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Konfliktstoff Oberschenkel-Lücke

Manfred Sax

Vorsicht, Oberschenkellücken! Wer keine hat, redet sie schlecht: Dabei sind Thigh Gaps ein betörendes, das Leben bejahendes Phänomen.

Text: Manfred Sax

Nichts ist einfacher als etwas zu dissen, das du nicht erreichen kannst. Wird zur Fabel des griechischen Denkers Äsop (600 BC) notiert, in der ein Fuchs an ein paar Trauben geriet, die sein Habenwollen erregten, nur leider zu hoch hingen, um sie zu kriegen. Worauf er die Früchte schlechtredete („nicht reif genug“, „zu sauer“), damit ihm das Habenwollen verging. Die Story hat 2600 Jahre am Papyrus, kann dir aber heute jederzeit einfallen, ein Besuch im Sozialen Netzwerk genügt, dort wird gern gedisst, dazu braucht es nur ein Reizwort.

Zum Beispiel „Thigh Gaps“. Poste ein Bild davon, schon hast du es: „ausgedürrter Vogel“, „O-Beine“ und so weiter. Thigh Gap ist der englische Begriff für „Oberschenkellücke“ und meint einen Freiraum, der zwischen den Innenseiten der Oberschenkel einer aufrecht mit geschlossenen Knien stehenden Frau augenfällig wird bzw. augenfällig werden kann. Denn natürlich braucht sie die richtigen Beine dafür, also solche, die ohne überflüssige Zusatzkilo Fett ihr Leben fristen und außerdem an Hüftknochen fixiert sind, die etwas weiter auseinander liegen: eine Thigh Gap, voila.

So war das immer schon. Nur machte dann die Unterwäschefirma Victoria´s Secret vor sechs Jahren eine Show mit Models, deren Oberschenkel genau jene feine Kluft offenbarten. Die Thigh Gaps wurden Thema. Nett für die einen, ein Malheur für andere. „Thinspiration“-Blogs erhoben sie zum Schönheitsideal. Andere fühlten sich fettgeschämt. Es ist nicht lustig, wenn du von Kopf bis Fuß auf Musshaben eingestellt bist, aber 20 Kilo mehr auf die Waage bringst, als für so ein Schönheitsideal empfohlen werden. Für Beinemänner sind derlei Debatten, die ohnehin nur in Frauenblättern geführt werden, natürlich nicht wesentlich. Die „Lücke“ ist was Besonderes, Punkt. Sie kann sogar für „Leben“ stehen. Nenne es Fügung. Oder Chemie. Ein Blick auf eine Thigh Gap kann reichen, damit unweit deiner Niere das Stresshormon Adrenalin produziert wird – welches wiederum ein paar Endorphine freisetzt, die häufig gewisse Engpässe im Gehirn provozieren: Du bringst vorüber gehend keinen geraden Satz mehr heraus, stattdessen dominiert ein Gefühl, das gern, wenn auch unzureichend, als „betört“ abgehakt wird. Und wer weiß, was dann noch geschieht.

Es hilft, wenn die Umstände passen. In den Sechziger Jahren, zum Beispiel, passte die Erfindung des Minirocks hervorragend, um die Aufmerksamkeit auf die Thigh Gap zu lenken. So gesehen war die Lücke zuvor so gut wie nicht existent. Die Umstände wollten es, dass der Minirock außerdem einer Britin namens Jane Birkin (alias: The Babe, siehe Clip oben) verdammt gut passte, und ja: Sie war nicht nur Sängerin des skandalisierten Liedes Je T`Aime, sondern auch Besitzerin einer fulminant betörenden Thigh Gap. Fast 50 Jahre ist das her. Aber wie der vergangene Sommer netterweise unterstrich (so du an den richtigen Orten warst): Die Thigh Gap erwies sich als robust. Sie ist weiterhin eines der großen erotischen Signale der Gegenwart. Fotos: Getty (2), jonathunder CC BY 2.0