AKUT

Ein guter Tag mit Nadel im Wanst

Ich habe mich verletzt. Es war so, dass ich mir bei einem spektakulären Sportunfall einen Muskelfaserriss zugezogen habe. Das ist eine Lüge. Also noch einmal: Ich habe mich verletzt. Ich ging mit drei prall gefüllten Einkaufstaschen über einen Zebrastreifen. Da machte es plötzlich „krrrk“ in meiner rechten Wade, ein Schmerz wie ein Stromschlag, und ich lag auf der Straße. Neben mir brummten ungerührt die Autos, die darauf warteten, dass der Weg frei wird. Arschlöcher, übrigens. Aber ein Engel half mir auf. Er hatte eine eingedrückte Nase, abwesende Zähne und einen Helm in der Hand, den eine Zeichnung einer Lap-Dance-Künstlerin zierte. Er trug mich an den sicheren Gehsteig. Jemand wahrscheinlich sehr wichtiger ließ den Motor aufheulen. Der Keine-Nase-Mann holte meine Einkaufstaschen. Rief ein Taxi für mich und setzte mich dann sicher hinein. Er blickte mir nach und machte ein Victory-Zeichen mit der Hand. Meine Einkäufe packte er auf sein ­Motorrad.

Das Taxi hielt vor dem Eingang zur Unfallambulanz des Wiener AKH. Meine Laune: mies. Weil folgender Tag war zu erwarten: Gewusel. Es roch nie gut im Krankenhaus. Entweder nach Essen oder nach Ex-Essen. Stundenlanges Gesitze, bis man drankommt, Gesitze bis zum Röntgen. Gesitze bis zum Befund. Danach: Gesitze, bis einem wer sagt, dass man eh schon hätte gehen können. Währenddessen sah man Verletzte, Tragödien, Einzelschicksale, von denen man nie erfahren wollte. WLAN gibt’s auch keines. Das Personal ist fahrig, überarbeitet, zu wenige Ärzte und Ärztinnen sind vorhanden. Und, ich wiederhole: kein WLAN.

Es war an diesem Tag aber wenig los. Erstaunlich. Der Herr bei der Patientenaufnahme war fröhlich. Fragte nach dem Unfallhergang. Blickte mich an und meinte: „Das wird schon“. Eine Schwester kam auf mich zu und stützte mich, damit ich zu einer Sitzgelegenheit kam. Zwei weitere fragten, ob es eh ginge, und meinten, dass es heute bestimmt nicht lange dauern würde. „Ein Wunder!“, sagte die eine Schwester. „Empfehlen Sie uns bloß nicht weiter. Heute macht es richtig Spaß.“ Hinter ihr wird eine jammernde alte Dame auf einer Liege hereingerollert. Die Schwester drückt ihren Arm und blickte sie aufmunternd an. Ich fragte: „So arg, normalerweise?“ Sie schaute ernst: „Wir können eigentlich immer nur schauen, dass wir keinen Fehler machen. Es ist schon eng mit unseren Kapazitäten.“ Dann ging sie los und half einer jungen aufgeregten Mutter, deren kleines Kind gestürzt war und am Kopf blutete. Ihre Kolleginnen scherzten mit zwei Männern, die beide mit einem verletzten rechten Daumen da saßen. Ob das ein Flashmob sei. Es war eine richtig gute Stimmung da vor dem Kaffeeautomaten. 

Und es ging wirklich schnell. Аrztin, Röntgen, Ultraschall, Befund. Ich bekam Krücken. Eine Schwester erklärte mir, wie ich mir selber Thrombose-Spritzen geben konnte. Geduldig wartete sie ab, bis ich mein Gezetere abstellte und es einfach machte. Ich sah der Nadel nach, wie sie in meinem Wanst verschwand. Ich war stolz auf mich, dass ich nicht in Ohnmacht fiel. Neunzig Minuten waren vergangen. Ich durfte gehen. Ich war fassungslos. „Ja, heute ist so ein Lotto-Jackpot-­Tag!“ lachte eine Schwester. Sie rief einen Pfleger. Der hievte mich auf ein Bett und sagte, er bliebe bei mir, bis ich im Taxi sitze. Ich versuchte, abzuwinken. Mir war das unangenehm, also so viel Aufmerksamkeit hatte ich das letzte Mal 2017 bei einer Massage. Er rollerte mich vor die Tür. Rief ein Taxi. Wünschte mir noch einen schönen Tag. Ich stellte fest, dass ich den hatte. Ich hatte ernsthaft eine gute Zeit in der Unfallambulanz des Wiener AKH. Wenn Zeit für Menschlichkeit ist, ist nämlich Zeit für Menschlichkeit. 

Zuhause warteten meine Einkaufstaschen, ein Blumenstrauß und eine tolle Zeitschrift vor meiner Tür: der WIENER.

Heidi List
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache ­Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.