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Götz Schrage: Wir Wunderkinder in Zeiten der Schneeschaufler

Götz Schrage erzählt aus seiner Kindheit. Einer Zeit, in der es den Menschen besser zu gehen schien. Aber ganz so einfach war es hinter den Kulissen doch wieder nicht.

Text und Foto: Götz Schrage

Wie ich ein Kind war, war für uns Kinder jeder neue Tag einfach ein neuer Tag. Für die Erwachsenen war jeder neue Tag ein neuer Tag nach dem Krieg. Deswegen waren die Erwachsenen auch irgendwie Kinder und neugierig auf all die neuen Dinge. Man wusste nicht genau, was passieren würde, aber man wusste, es würde etwas Großartiges sein. Mal wurde das bügelfreie Hemd erfunden, mal die halterlosen Strümpfe, mal neue moderne Toupetfrisuren für die Frauen. Alle Menschen wachten in der Früh auf und wussten, irgendetwas wird heute besser sein.

Und niemand starb. Während meiner ganzen Kindheit ist quasi niemand gestorben. Nicht dass ich davon wüsste zumindest. Ich meine, das Fernsehen wurde gerade erfunden und keiner hatte einen Fernseher, aber jeder hatte einen Nachbarn, oder einen Nachbarn von einem Nachbarn, der einen Fernseher hatte und man saß atemlos auf fremden Sofas und benahm sich gut, damit man wieder kommen durfte. Und die alten Menschen starben auch nicht, weil nächste Woche war immer ein nächster Teil von irgendetwas. Zum Beispiel am Ende einer Folge „Lieber Onkel Bill“, sah man eine adrett frisierte Fernsehansagerin und der musste man versprechen, dass man nächste Woche wieder zuschauen würde. Die jungen Frauen versuchten dann die Frisuren der Fernsehansagerinnen zu kopieren. Jedenfalls, die Woche drauf saß man wieder auf dem Sofa und war aufgeregt und dankbar, dass man wiederkommen durfte und die alten Leute lebten noch, weil sie es ja der Fernsehsprecherin versprochen hatten.

Dann ist der Jochen Rindt gestorben. Ich war so zirka neun Jahre alt und alle waren traurig und so schockiert. Der Jochen Rindt hatte so eine tolle Frau mit tollen Haaren und einem Cowboyhut und sie war so hübsch, fast so hübsch wie Hildegard Knef und eventuell in der Nähe von meiner Mutter. Von der Hübschheit meine ich. Und die Frau vom Jochen Rindt saß an den Rennstrecken mit der Stoppuhr bis der Jochen Rindt tot war. Dann nicht mehr. Ein paar Jahre später ist der Elvis Presley gestorben, vielleicht weil er auch so traurig war wegen dem Jochen Rindt, aber ich habe dazu keine gesicherten Informationen, es ist mehr so ein Verdacht.

Aber nicht alle Menschen hatten tolle Haare, oder extraleise Schuhe mit Kreppsohlen und waren jeden Tag ein wenig glücklicher. Es gab auch die traurigen und kaputten, die gar nichts hatten, außer die Erinnerungen an den Krieg, oder die Erinnerung an Flucht und Migration. Man konnte sich gar nicht entscheiden, wer trauriger war von den beiden. Ich hatte einen Freund mit Namen Billy, da war der Vater zurückgekehrt aus England, viele seiner Verwandten waren im KZ umgebracht worden und außerdem hatten die Nazis das ganze Geld und das Haus der Familie gestohlen. Der Vater vom Billy war immer irgendwie traurig und irgendwie lustig. Er arbeitete beim Film. Nichts wo man viel Geld verdienen konnte und so wohnte mein Freund Billy mit seinen Eltern auf Zimmer, Küche, Kabinett mit Klo am Gang.

Die Mutter war Bijouterie-Verkäuferin und hatte immer die besten Spangen, Ketten und Kämme in den Haaren stecken und der Vater arbeitete und arbeitete, und wenn sie genug Geld hatten, musste Billy alleine daheimbleiben und die Eltern gingen in die Innere Stadt und gaben alles Geld auf einmal aus. Einmal mehr als Zweitausend Schilling in der Eden-Bar für Champagner und Getränke, und sie haben die ganze Nacht getanzt. Billy war ganz stolz auf seine Eltern und der Vater war stolz auf die Rechnung und hat sie aufgehängt neben den Ansichtskarten in der Küche.

Billy und ich haben oft Fußball gespielt, bei uns im Hof. Am Parkplatz standen nur vier Autos, weil mehr Autos hatten die sechzig Familien von den drei Stiegen nicht. Solange es die Hausmeisterin nicht merkte, die meinen Freund stets „Juden-Bankert“ nannte, schlugen wir lange Pässe und übten Ball stoppen. Im Winter spielten wird oft bis am Abend, weil es war genug Licht von den Lampen und wir kamen uns großartig vor, wie der Atem dampfte und sich die Autos mit Eis beschlugen. Auf der linken Seite des Hofes war die Rekrutierungsstelle für die Schneeschaufler. Es gab neun Schilling pro Stunde bis 22.00 Uhr und danach galt der Nachttarif mit 50% Zuschlag. Die Winter waren kalt in den frühen 70ern und es gab genug Schnee zu schaufeln. Mein Freund ist dann manchmal zu den Männern gegangen: „Onkel schenkst du mir bitte eine Zigarette?“, und wir haben dann heimlich bei der Klopfstange die Zigarette geraucht.

Einmal war ich alleine im Hof kurz vor Weihnachten und da sah ich den Vater vom Billy in der Schlange stehen. Ich bin ins kalte Gebüsch gekrochen und näher geschlichen, weil ich das nicht glauben konnte. Immerhin war er doch beim Film und der Mann einer Bijouterie-Verkäuferin. Doch er war es ganz sicher. Wahrscheinlich waren sie am Abend davor wieder tanzen und ich habe dann den Billy am nächsten Tag besucht, in seiner Wohnung, und gefragt, ob sie tanzen waren und ob da wieder eine neue Rechnung hängen würde neben den Ansichtskarten. Aber der Billy hat gesagt, das würde nicht stimmen, weil sein Vater sei kein Schneeschaufler. Und ich habe gesagt, dass es sicher stimmen würde, weil ich mich ganz nah angeschlichen hätte. Und der Billy hat wieder gesagt, dass das nicht stimmen würde und ich habe wieder gesagt, dass es sicher stimmen würde und dann hat der Billy mich ins Gesicht geschlagen. So fest er konnte und ich bin weggelaufen und habe nie wieder mit ihm gesprochen. Bis zum heutigen Tag nicht.