. Auch unser Erfinder Douglas Coupland ist mittlerweile erfolgreich vierzig geworden, obwohl er noch immer gegen sein Image als Sprachrohr für von der Popkultur verpestete Twentysomethings ankämpfen muss. Gerade er hat die Weiterentwicklung der zynischen Generation X schon früher erkannt, auch wenn er sich heute noch immer in seinen Romanen an den Absurditäten der westlichen Konsumkultur ergötzt. Nur: Wo früher bei Coupland beißender Spott regierte, findet sich heute konkrete Kritik – wenn auch comicartig verzerrt. In seinem neuen Roman „Alle Familien sind verkorkst“ (Hoffmann & Campe) widmet er sich dem Nukleus unserer Gesellschaften, der Familie, und dekonstruiert diese anhand der haarsträubenden Zusammenkunft einer behinderten Kosmonautin und ihrer HIV-positiven Mutter, die sich bei ihrem Sohn Wade angesteckt hat. Das Treffen der Drummond genannten Familie gerät zum kriminellen Horrortrip durch Subkulturen, die selbst die Drummonds nachgerade hoffnungslos aussehen lassen. Und: Es gibt sie, die märchenhafte Rettung für alle Beteiligten zum Schluss. Ausnahmsweise wieder einmal eine gute Nachricht also. Hier die nächste: So wie wir schon vor Jahren unsere „McJobs“ (auch eine Wortschöpfung Couplands) überlebt haben, werden wir auch mit dem von ihm definierten „Mid-Twenties Breakdown“ fertig, den er als jene Unfähigkeit verstand, ohne feste Strukturen wie den Schoß der Familie oder die Universität zurechtzukommen. Derzeit erlebt dieser Umstand als „Quarterlife Crisis“ seine Renaissance, wurde vor einem halben Jahr in den USA mit einem Buch gleichen Titels in Bestsellerform gegossen und wird mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum rezipiert. Nur wundern sich hier die Beobachter eben nicht über 26-jährige Marketing-Manager, die an der Belanglosigkeit ihres Erfolgs verzweifeln, oder 24-jährige Grafiker, die nach einem Berufsjahr alle Zeitschriften nur noch hässlich finden, sondern über die niedrigen Ansprüche einer Generation. Über die berufliche Veränderung reden ist ihr wichtiger als sie auszuführen, heißt es dann entrüstet. Mit einem Kellnerjob in der angesagten Bar zufrieden sein, was soll das denn bitte?

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Nun, wir tun wie uns geheißen. Mache alles aus dir. Höchstmögliche Ansprüche verlangen eben ihre Opfer. Während die einen sich ihre Träume so schnell erfüllt haben, dass sie jetzt pleite sind, warten die anderen darauf, bis sie kommen. Das Wochenendmagazin der „Süddeutschen Zeitung“ bemitleidet uns Krisengebeutelte jedenfalls kürzlich aus der wohlwollenden Perspektive der Älteren: „Nun werden auch wir erleben, was passiert, wenn diese reizende Leere einer ganzen Generation auf eine wirtschaftliche Depression trifft“, hieß es dort. „Darauf nämlich waren die Armen erst recht nicht vorbereitet.“ Stimmt. Aber weil wir einmal die Generation X waren, werden wir weiter tun wie immer: Als ob wir darauf vorbereitet wären. Ebenso untätig, wie wir den Loser-Mythos durchgestanden haben, werden wir die Wirtschaftskrise wegstecken, weiter ins Kino gehen, weiter CDs brennen, weiterhin mit witzigen Sammelmails fremde Accounts verstopfen, weiter mit Google unseren Namen im Internet suchen. Ach, schon wieder nicht wichtiger geworden, denken wir dann, wenn nur vier relevante Ergebnisse ausgegeben werden – was ist im Fernsehen? Weltgeschichte live oder wieder nur „Friends“? Noch einen Caffè Latte, bitte. ◄