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Nunu Kaller: Ich kenn mich nicht mehr aus …

Autorin und Aktivistin Nunu Kaller über Unvereinbarkeiten im öffentlichen Diskurs im allgemeinen und die fatale Wahrheit des Sprechortes im speziellen.

Ich versteh die Jungen nicht mehr. Studentische Fans des als rechtsextrem geltenden Publizisten Kubitschek protestieren „für Meinungsfreiheit“. Dass Rechtsextreme im Fall der Fälle für echte Meinungsfreiheit sind, ist in etwa so wahrscheinlich wie ein Friedensnobelpreis für Benjamin Netanyahu.

Auf einer großen Pro-Gaza-Demo laufen die „Queers for Palestine“ mit ihren regenbogenbunten Fahnen mit. Ich sehe sie und kann nur an das sehr böse und zynische Meme von letztens denken: „Die Hamas verkündete, dass sie keine Homosexuellen mehr von hohen Gebäuden mehr werfen will. Sie haben keine hohen Gebäude mehr.“ Das, was die Hamas nicht nur in Gaza, sondern auch auf israelischem Boden schaffen will, ist ein Land, in dem gerade die Queers nicht in Freiheit leben könnten.

Jugendliche kleben sich auf die Straßen, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. So sehr ich diese Emotion, diesen Wunsch danach, dass endlich radikale Maßnahmen im Klimaschutz gesetzt werden, verstehen kann, für so falsch halte ich die Klebeaktionen. Sie lösen in vielen, vielen Menschen, die man noch für einen Kampf gegen den Klimawandel gewinnen könnte, Abwehrreaktionen aus. Die Klimakleber helfen in diesem Kampf nicht.

Die junge Studentin, die verdächtig stark ihr eigenes Opferdasein betont, auf der Suche nach ihrer Identität von Frau zu Nonbinary neue Selbstbezeichnungen sucht, und online bezeichnet sie in einem hübschen Shareable auf Insta den Angriff der Hamas als Befreiungsschlag: Da ist mein Ofen schneller aus als andere Ofen sagen können.

Online tummeln sich junge Menschen, die alle paar Minuten andere frei erfundene Pronomen für sich beanspruchen, und denen es unglaublich wichtig ist, auf ihr benachteiligtes Opferdasein anzusprechen. So sehr ich den Wunsch nach Individualität verstehe: Die junge Studentin, die verdächtig stark ihr eigenes Opferdasein betont, auf der Suche nach ihrer Identität von Frau zu Nonbinary neue Selbstbezeichnungen sucht, und online bezeichnet sie in einem hübschen Shareable auf Insta den Angriff der Hamas als Befreiungsschlag: Da ist mein Ofen schneller aus als andere Ofen sagen können.

All das sind Situationen, die in mir Kopfschütteln auslösen. Bei denen ich die Gedankengänge und Motivationen der Menschen dahinter einfach nicht mehr verstehe. Und gleichzeitig denke ich: Es ist nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht der uns nachfolgenden Generationen, radikal zu sein. Radikal denken, handeln und radikale Dinge fordern. Nie wollt ich die Erwachsene sein, die Jugendliche belehrt, die von der „Jugend von heute“ spricht und sich über die depperten Aktionen junger Leute aufregt. So wie meine Eltern es getan haben. Aber: Wann ist das passiert, dass ich solche Aktionen, solche neuen Perspektiven nicht als radikal oder „Provokation halt“ empfinde, sondern einfach nur als … dumm?

Diese immer weiter abnehmenden Aufmerksamkeitsspannen, die Überinformiertheit durch das Internet, gleichzeitig die Über“informiertheit“ durch Unmengen an Falschnachrichten, die immer weniger werdende Unterscheidung zwischen unabhängigen Nachrichten und Propaganda, und zu allem Überfluss auch noch eine KI, die dafür sorgt, dass man bald nicht mal mehr Bildern oder Videoaufnahmen glauben kann – wissen wir eigentlich, welch dramatischen Einfluss das hat?

Wann ist das passiert, dass ich solche Aktionen, solche neuen Perspektiven nicht als radikal oder „Provokation halt“ empfinde, sondern einfach nur als … dumm?

Alles Dinge, die mich gewaltig verunsichern, welchen Quellen ich noch vertrauen darf. Vor allem verunsichert mich, nicht zu wissen, aus welchen dank Social Media nun schier unendlichen Quellen sich Jugendliche beeinflussen lassen. Und: Ich verstehe sie einfach nicht mehr. Nicht, weil sie mit steinerner Miene „lol“ sagen, wenn was lustig ist, sondern, weil dieses Ding mit Richtig und nicht Richtig sich vor meinen Augen auflöst wie ein Strickwerk, aus dem die Nadeln gefallen sind.

Ich sehe keinen Konsens mehr. Wahrheit ist nur noch die Wahrheit des Sprechortes, nicht mehr die der gemeinsamen Fakten. Recht haben nur noch die Betroffenen. Was ja an sich ein guter Gedanke ist, Opfern die Meinungshoheit zu geben – aber heißt das wirklich, dass deshalb Nichtbetroffene einfach Gusch sein müssen? Diese Debatten rund um den Sprechort: nichts entsolidarisiert diese Gesellschaft mehr. Ich bin nur nicht sicher, ob ich es nicht verstehe, oder kein Verständnis dafür habe. 

Bin ich so anders geworden oder fehlt den Jugendlichen gewaltig viel Kontext? Kontext, was Meinungsfreiheit eigentlich heißt, worum es beim Nahost-Konflikt geht? Kontext, wie das denn so ist mit psychologischen Abwehrmechanismen, weil der Klimawandel so eine riesige Bedrohung ist, dass er kognitiv fast nicht fassbar ist? Kontext, was Behinderung eigentlich heißt? Kontext, was es jenseits des queeren Spektrums auf der ganzen Welt heißt, biologisch eine Frau zu sein?

Ich sehe keinen Konsens mehr. Wahrheit ist nur noch die Wahrheit des Sprechortes, nicht mehr die der gemeinsamen Fakten.

Ist dieser fehlende Kontext nicht doch genau das, was Erwachsene an Jugendlichen kritisieren, wenn sie sich über „die Jugend von heute“ aufregen? Noch nie im Leben war ich so ratlos. Ich weiß es einfach nicht. Habe ich diesbezüglich den Bus verpasst, die Glocken nicht gehört? Oder fehlen den Jugendlichen diese 20 Jahre Weltgeschichte mehr, die zwischen ihnen und mir liegen und die natürlich ihre Prägung in mir hinterlassen haben?

Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? Oder bin ich einfach nur wirklich angepisst, dass ich mich nicht mehr zu dieser Generation der Jugendlichen zählen kann?