AKUT

Archiv 2002 – SEX OHNE SATTEL

Christian Jandrisits

Safer Sex war gestern, heute spielt man mit Hingabe russisches Roulette im Bett. Vor allem junge Leute verkehren miteinander so unerschrocken wie seit 20 Jahren nicht mehr. Als wäre AIDS bloß eine Erfindung der Gummi-Industrie gewesen.

Text Peter Hiess + Elmar Pasterk I Fotos Manfred Klimek I Model Bettina Haidbauer.Agentur Sperl I Slyling Christoph Nardeaux I Jeans + Shirt by Zara Dank on Studio Fischnaller

Die internationale Schwulengemeinde nennt den neuen Trend „barebacking“ (dt.: „ohne Sattel reiten“) – und meint damit gummilosen Geschlechtsverkehr als Programm. „Sex ohne Kondom gab es immer“, schreibt Rainer Schilling, Referent für Schwule und Stricher der Deutschen AIDS-Hilfe. „Neu ist, dass beim Barebacking der stillschweigende Safer-Sex-Konsens bewusst verlassen und als Tabubruch erlebt wird: Barebacking als Widerstand gegen die Norm, als Befreiung von der Kondomdiktatur, als Spiel mit dem Risiko einer HIV-Infektion.“

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Heteros haben zwar keinen so treffenden Namen für ihr gelockertes Sexualverhalten, spielen aber auch immer öfter russisches Roulette im Bett. Eine frische Umfrage in Deutschland ergab, dass fast ein Viertel aller 14- bis 25-jährigen Männer beim One-Night-Stand aufs Kondom verzichten würden. Auch die fünf vom WIENER befragten Kandidaten gaben einhellig an, schon ohne Gummi zugange gewesen zu sein – nicht nur in fixen Beziehungen, sondern auch bei kurzfristigen Abenteuern (siehe Kasten: „Jugend forscht“). Im Internet wird heftig über die Rückkehr zu ungeschützten Liebesspielen diskutiert. Die kondomlose Fraktion stellt hedonistisch fest, Sex ohne Gummi mache mehr Spaß und es sei einfach ein schöneres Gefühl, „in jemanden reinzuspritzen“. Auf Gay-Sites verbreitet sich die Ansicht, das Thema AIDS nerve „nach 20 Jahren Blockade“ und die Gefahr durch Infizierung sei dank der antiretroviralen Kombinationstherapie ohnehin geringer. „Vermutlich wird die Krankheit besser behandelbar“, entgegnet Dr. Robert Gallo, Mitentdecker des HIV-Virus, „heilbar wird sie nach dem jetzigen Wissensstand in naher Zukunft nicht.“

Das Problem ist nur, dass solche Argumente in Sachen Sexualität noch nie gezählt haben – wie das historische Sexualverhalten zu Zeiten, als Syphilis, Tripper etc. noch nicht heilbar waren, anschaulich beweist. Sex in fast allen Spielarten war stets mit dem Reiz des Verbotenen und des gesellschaftlichen Tabus verbunden; genau das macht ihn erst interessant. Dass diverse Moralhüter die AIDS-Epidemie dazu benutzten, ihre überkommenen Vorstellungen durchzusetzen („Der Virus ist Gottes Strafe für promiskuitive Sünder“), macht die Abkehr von als übertrieben empfundenen Vorsichtsmaßnahmen fast schon verständlich. Die Tatsache, dass etwa in Österreich 9,86 AIDS-Kranke auf 100.000 Einwohner kommen, während jeder Dritte in Europa irgendwann mit Krebs konfrontiert wird und jeder Fünfte daran stirbt, nimmt der Lustseuche viel von ihrem Schrecken. Dabei besteht in Sachen AIDS keineswegs Grund zur Sorglosigkeit.

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Aktuelle Zahlen des Hilfsprogramms der Vereinten Nationen gegen AIDS (UNAIDS) belegen, dass die Zahl der HIV-Infizierten im vergangenen Jahr weltweit von 36 auf 40 Millionen Menschen geklettert und die Epidemie auch in den reichen Industrieländern wieder auf dem Vormarsch ist.

First Love. Gefährdet sind besonders junge Männer – jeder vierte Infizierte ist männlich und unter 25. „Viele Menschen verhalten sich dem Thema AIDS gegenüber ignorant, da sie glauben, sowieso nicht gefährdet zu sein“, kommentiert Mag. Claudia Kuderna, Geschäftsführerin der AIDS-Hilfe Wien, die erschreckende Entwicklung. „Dabei gab es 402 bestätigte Neuinfektionen im Jahr 2001. Man kann also davon ausgehen, dass sich hierzulande ein bis zwei Menschen täglich mit dem HIV-Virus infizieren – und das sind immer häufiger Heterosexuelle, die keine Drogen injizieren.“ Nicht nur Männer, sondern auch junge Frauen sind gefährdet, wie Dr. Michaela Olechowski, Gynäkologin und Leiterin der „First Love“-Ambulanz in der Wiener Rudolfsstiftung, in ihrer seit 1992 existierenden Beratungsstelle beobachtet: „Etwa ein Drittel der Mädchen, die bereits sexuelle Erfahrungen hatten, gibt an, nicht immer ein Kondom zu verwenden; weitere 33 Prozent benützen es nie, weil ihnen die möglichen Folgen egal sind.“ In der „First Love“-Ambulanz wird die Verwendung eines Kondoms hingegen immer empfohlen. „Zum einen dient es natürlich zur Verhütung einer ungewollten Schwangerschaft, zum anderen als Schutz vor Infektion“, sagt Dr. Olechowski. „Es gibt ja auch viele andere sexuell übertragbare Krankheiten, vor denen man sich schützen sollte.“

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Die Statistik zeigt, dass sich hinter dieser Warnung nicht bloß heiße Luft verbirgt: Laut Gesundheitsbericht Wien 2001 kam es im Jahr 2000 in der österreichischen Hauptstadt zu einem deutlichen Anstieg bei den meldepflichtigen Geschlechtskrankheiten. Vor allem Lues (= Syphilis) – eine Krankheit, die hierzulande schon beinahe als ausgerottet galt, unter anderem jedoch durch Prostituierte aus dem ehemaligen Ostblock wieder eingeschleppt wurde – ist erneut stark im Kommen. Kehrt also im neuen Jahrtausend die „freie Sexualität“ der 68er-Generation zurück – aber diesmal ohne Rücksicht auf Verluste? „Diese angebliche sexuelle Freiheit hat es ja in Wirklichkeit nie gegeben; die existierte nur als ideologische Vorgabe und Medienkonstrukt, nicht aber in den Köpfen der Menschen“, meint der Wiener Psychotherapeut Peter Frank Herdina (siehe Interview: „Fußbad mit Socken“). „Trotzdem hat eine Umkehrung der Werte stattgefunden: Erst war Promiskuität tabu, dann gabs Sprüche wie ,Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment‘, die Druck in die andere Richtung erzeugten. An beides haben sich die Menschen nie gehalten. Die eigentliche Sexualität spielt sich nach wie vor im Intimbereich ab.“ Und zu dem haben Panikmacher aller Sparten keinen Zugang . . . ◄