Interview

„Jeder zusätzliche Tag ein Geschenk“ – Hermann Nitsch im großen WIENER-Interview

Lebemann Hermann Nitsch freut sich auf die Würste, die ihm seine Frau zubereitet, während er über Orgien und Mysterien, sein Aufwachsen in Floridsdorf und die große Angst vor dem Tod redet. Ein paar schöne Jahre möchte er noch erleben. Am 29. August wird er 80 Jahre alt.

Interview: Manfred Rebhandl / Fotos: Maximilian Lottmann

Herr Nitsch, haben Sie heute früh schon eine Blutwurst gegessen?
Was soll das werden? Sind wir hier im Kabarett? Du lieber Himmel! Ich sag Ihnen gleich, und Sie wissen es hoffentlich, dass ich ein zumindest reserviertes Verhältnis zu Journalisten habe, wenn nicht gar ein gespaltenes.

So wie Trump?
So ungefähr.

Tut mir leid. Ich wollte irgendwie auf die Blutsache hinaus, was aber vermutlich bei Ihnen wirklich nicht sehr originell ist.
Sie sagen es! Also haben Sie noch etwas anderes anzubieten als Ihre Frage nach der Blutwurst?

Wann fangen Sie eigentlich jeden Tag an zum Saufen?
(seufzt) Na gut … Sie wollen es also unbedingt wissen! Also erstens nie untertags! Ich trinke immer erst am Abend, denn zweitens saufe ich nicht, ich bin kein Alkoholiker. Ich trinke halt an jedem Tag der Woche einen halben Liter Wein und an einem Tag in der Woche berausche ich mich.

So richtig?
So richtig.

Auch mal fünf Liter?
Hm.

Bis zum Kontrollverlust? Bis zum Filmriss? Muss man Sie dann ins Bett tragen?
Nein, nie bis zum Kontrollverlust, und ins Bett finde ich immer alleine. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.

Aber Sie sind doch Skandalkünstler! Tätigen Sie im Rausch wenigstens Anrufe, die Sie am nächsten Tag bereuen? Schreiben Sie unflätige E-Mails, wütende Briefe?
E-Mails und Briefe schreibe ich grundsätzlich nie, und was die Anrufe angeht, da muss ich kurz überlegen …. Ich würde sagen: Selten. (lacht) Was soll ich sagen? Ich halte mich ja durchaus nicht für unfehlbar. Wenn ich Leute mit ihrem Unfehlbarkeitskomplex um mich herum habe …

… halten Sie das schwer aus?
Das halte ich ganz schwer aus.

Das Trinken lernte er bei einem Wirt namens Rauscher. Ein 1/2 Liter dunkles Bier und 1/8 Liter Stroh Rum, das nannten sie „Fluffi“. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Was machen Sie dann so den ganzen Abend hier in Ihrem Schloss, wo Sie das ganze obere Geschoß als Atelier und Büro nützen? Hören Sie sich ständig Opern an oder schon auch hin und wieder Radio Niederösterreich zum Einschlafen?
Da ich, wie bekannt sein dürfte, Gesamtkünstler bin, bereite ich Aktionen vor, beziehungsweise beschäftige ich mich mit Musik – mit fremder und eigener –, mit Philosphie, mit Theorie, mit Literatur …

Sie sind ja so unfassbar belesen und gebildet. Haben Sie all Ihr Wissen stets präsent oder müssen Sie mittlerweile auch schon mal in Kindlers Literaturlexikon nachschlagen, oder im Opernführer, oder in Michael Köhlmeiers „Sagen des klassischen Altertums“, um sich zu vergewissern, wofür dieser und jene griechische Gott genau steht?
Nein! Ich beschränke mich auf das, was ich weiß, und ich weiß genug! Das lexikalische Wissen ist ja so umfangreich, dass es unmöglich in seiner Gesamtheit erfasst und beherrscht werden kann. Außerdem sage ich, was Bildung angeht, ja immer: Beim Wiener Heurigen habe ich mehr gelernt als auf jeder Universität …

Dort haben Sie auch gelernt zu trinken?
Das habe ich gegenüber der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien gelernt, wo ich ja zur Schule ging und wo es einen Wirten namens Rauscher gab, dort tranken wir jungen Leute regelmäßig 1/2 Liter dunkles Bier und dazu ein 1/8 Stroh Rum, wir nannten das „Fluffi“, und da ist man dann senkrecht aufgestanden (lacht). Mit dem Wein fing es dann erst hier in der Gegend richtig an, da drüben in der Keller­gasse, das waren alles Verwandte von mir. Dort hatte ich dann die ersten wirklichen Räusche.

Und immer tranken Sie lieber den Weißen als den Roten?
Der Weiße beschwingt mich halt mehr, aber ich habe gewiss nichts gegen den Roten.

Dort bei den Heurigen fing dann auch Ihre Kar­riere als legendärer Frauenheld an?
Nein! Ich war ja wie fast alle jungen Männer damals nach dem Krieg sehr spät dran mit den Frauen, meine Mutter konnte und wollte mich nicht aufklären, ich war mit 20 Jahren noch sehr unerfahren.

Hermann Nitsch im Februar 2017. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Sie sind im Krieg aufgewachsen.
Ja, in Floridsdorf. Wir waren eine Mittelschichtsfamilie, die Mutter war Beamtin, der Großvater sehr gebildet, ein großer Liebhaber der Natur. Aber nachdem der Vater im Krieg gefallen ist, waren wir doch sehr arm, die Pension der Mutter reichte kaum fürs Überleben. Ich verdiente damals schon etwas Geld mit Ölbildern, man gab mir Postkarten, die ich abmalte, und das Geld investierte ich umgehend in Kunstbücher. Ich liebte die Wiener Oper der Nachkriegsjahre, die musikalisch erstklassig war.

Ihre Mutter hat Sie sehr geliebt und später auch immer verteidigt, es war für sie ja nicht einfach mit ihrem Hermann, dem Skandalkünstler, dem Blutkünstler. Hier im Ort begrüßte man Sie vor 30 Jahren mit einem „NITSCH – NEIN DANKE!“-Schild an der Tür des Lebensmittelhändlers.
(lacht) Ja, aber das hat sich hier im Ort mittlerweile geändert, Gott sei Dank! Und meine Mutter hat mich tatsächlich sehr geliebt und sie gab mir dieses Urvertrauen mit, das ich als Geschenk betrachte, und diese Liebe und dieses Vertrauen habe ich später natürlich auch in jeder Frau meines Lebens gesucht.

Mit jungen 22 Jahren haben Sie dann bereits Ihre Idee samt Theorie für das Orgien-Mysterien-Theater entworfen, das Ihr Lebensthema ist. Im Rückblick: War das der ideale Zeitpunkt?
Viel früher, so ab 18 Jahren, habe ich mich ja schon intensiv mit Dichtung befasst, und jener Dichter, der mich damals am meisten ergriffen hat, war Trakl, der ein großer Trinker und Drogenesser war.

Das hat Sie fasziniert?
Gewiss auch. Aber zuerst interessierte mich wie bei jedem Künstler das Werk, erst dann die Biografie. In diesen jungen Jahren war ich ja noch sehr von Schopenhauer geprägt, bis ich ab dem 20. Lebensjahr begann, Nietzsche zu verstehen und für mich erfahrbar zu machen. Die durch Schopenhauer bedingte Verneinung des Lebens hat sich umgekehrt.

Und Gott Dionysos trat in Ihr Leben, der Gott des Weines und der Lebensfreude.
Wobei ich nicht vom Gott Dionysos sprechen würde, sondern vom Prinzip Dionysos: die reife Frucht; die Erde; die Weine; die Natur; die sich immer wieder erneuernde Lebenskraft. Die Natur hat ja so viel investiert in den Rückhalt von Ewigkeit, mit dem wir hier leben dürfen, und wir sind mit diesem großartigen Körper ausgerüstet – man darf das alles nicht vergeuden!

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Ein echter Nitsch – aus Blut. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Was ist die Liebe?
Im Christentum ist die Liebe ein Gebot, und das verstehe ich bis heute nicht. Liebe ist ein Seinszustand, den man erfährt oder eben nicht. Es sind viele große Augenblicke, die sich wiederholen sollen, und wenn du diese Augenblicke intensiv erlebt hast, dann ist der Wunsch nach Wiederholung ­natürlich groß.

Wie oft ungefähr haben Sie diesen Seinszustand erfahren dürfen?
Das lässt sich zahlenmäßig schwer sagen, aber ich würde sagen: Oft.

Gab es nicht auch „alltägliche“ Momente der Niederlage, der Zurückweisung, des Verletzens und Verletztwerdens, kurz: Irdisches, allzu Irdisches?
Diese Momente gab es natürlich auch, ich habe oft gelitten und leide immer noch und immer wieder.

Hatten Sie auch mal das Gefühl: Na bumm, vor der ganzen Orgien-Mysterien-Sache hätte ich vielleicht auch noch was anderes ausprobieren sollen, Sozial­arbeit vielleicht, oder Entwicklungshelfer?
Nein, ich habe schon als junger Mensch gewusst, dass ich Künstler bin.

Sie sind ja Experte: Was ist eine richtige geile Orgie?
Eine Orgie ist in jedem Fall eine Triebabfuhr, die sich nicht notwendig mit dem Verlust des Bewusstseins ereignen muss.

Wie wichtig sind Drogen dabei?
Der Wein wirkt bestimmt dynamisierend.

Und Sex?
Solche Aktionen hatte ich auch.

Haben Sie schon Leute weggeschickt, weil sie nicht dazupassten? Mineralwassertrinker oder Ähnliches?
Nein, es kann jeder kommen. Aber meistens kommen ohnehin nur Leute, die verstehen, was ich mit meiner Kunst meine. Am besten versteht übrigens mein Sohn, was mein Orgien-Mysterien-Theater ­bedeutet.

Zu Pfingsten findet auf dem Schloss in Prinzendorf wieder ein großes Fest statt. Mit Wein aus dem eigenen Anbau und Erdäpfelgulasch am Abend für alle Mitwirkenden. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Ostern steht vor der Tür, Leiden und Auferstehung.
Ich beschäftige mich sehr viel mit Religionen, weil sie sehr viel Weisheiten an den Tag bringen, aber ich bin kein Angehöriger einer bestimmten Religion. Den Mythos von Tod und Auferstehung gibt es sowohl bei den alten Ägyptern als auch bei den Christen.

Aber das eine ist die Theorie, das andere ist die Realität. Haben Sie Angst vor dem Tod, und was, wenn es dann doch keine Auferstehung gibt?
Ich habe große Angst vor dem Tod, der Tod beschäftigt mich unablässig, ich denke jeden Tag daran.

Was denken Sie genau?
Der Wunsch wäre, dass es noch viele Jahre werden, die ich erleben darf. Die Realität wird sein, dass jeder zusätzliche Tag, den ich erleben werde, ein Geschenk ist.

Jedenfalls werden Sie weiterhin jeden zusätzlichen Tag als bekennender Gourmet verbringen. Wie viel Gourmand ist da noch in Ihnen?
Was ist was?

Der eine isst gerne genussvoll, der andere frisst gerne maßlos.
Ich bin gewiss beides.

Wenn’s auf eine Entscheidung hinausläuft: Essen Sie lieber die Kuh oder lieber das Schwein?
(überlegt lange) Mir tun natürlich beide leid, dass sie sterben müssen zum Zwecke des Verzehrs durch den Menschen, aber wenn Sie mich so fragen: Das Schwein.

Ein klassisches Braterl mit Knödel?
Genau.

Und dazu laden Sie sich gerne Gäste ein?
Sehr gerne. Unten hat ja mein Freund Peter Kubelka eine Wohnung eingerichtet, der ist auch ein begnadeter Koch und Trinker, der regelmäßig mit mir speist.

Wie ist dann Ihre Sicht auf die ganzen schmal gepickten Work-Life-Balance-Freaks, denen schon die Kohlensäure im Mineralwasser zu viele Kalorien hat? Empfinden Sie Verachtung?
Ich wollte das Wort nicht in den Mund nehmen, aber es kommt der Sache schon sehr nahe. Und Mitleid empfinde ich natürlich auch! Wenn ich schon welche sehe, die ins Fitnessstudio laufen, das ist furchtbar! Verschwendetes Leben! Oder Schifahren!

Sie hassen Schifahren?
Ich hasse gar nichts, aber Schifahren ist ganz furchtbar, das ganze Drumherum, die Hotellerie, die Après-Ski-Gesellschaft, die bunten Farben der Schianzüge, schrecklich! Ich habe ja gewiss nichts gegen bunte Farben, aber ich kenne diese grausliche Farbenfröhlichkeit von den Amerikanern nach dem Krieg, und als ich dann nach ­Venedig fuhr, dort waren die Leute so viel festlicher und feierlicher gekleidet, alle in Schwarz oder Braun, das hat mir gefallen.

Hermann Nitsch im Schloss Prinzendorf. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Sie wirken immer sehr gefestigt und stark, aber man hat Sie auch oft angegriffen, verletzt und beleidigt. Wie tief ging das bei Ihnen?
(nachdenklich) Sehr tief. Man hat mich wirklich oft verletzt und gekränkt, und ich habe das gewiss nicht einfach so hingenommen. Es ging nicht spurlos an mir vorüber.

Sie waren auch im Gefängnis. Wo ist man in einem österreichischen Gefängnis unter den anderen schweren Brüdern als Aktionskünstler in der ­Hierarchie angesiedelt? Noch unter den Kinderschändern?
Nein, ich muss sagen, das eine Mal war ich in einer Gruppenzelle, und dort war ich sehr angesehen. Die beiden anderen Male war ich ja in Einzelhaft, da hatte ich keinen Kontakt zu anderen und habe einfach gearbeitet.

„Im Christentum ist die Liebe ein Gebot, und das verstehe ich bis heute nicht. Liebe ist ein Seinszustand, den man erfährt oder eben nicht.“

Seit 2005 gab es keine richtig große Ehrung mehr. Geht da noch was?
Na, Moment bitte! Immerhin hat dann ja hier in Mistelbach das Nitsch-Museum aufgesperrt!

Na ja gut, aber Entschuldigung … Mistelbach. ­Haben Sie sich da nicht unter Wert geschlagen?
Ich bitte Sie! Mistelbach ist doch schön, und ich bin bei Gott nicht der Meinung, dass Museen nur in den Metropolen angesiedelt sein sollen! Nein, wirklich nichts gegen Mistelbach, ich bin damit sehr zufrieden und stolz.

Gibt’s hier im nördlichen Niederösterreich eigentlich Breitband?
Mein Büro hat und nützt es natürlich, aber mich interessiert das Internet überhaupt nicht, ich schaue da nie hinein.

Zu unsinnlich, diese ganze anonyme Online­pornografie?
Schrecklich.

Kaufen Sie im örtlichen Lagerhaus ein?
Ich nicht, aber meine Mitarbeiter bestimmt.

In seinem Schloss arbeitet Nitsch bis tief in die Nacht hinein. Einmal pro Woche berauscht er sich, aber nicht bis zum Filmriss. „Man soll das Leben nicht vergeuden!“ Foto: (c) Maximilian Lottmann

Haben Sie ein schönes Sparbuch bei der Raika Niederösterreich mit Zinsen, die Ihnen noch Ihr Freund Pröll verschafft hat?
Früher hatte ich sicher mal ein Sparbuch, aber über die Höhe der Zinsen weiß ich nicht Bescheid.

Wir leben in einer Zeit, in der sich hinten und vorne keiner mehr auskennt wegen der ganzen alternativen Fakten. Kann man sich zumindest auf eines verlassen? Dass im Wein die Wahrheit liegt?
Das ist ein sehr schöner, volkstümlicher Spruch, der sich sowohl psychologisch als auch physiologisch belegen lässt. Er gefällt mir.

 

Hermann Nitsch

wurde 1938 geboren und wuchs in Floridsdorf auf, er zählt zu den bedeutendsten Vertretern des Wiener Aktionismus. Mit seinem Orgien-Mysterien-Theater erlangte der Maler Weltruhm. In über 150 „Aktionen“, bei denen Tiere geschlachtet und in Blut gebadet wurde, wollte er „den Menschen das Sinnliche erfahrbar“ machen. Dafür wurde er ebenso geehrt wie angefeindet. Er lebt in einem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf. Mehr Infos hier!

Programmschwerpunkte zu Nitschs 80. Geburtstag am 29. August 2018

Ausstellung ”Hermann Nitsch – Leben und Werk: eine Ausstellung über den Menschen Hermann Nitsch, sein Leben und sein Werk. 20. Mai bis 5. Mai 2019 im Nitsch Museum Mistelbach, Waldstraße 44-46, 2130 Mistelbach 

155. Aktion mit Sinfonie von Hermann Nitsch: 1. September 2018, 18 Uhr im Nitsch Museum Mistelbach, Waldstraße 44-46, 2130 Mistelbach

Hermann Nitsch 80: Anlässlich des 80. Geburtstages von Hermann Nitsch und in Ergänzung zur biografischen Ausstellung „Nitsch – Leben und Werk“ werden 80 Arbeiten des Künstlers aus den Disziplinen des Orgien Mysterien Theaters gezeigt. 30. November bis 30. Juni 2018, Nitsch Foundation, Hegelgasse 5, 1010 Wien. Infos hier!

TV-Tipp:Das Universum des Hermann Nitsch“, 27.8, 23:30 Uhr auf ORF2