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Die Me-Dekade, der WIENER und ich

Die Zehnerjahre haben unsere Kommunikation völlig verändert. Erinnerungen an die Gegenwart, featuring Herbert Grönemeyer, Marco Wanda und Bruno Kreisky (Godfather of Meinung)

Text: Wolfgang Wieser, checkitoutjoe.com / Foto: Privat

Alfred Hrdlicka trug ein wadenlanges, oranges Hemd. Darüber habe ich vergessen, was er sonst noch anhatte. Schnauzer und Mund formten in präzisem Parallelschwung eine schmale, silberne Sichel, die unweigerlich Respekt gebot. Obwohl der Bildhauer kurz vor elf Uhr dermaßen zerknautscht wirkte, als hätte ihn eine liebestolle Riesin die ganze Nacht an ihrem üppigen Busen geherzt.

In der Galerie Hilger, wo wir zum Gespräch verabredet waren, riet man mir im Flüsterton, ihn erst einmal „ankommen“ zu lassen. Dem morgendlichen Ungemach entronnen, erwies Herr Hrdlicka sich als äußerst freundlicher, umgänglicher Mann, der zwar an körperlicher Kraft ver­loren hatte, aber vor Selbstbewusstsein strotzte: „Es gibt sicher keinen größeren Künstler in Europa“, sagte er. Und meinte damit zweifelsfrei sich selbst.

Während unserer Unterhaltung klatschte der alte Mann ab und zu in die Hände, rief nach Wasser und nahm, sobald ihm das randvolle Glas gereicht wurde, einen großen Schluck. Gestärkt dozierte er weiter. Das Wasser war Wodka. Alfred Hrdlicka bewahrte trotzdem ehrfurchtgebietende Klarheit.

Dieses Gespräch im Spätherbst 2008 war mein erstes Interview für den WIENER. Es markierte den Beginn einer neuen persönlichen Zeitrechnung – meine WIENER-Jahre.

Endlich war ich angekommen.

Ich bewunderte das Magazin seit den 1980ern. Mir gefielen Wagemut und Wahnsinn. Ich erinnerte mich an viele Geschichten (und tu’ es noch heute): an die 1.000 Menschen, die 1.000 Argumente gegen das damals geplante Kraftwerk Hainburg parat hatten; an die schmerzhaften Bilder zu Tode gequälter Kinder; an einen süßen Report über Schokolade; an die vielen, vielen Nackten (vom Kind bis zum Opa), die in einer Schwarz-Weiß-Strecke über ihr Körpergefühl sprachen; an eine modische Pietà, von Elfie Semotan mit Models inszeniert, und an eine Geschichte von Helge Timmerberg, der irgendwo in Indien auf so raffinierte Art den roten Faden seiner Story verloren hatte, dass ich gar nicht anders konnte, als sie wieder und wieder zu lesen.
Besonders aufregend: Autoren und Fotografen traten selbst in Erscheinung. Lange war „ich“ das wichtigste Wort jeder Geschichte, und jedes „Ich“ ein Versprechen. Es stand für Ehrlichkeit und Leidenschaft, Konzentration und das unbedingte Streben nach Erkenntnis.

Zurück zu mir also (wenn wir schon beim „Ich“ sind): Die Zehnerjahre versprachen, großartig zu werden. Ich ahnte nicht im Mindesten, wie sehr die Me-Dekade die (WIENER) Welt verändern sollte.

Zum Zeitpunkt meines Gespräches mit Alfred Hrdlicka existierte Facebook knappe vier Jahre, Twitter zwei, Instagram, WhatsApp und Snapchat noch gar nicht. Amazon, Google, YouTube, Wikipedia und WordPress gab es seit der Jahrtausendwende (plus minus ein paar Jahre auf oder ab).

Aufmerksame Menschen erkannten, dass sich hier etwas Ungeheures anbahnte. Zu diesen aufmerksamen Menschen gehörten Porno-Produzenten und Rechtsaußenpolitiker. Erstere mit einem untrüglichen Sinn fürs große Geld, Letztere mit der Ahnung, die Meinungshoheit weit über die engen Grenzen des Stammtisches ausdehnen zu können. (Wobei sich Porno und Prüderie auch umgekehrt denken lassen. Und die Lust am Geld sowieso, wie wir spätestens seit Ibiza wissen.) Dem zunehmend schnelleren Klick versuchten wir Anfang der Zehnerjahre mit einer gewissen Lässigkeit zu begegnen: mit langen Interviews, launigen Kolumnen und einem nicht zu leugnenden Hang zum Hedonismus.

Mit Vergnügen erinnere ich mich an ein Interview mit Herbert Grönemeyer, der in glückliches Lachen ausbrach, als ich ihn nicht nach seinen Texten, sondern einem wunderbaren Akkordwechsel (für Auskenner von d-Moll auf D-Dur) fragte. Mit Sarah Connor rauchte ich danach eine Zigarette am Fenster eines Wiener Luxushotels. Zuvor hatte sie mich von Kopf bis Fuß gemustert, um mir schließlich ohne Zögern zu offenbaren, welcher Song mir auf ihrem Album „Muttersprache“ am besten gefallen hatte (ja, es war „Deutsches Liebeslied“).

Marco Wanda und Manuel Christoph Poppe brachten zum Interview beim Chinesen am Naschmarkt Wurstsemmeln vom Billa mit. Designer Arthur Arbesser flog, kurz bevor er ein Jahr lang für Iceberg entwarf, für ein exklusives WIENER-Shooting extra von Mailand nach Wien. Bei Schauspielerin Hilde Dalik saß ich im Wohnzimmer am Fußboden, um afghanischen Flüchtlingen beim Musizieren zuzuhören. Und im Heuer am Karlsplatz erfanden wir den WIENER-Spritzer, eine in seiner luxuriösen Variante kostspielige Alternative zu Aperol Spritz & Co.

Ach, es waren herrliche Zeiten!
Wir lebten in unserer eigenen Welt.
In unserer Wolk’n.
Und damit meine ich nicht die Cloud.

Die Cloud war uns als Instrument nicht suspekt. Natürlich erkannten wir deren Nützlichkeit. Auch der Reiz von Facebook und Instagram, Google und Wikipedia blieb uns nicht verborgen. Und weil der Zeitgeist seit Jahrzehnten in uns spukte (und wir wussten, was es heißt, vorn dabei zu sein), nutzten wir diese Plattformen auch.

Es zeichnete sich allerdings ab, dass Cloud & Co. zum Himmelfahrtskommando werden könnten. Denn die Sparefrohs in den Vorstandsetagen sprachen plötzlich nur noch davon, zusätzliche Inhalte zu generieren, dachten aber nicht daran, diese Inhalte,
u. a. Bewegtbilder, in den mit den Jahren ohnehin immer knapper gewordenen Budgets auch entsprechend zu dotieren.

Stattdessen fütterten sie uns mit alternativen Fakten (noch bevor dieser Begriff überhaupt geprägt worden war).

Fakten erfuhren in der Me-Dekade gewissermaßen eine Neudeutung. Mit der permanenten Verfügbarkeit lexikalischen Wissens dienten sie nicht mehr als interessante Basis, sondern in erster Linie als Diskussionskiller. Ein virtueller Wühltisch für Rechthaber, die nach Bedarf daraus wählen konnten (und dabei sind Verschwörungstheorien und schlichte Lügen noch gar nicht berücksichtigt). Wann gab es das erste Smartphone? Und wer hatte die Idee dafür? Wie hoch sind die Steuern, die Amazon, sagen wir, im Jahr 2012 in Österreich bezahlte? Und was, bitte, bedeutet Dystopie?

Zu einem besseren Verständnis der Welt haben Fakten nichts beigetragen. Wer auf alles eine Antwort findet, verzichtet schnell aufs Nachdenken. Dafür haben wir zu allem etwas zu sagen.

Der in den 1970er-Jahren absolut regierende Bundeskanzler Bruno Kreisky, Godfather of Meinung, würde entsetzt den Kopf ob all der Banalitäten schütteln, die Influencer bedeutungsschwanger von sich geben. Und er hätte recht.
Natürlich finden wir das In­fluencer-Me faszinierend. Und natürlich beeinflusst es uns in unserer Selfie-Darstellung.
Mit dem einstigen WIENER „Ich“ aber hat es nichts gemein. Dieses „Ich“ war großzügig und tolerant, charmant und humorvoll, abenteuerlustig und unglaublich goschert.

Das Me kannst du kaufen.

Die letzte Frage, die ich dem Wodka trinkenden Alfred Hrdlicka in meinem ersten WIENER-Interview stellte, bezog sich auf seinen kolportierten Wodka-­Konsum von ein bis zwei Flaschen täglich, den er kurz zuvor schon bestätigt hatte. „Sind Sie dann auch betrunken?“, wollte ich wissen. Seine Antwort: „Eine herrliche Frage – aber das müssen Sie feststellen.“ Ein interessantes Angebot, aber vor der Me-Dekade konnte man diesen Satz auch einfach so stehen lassen.

P. S.: Mit besonderem Dank an meine langjährigen Begleiterinnen Nina Ullrich (Art-Direktorin), Lisa Vesely (Chefin vom Dienst) und Verena Eissner-Eissenstein (Redaktrice)


 

Wolfgang „Joe“ Wieser war in den Zehnerjahren rund fünf Jahre Chefredakteur des WIENER – einer der längstdienenden. Dem WIENER blieb der studierte Kommunikationswissenschafter als Autor und Kolumnist verbunden. Aktuell schreibt er für mehrere Magazine, ist als Berater im Corporate Publishing tätig und bloggt auf
checkitoutjoe.com.