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Kurt Molzers 90er-Jahre

Auch wir von der Journaille verdienten spitzenmäßig, hätten uns im Traum nicht ausmalen können, wie tief die Medienbranche einmal sinken würde. Wir sind heute so im Arsch wie Porsche vor 30 Jahren, mit dem Unterschied, dass wir uns nimmer derrappeln werden.

Text: Kurt Molzer

Die Neunzigerjahre, der Beginn, aufregend, verheißungsvoll, verrückt, die Kommunisten erledigt und Porsche vorm Zusperren. Aber eins nach dem andern: In Europa hatte die verlogene, heuchlerische und menschenverachtende Diktatur des Proletariats ausgedient, fortgespült waren diese politischen Verbrecher in den Abfluss der Geschichte, und ich, der Kurtl aus dem elften Hieb von Wien, durfte als Chefreporter der Bild-Zeitung in Ostdeutschland mithelfen, die letzten blutroten Apparatschiks aus ihren gemachten Nestern zu vertreiben. Nur zu gern erinnere ich mich an meinen größten Coup, Hans-Joachim Böhme, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Mitglied des Zentralkomitees der SED, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED, Abgeordneter der Volkskammer, Darmputzer von Erich Honecker, an höchster Stelle mitverantwortlich für die Folter politischer Häftlinge und den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze. Der Kommunist Böhme führte, wie alle Genossen der Nomenklatura, ein Leben im Überfluss, real existierender Sozialismus, so eine erbärmliche Saure-Gurken-Scheiße, interessierte den doch einen Dreck. Er wohnte in einer Villa in Halle, die ihm gar nicht gehörte, früher lebte darin ein in den Westen geflohenes Ärzte-Ehepaar, er hatte sich die Immobilie ganz einfach unter den Nagel gerissen. Nachdem die Mauer gefallen war, forderten die Besitzer ihre Villa zurück. Böhme war aber nicht rauszukriegen, also wandte sich das Ehepaar an die Bild-Zeitung. Ich berichtete in einer großen Story darüber. Als die Stadtverwaltung nicht reagierte, legte ich jede Woche nach, die Überschrift immer in Riesenlettern: SKANDAL! SKANDAL! SKANDAL! Endlich kam Bewegung in die Sache, und eines Tages wurden Böhme und seine Frau tatsächlich in eine 48-Quadratmeter-Wohnung im trostlosen Plattenbau-Moloch Halle-Neustadt umquartiert. Dort klingelte ich dann. Böhme öffnete im Trainingsanzug. Gerade einmal 23 Jahre alt, sagte ich zu einem der mächtigsten Männer der DDR: „Grüß Sie Gott, Herr Böhme, Molzer mein Name, Bild-Zeitung, wie geht’s Ihnen? Achtundvierzig Quadratmeter real existierender Sozialismus, ist das nicht herrlich?“ Er glotzte mich an, sagte ganz ruhig „Dreckschwein“ und machte langsam die Tür zu. Ich fühlte mich geadelt.

Das Porsche-Drama: Jahrelang hatte man eine falsche Modellpolitik betrieben, es gab den 911er, den 944er, den 928er und den 968er, aber für alle vier standen unterschiedliche Bauteile zur Verfügung, weshalb die Produktionskosten in die Höhe schossen. Gleichzeitig sank der Dollarkurs dramatisch und mit ihm die Rendite auf dem wichtigsten Absatzmarkt, den USA. By the way, der 911er, den sie uns von 1988 bis 1993 hinstellten (Modellreihe 964), war eine graue Maus sondergleichen. Man kann es sich heute fast nicht vorstellen, aber in Zuffenhausen drohten die Lichter auszugehen, dann hatten sie die rettende Idee mit dem „Hausfrauen-Porsche“ Boxster, ein Porsche zum halben Preis eines 911ers, der bewahrte sie schließlich vor dem Untergang. Bis zum Verkaufsstart vergingen allerdings quälende Jahre, erst 1996 war es soweit. Vorstandschef Wendelin Wiedeking konnte im Jänner 2007 auf der Hauptversammlung triumphieren: „Wer im September 1992, also zu meinem Amtsantritt, umgerechnet 10.000 Euro in Porsche investierte, hat heute mehr als eine halbe Million Euro verdient.“

Auch wir von der Journaille verdienten spitzenmäßig, hätten uns im Traum nicht ausmalen können, wie tief die Medienbranche einmal sinken würde. Wir sind heute so im Arsch wie Porsche vor 30 Jahren, mit dem Unterschied, dass wir uns nimmer derrappeln werden. In Deutschland zahlten die Verlage in den Neunzigerjahren aufgrund weit höherer Auflagen das Doppelte, deshalb wanderte ich ja aus. Später, bei der Bunten, ließ man es so richtig krachen, meine Kollegen und ich trugen die minimalistisch-avantgardistischen Anzüge von Helmut Lang, und wir schnupften das beste Kokain Münchens. Unser Dealer bezog den Stoff aus Venezuela, er war ein unkomplizierter Bursche, brachte uns das in kleinen Briefchen abgefüllte Marschierpulver direkt in die Redaktion, Arabellastraße 23, und eines Tages überraschte er uns mit einer wirklich tollen Sache, die uns viel Freude bereitete, kleinen, medizinisch wirkenden Fläschchen aus braunem Glas, undurchsichtig und geformt wie Nasenspray, frisch importiert aus Caracas, damit konnten wir uns das Koks in aller Öffentlichkeit in die Birne ballern. Noch lustiger war es freilich während der Konferenz. Als der Chefredakteur Franz Josef Wagner – er kassierte 100 000 Mark im Monat, also umgerechnet 50 000 Euro, und er hatte einen BMW 7er als Dienstwagen samt Chauffeur, den Herrn Franz – wieder einmal das Wort an mich richtete – „Molzer, deine Themenvorschläge bitte“ –, griff ich in mein sündteures Helmut Lang-Sakko und holte das Koks-Flascherl hervor. „Moment, Franz Josef“, sagte ich, „ich hab so einen argen Schnupfen, ich krieg ja schon gar keine Luft mehr.“ Ich saß ihm direkt gegenüber, sah ihm in die Augen und zog mir ungefähr ein halbes Gramm auf einmal hinein. „Aaah“, machte ich, „jetzt geht’s.“ Der Wagner hatte dann einen Blick drauf wie die Kuh, wenn’s donnert, und nie irgendwas gecheckt. Nach beendeter Konferenz schloss ich mich mit meinen zugekoksten Kollegen in meinem Zimmer ein, machte den Fernseher an, MTV oder VIVA, und wir sahen und hörten Nirvana, Pearl Jam, R.E.M., UB40, Aerosmith, Jon Bon Jovi, Scooter, Dr. Alban, Haddaway, Bryan Adams, Bruce Springsteen, Snap!, Meat Loaf, Roxette, AC/DC oder die Scorpions. Manchmal zogen wir uns neben dem Koks eine Folge von „Baywatch“ rein, das gab angeregte Diskussionen: Finden wir die Silikon-Titten von Pamela Anderson geil oder nicht geil? Damals fing es ja so langsam an mit den Schönheits-OPs (Wie sagte die Anderson viele Jahre später in einem Interview: „Ich verdanke meinen gesamten Erfolg meinen Brüsten, ich bin ihnen eigentlich immer nur hinterhergetrottet.“) Dies alles, während zwei Stockwerke über uns, siebte Etage, der ehrenwerte und milliardenschwere Dr. Hubert Burda vielleicht gerade eine Besprechung mit dem bayrischen Ministerpräsidenten hatte. Man hat sich am Arbeitsplatz einfach nicht so angeschissen wie heute.

Es war die Zeit der Supermodels, vor allem der Big Six: Naomi Campbell, Linda Evangelista, Christy Turlington, Kate Moss, Cindy Crawford, Claudia Schiffer. Wir von der Bunten flogen in alle Welt – Paris, London, New York, Los Angeles – um sie zu den wichtigen Dingen des Lebens zu befragen, ob sie ihren Kaffee herkömmlich oder nach der neuesten Mode, mit aufgeschäumter Milch nämlich, zu trinken pflegen, ob sie sich vorstellen könnten, ebenfalls neueste Mode, sich ein Arschgeweih tätowieren zu lassen, ob sie für ihre schönen Gesichter Creme-, Gel-, Schaum-, oder Peelingmasken bevorzugen, solche Sachen halt. Ein Kollege interviewte einmal die Campbell, nach seiner Rückkehr erzählte er Folgendes: „Naomi saß mir in einem kurzen Kleid gegenüber, ihre kaffeebraunen Schenkel fast zur Gänze entblößt. Sie hatte Pupillen wie eine Eule. Ich merkte gleich, dass sie drauf war wie wir. Sie musste sich kurz zuvor eine Line gezogen haben. Ich bekam einen Harten und hätte sie am liebsten gefragt, ob wir vor dem Interview eine Nummer schieben können.“ In der jüngst gezeigten Doku-Serie „The Supermodels“ sprach Naomi Campbell ganz offen über ihre Drogensucht. Kate Moss war auch eine von uns, fünf Lines in 40 Minuten, kein Problem, so steht es in ihrer Biografie.

Wenn ich zu Besuch in der Wiener Heimat war, freute ich mich ganz besonders auf meine Huren am Gürtel. In ihren glänzenden Overknee-Stiefel standen sie in den Neunzigerjahren ab 21 Uhr noch aufgefädelt von der Ecke Mariahilfer Straße bis hinunter zur Lazarettgasse.

Auf Höhe der Josefstädter Straße hatte ich immer schon so einen argen Steifen, dass es kaum mehr auszuhalten war. Die meisten von ihnen kannte ich mit Namen, viele Österreicherinnen noch darunter – „Servas, Kurti, du geile Sau!“, begrüßten sie mich –, sie schätzten meine durchaus romantische Ader und meine Großzügigkeit, nicht selten trieben wir es in aller vertraulichen Versautheit zu dritt oder zu viert, ein oder zwei Mal, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, auch zu fünft, wobei mir das fast schon zu viel war, da ich überhaupt nicht mehr wusste, welche Duttln zu welcher Frau gehörten. Anschließend ging ich wieder an die frische Luft und zündete mir genüsslich einen Zigarillo an. Oft hörte ich eine Kawa oder ein anderes potentes Bike mit der voll ausgedrehten Dritten über den Asphalt glühen. Über das postkoitale Glücksgefühl legte sich dann eine wohlige Gänsehaut. Sie drehten ihre Motorräder ja schon tagsüber auf der Ringstraße voll auf. Ich sprang immer auf die Fahrbahn und feuerte die Jungs an und sie nahmen eine Hand vom Lenker und reckten den Daumen in die Höhe, war das schön! Aus und vorbei, ungefähr seit der Jahrtausendwende dürfen meine geliebten Huren nicht mehr draußen stehen, und keiner dreht seit damals mehr seine Kawa auf, wie wenn es da einen Zusammenhang geben würde.

Den Urlaub verbrachte ich gern in Thailand, nein Freunde, nicht Phuket und Pattaya, ich brauchte auch mal meine Ruhe, Koh Samui also, die Insel war damals noch einigermaßen verschlafen, ich wohnte jedes Mal in einem Bungalow direkt am Meer, um acht Uhr schwamm ich weit hinaus wie Hemingway, um neun brachte mir der Standverkäufer mein Frühstück, Singha Bier und zwei Frühlingsrollen, und dann konnte der Tag kommen. Koh Samui ist heute ein mit Hotelanlagen verbauter Alptraum. Für mich hat sich vieles in einen Albtraum verwandelt. Wenn ich allein an den Frankfurter Flughafen denke, von wo aus ich meist nach Thailand startete, viel los war dort schon in den Neunzigern, aber heutzutage! Die Masse überflutet dich, mit vor Panik verzerrten Gesichtern oder fluchend hetzen sie kreuz und quer durch die Gates, sie rennen alles und jeden nieder, Hauptsache sie kriegen ihre verschissenen Anschlussflüge. Scheiß auf ein niedergetrampeltes Kind, nur der Anschlussflug zählt! Reisende sind zu einer Gefahr geworden, in Schwechat sah man sich veranlasst, Schilder zum Schutz des Bodenpersonals anzubringen: „Bitte behandeln Sie unser Personal mit Respekt. Angriffe jeder Art werden nicht toleriert. Flughafenpersonal verbal oder physisch anzugreifen, ist eine Straftat.“ Weit haben wir es gebracht. Die Neunziger waren das letzte Jahrzehnt, in dem man entspannt reisen konnte. Das letzte Jahrzehnt, in dem der Egoismus zwar natürlich schon da war, aber nicht solche Exzesse feierte. Das letzte Jahrzehnt, in dem man auf einem Christkindlmarkt seinen Punsch trinken konnte, ohne von Advent-Touristen zerquetscht zu werden. Das letzte Jahrzehnt, in dem man nicht zu jeder Stunde erreichbar sein musste. Das letzte Jahrzehnt, in dem ein Spielfilm-Dialog länger als 15 Sekunden dauern durfte. Das letzte Jahrzehnt, in dem Mann und Frau im echten Leben zueinander fanden anstatt über Dating-Apps. Das letzte Jahrzehnt, in dem Kinder und Jugendliche für die Alten in der Straßenbahn aufgestanden sind. Das letzte Jahrzehnt, in dem Lehrer sich von ihren Schülern nicht sagen lassen mussten: „Ich fick deine Mutter.“ Die Neunzigerjahre waren ein einziger großer Abschied, es können einem die Tränen kommen.