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Interruptus oder die gottlose Technik


Vorwärts, retour und dann beten? Ehe ihm das Kondom den Rang ablief, war der Coitus interruptus die populärste Verhütungsmethode. Aber Imageprobleme hatte er schon immer, wenn auch zu Unrecht.

Text: Manfred Sax

Previously, auf Netflix. „Hey, willst du Sex mit mir haben?“, fragt sie, Typ nerdy Teen, ihren Schulkollegen. Der wird erst rot, dann nachdenklich, schließlich mutig: „Ja, warum nicht?“ – „Super“, sagt sie, „dann bis gleich. Du bringst die Kondome, ich das Gleitmittel.“

Tja, Teenager. Sie haben alles, sie wissen alles, sie tun, was sie wollen, wie unkompliziert kann das Leben eigentlich sein? Nun, bekanntlich ist dem nicht so. Generell hat jeder zweite Mensch sexuelle Probleme – von erektiler Dysfunktion und Performance-­Angst via Schmerzen beim Akt bis hin zum Orgasmus, der sich nicht einstellen will. Und für Millennials ist alles kompliziert. Das Leben ist kompliziert, die Liebe ist kompliziert, und Sex ist geradezu teuflisch, zumal zu Beginn. Er ist wie eine Sprache, zu der du die wesentlichen Vokabeln kennst, nur leider keine Grammatik. Also gehst du auf Autokorrektur, da kommen immerhin ganze Sätze raus, wenn auch nicht die richtigen im Sinn der Sprache.

Das Teuflische liegt in den Details. In quasi autokorrektiven Vorgaben wie Kondom und Lubrikationsbehelf. In Dingen, die sexuelle Kommunikation erschweren und negativ geladen sind. Kondom ist ein anderes Wort für Schiss, du willst Sex und hast sofort mal Angst vor Nachwuchs und ansteckenden Krankheiten. Du willst horizontal kommunizieren, killst aber vorbeugend wichtige Informanten. Zum Beispiel das Sekret der in der Peniswurzeln befindlichen Cowper’schen Drüsen, ein Präejakulat, das dem Penis eine gastfreundlichere Vagina beschert – was auch deren Bartholin-Drüse im Scheidenvorhof animiert, ihrerseits ein Sekret zwecks Lubrikation zu spenden. Mit Verwendung des Kondoms fällt sofort der organische Prozess des „nass“-Werdens weg, aber hey, wozu gibt es Gleitmittel? Die machen auch nass, nur eben ungeachtet der Frage, ob „Cowper“ und „Bartholin“ sozusagen ihr grünes Licht deponiert haben, als Zeichen für seine und ihre Bereitschaft zum nächsten Schritt. Ein organisches Finetuning, das kein Gleitmittel draufhat.

Bekanntlich setzte das Kondom Anfang der 80er-Jahre zu einer ominösen Renaissance an. Im Zuge der Angst vor Aids mauserte sich der Gummi zum weltweit populärsten Verhütungsmittel und lief der bis dahin leidlich kultivierten Technik des Coitus interruptus den Rang ab. Der „Rückzieher“ – das Rausziehen des Penis aus der Vagina vor Ejakulation – war bald kein öffentliches Thema mehr. Tatsächlich genoss die Technik in der medizinischen Debatte auch zuvor nie den Respekt, den sie unter Paaren hatte. Seit mindestens 2000+ Jahren im Umlauf machten laut einer globalen Studie(1) noch 1991 mindestens 38 Millionen Paare davon Gebrauch. Aber für die Medizin dominierten zwei Faktoren. Erstens schützt der Interruptus nicht vor Geschlechts­krankheiten. Zweitens wurde seine Effektivität als Verhütungsmethode bezweifelt. Im Sekret der Cowper’schen Drüsen, beharrt man bis heute, befinden sich auch Samenfäden, so was sei nicht zu kontrollieren.

Letzteres Argument wurde lange ohne Evidenz geliefert, in jüngerer Vergangenheit aber von neuen Studien relativiert(2), das Prä­ejakulat von Männern wurde wiederholt analysiert, Samenzellen nie gefunden. Bei perfekter Anwendung, fanden die Forscher, ist der Interruptus praktisch ebenso sicher wie das Kondom, im Schnitt werden nur drei von einhundert Frauen nach einem Jahr „auf“ Interruptus schwanger, bei Kondomen seien es 2 %. Andererseits klagen Frauen, die Kondome gewöhnt sind, häufiger über Depressionen.

Allerdings ist das Leben kaum je perfekt, beim Sex regt sich auch die Natur des Biests. Die Frau, zum Beispiel, kann unrund werden, wenn sie im Kommen ist, aber plötzlich geht da der Penis. Es ist selten eine resignative oder gottergebene Art von unrund, sondern in der Regel eher furios unrund. Und für den Mann ist es praktisch existenziell. Er mag abgeklärt genug sein, um zu wissen, dass aus seinen schönsten Träumen nie was wird, er wird sich nie „selbst einen blasen und dabei das White Album der Beatles furzen können“(3), aber der Koitus ist für ihn triebhabituell etwas, das ein natürliches Ende braucht, wenn er mal begonnen wurde. Ein vorzeitiger Interruptus fühlt sich da fast wie Sünde an. Und, tja, das sagen sogar die Priester.

Tatsächlich haben sie das schon immer gesagt. Schon im Alten Testament (Genesis 38.4.) wurde ein Zeitgenosse namens Onan vorgeführt. Nicht etwa, weil er „onanierte“, wie es häufig genannt wird, wenn man eigentlich nur „den Pharisäer peitscht“ oder „das Kamel zügelt“ oder „den Esel entstaubt“ (ja, das Handwerk hat viele Namen, die gedanklich ins Heilige Land führen). Vielmehr hat Onan sich geweigert, eine „Schwagerehe“ zu vollziehen. Onan war der zweite Sohn des Juda, der erste Sohn – Er – war mit der schönen Thamar verheiratet, starb aber kinderlos. Worauf Onan bei Thamar brauchgemäß antreten musste. Das tat er auch. Fatal für ihn nur, dass er dabei den Interruptus bemühte, den Samen „auf die Erde fallen und verderben“ ließ (Gen. 38.9.). In Moses-Speak war das „böse vor dem Herrn“, Onan wurde zum negativen Präzedenzfall in Sachen „Gottgefälligkeit“, nämlich dass Sex aus einem anderen Grund als dem der Fortpflanzung wider Gott ist. Altvordere Geistliche sagen das noch heute. Aber immerhin mauserte sich der Onan’sche Interruptus auch zur ersten schriftlich manifestierten Evidenz, dass Sex auch ohne Nachwuchs-Motiv was Unwiderstehliches hat.

Im Kern ist der Interruptus weniger eine Methode, sondern vielmehr eine Technik, die seiner Kontrollfähigkeit und ihres Vertrauens bedarf. Er muss lernen, sein inneres Biest zu zügeln, es geht nicht um sein Ziel Orgasmus, es geht um den gemeinsamen Spaß beim Tun. Und, klar, auch darum, dass sie beim Rückzug nicht in unrunde Furiosität kippt. Was kein Problem sein sollte, wenn sie während des Tuns bereits ein paarmal gekommen ist. Und sie braucht zunächst mal Vertrauen – dass er weiß, was er tut. Mit anderen Worten: Ein Paar, das auf Interruptus unterwegs ist, braucht Zeit. Zeit für Spiele, Zeit für Petting (noch so ein aus der Mode gekommener Begriff), Zeit für Gemeinsamkeit ohne Handy. Das ist auch das größte Problem beim Interruptus. Die Gefahr einer unerwünschten Schwangerschaft ist nicht größer als bei Verwendung eines Kondoms. Für die Warnungen in alten Sexratgebern, dass häufiger Interruptus zu nervösen Störungen und Angstneurosen führt, gibt es keine Evidenz. Aber wie alle guten Dinge bedarf der Coitus Interruptus einer großzügigen Investition von Zeit, damit er gut unterwegs ist. Und Zeit ist die große Mangelware der Gegenwart.

(1) Rogow/Horowitz: Withdrawal – a review of the literature and an agenda for research. Studies in Family Planning (1995)
(2) John K. Amory: Male Contraception, veröffentlicht in Fertility & Sterility, 2016. https://www.fertstert.org/article/S0015-0282(16)62744-9/fulltext#sec2.2
(3) Hank Moody alias David Duchovny in Californication.