AKUT

Kinderpost

59 Jahre vor der Gründung dieser Zeitschrift hatte die amerikanische Post genug. 1920 beendete sie die Möglichkeit, Kinder als Paketpost zu verschicken. 7 Jahre vorher, 1913, hatte die Post in den USA den Paketservice eingeführt, und sofort wurden Kinder von ihren Eltern verschickt. Zum Beispiel in Ohio. Jesse und Mathilda Beagle hatten einen 8 Monate alten Sohn, James. Ein Zugticket wäre teurer gewesen, und so versandten sie den kleinen James für 15 Cent als Paket, versicherten die Postsendung aber immerhin für 50 Dollar. Oma Beagle freute sich dann sehr, als sie den Briefkasten öffnete und James fand. Die Briefträger aber waren genervt von den schreienden Paketen, deren Inhalt auch manchmal ins Paket geschissen hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich meinen Sohn in dem Alter einem Briefträger überlassen würde. Eher nicht. Man möge mich Helikoptervater schimpfen, aber mir wäre das zu riskant. Man hört doch immer wieder, dass Post verschwindet oder sehr verspätet eintrifft. Das wollte ich meinem Sohn nicht antun. So geil ist Geiz nun auch wieder nicht.

Heute gibt es den WIENER, und man darf Kinder nicht mehr als Pakete verschicken, wobei der WIENER für diese humanitäre Entwicklung nicht ursächlich verantwortlich ist. Aber man kann Tote per Post senden, zumindest deren Asche. Laut dem Präsidenten des deutschen Bestatter-Verbandes ist das Versenden von Urnen mit dem Paketdienst inzwischen üblich. Das hängt mit der zunehmenden Zahl von Feuerbestattungen zusammen, sowie mit dem Trend, dass Eltern und erwachsene Kinder immer häufiger weit voneinander entfernt wohnen. Die Preise für die Überführung sind zehnmal so hoch, wenn es der Bestatter macht.

Auch da bin ich mir nicht sicher, ob ich die Möglichkeit gut finden soll. In Düsseldorf zum Beispiel wartete eine Trauergemeinde auf dem Friedhof vergeblich auf das Gefäß mit der Asche des Verstorbenen. Es befand sich noch im bestreikten DHL-Frachtzentrum in Krefeld. Und eine Frau aus der Oberpfalz wartet seit drei Jahren auf die Asche ihrer verstorbenen Mutter. Die Sendung war auf dem Weg vom Krematorium in die Oberpfalz verschwunden.

Vielleicht hat der kleine James 1979, im Jahr der Gründung vom WIENER, die Urne seiner Eltern auch per Post verschickt. Aus Rache. Sollten sie selber mal sehen, wie es sich anfühlt in einem dunklen Paket. Und so stecken Jesse und Mathilda vielleicht immer noch irgendwo in einem dunklen Postamt fest. Und James hat wahrscheinlich auch keine 50 $ für eine Versicherung ausgegeben, so wie seine Eltern damals. So haben sie auch keine Grabstätte, sondern an jedem Briefkasten kann er an sie denken, ohne Geld für die Grabpflege auszugeben.

In meinem Briefkasten liegen selten Kinder oder Tote. Dafür bin ich sehr dankbar. Dafür habe ich einen Brief bekommen mit einer seltsamen Frage: „Lieber Dirk, am 7. April 1979 wurde nach der Islamischen Revolution der verhaftete langjährige Ministerpräsident Amir Abbas Hoveyda im Iran nach seinem Todesurteil auf dem Weg zur Hinrichtung erschossen. Hat ihn der Täter gehasst oder geliebt? Toter geht ja fast nicht, als auf dem Weg zur Hinrichtung ermordet zu werden. Der arme Hoveyda lässt mir keine Ruhe. Dein Hans.“

Hans ist der Enkel des Schweizers Hans Hürlimann, der am 1. Januar 1979 zum Bundespräsidenten der Schweiz gewählt wurde. „Lieber Hans“, schrieb ich zurück. „Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß: Ich werde dir meinen Sohn nie als Paket schicken, und wenn du irgendwann sterben solltest und in Wien begraben sein willst, zahl ich mehr und lass deine Urne vom Züricher Bestatter herliefern. Auch wenn es zehnmal so teuer ist. Das bist du mir wert. Liebe Grüße, dein Dirk.“

Dirk Stermann
kolumniert seit Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.

Foto Header: Udo Leitner