GENUSS

Tuning für Rohscheiben

Die recht diskrete Zunft der Lebensmitteltechnologen bestimmt maßgeblich, was uns schmeckt. Auch in Wien wird an der Sensorik gefeilt – der WIENER begab sich ins Geschmackslabor.

Text: Roland Graf / Fotos: Roland Graf, Brandstätter Verlag

Heute zwirbelt der Herr Professor wieder gelbe Schlangen. Und das gleich neben der Schnapsbrenn-Anlage. Was nach Partystimmung klingt, stellt in der Wiener Muthgasse eine der Basisübungen für Studierende der Lebensmitteltechnologie dar. Aus Kartoffelpüree werden mit einem Extruder, wie man ihn eigentlich aus der Kunststoffindustrie kennt, die ­gelben Würsteln geformt, die ­PU-Schaum nicht unähnlich sind. Gedacht sind sie eher als Erdnuss-Flips im Giganten-Maßstab. Denn an ihnen lässt sich – je nach Dosierung, Temperatur und Zeit – eine wichtige Eigenschaft von Knabbergebäck untersuchen: „Crispness“, wie man im interna­tionalen Forschungsumfeld zur Knusprigkeit von Chips und Co. sagt. Chips brechen übrigens mit zwei bis fünf Kilohertz und „sprechen“ somit in der Frequenz der menschlichen Sprache zu uns.

Der Ort, an dem man so etwas weiß, ist Österreichs wichtigstes Geschmackslabor und zugleich der Schauplatz streng geheimer Auftragsforschung. „Selbst viele sehr große Lebensmittelunter­nehmen haben diese Ausstattung nicht“, ist Klaus Dürrschmid stolz. Er ist der Professor mit den lustigen Erdäpfelpüreewürstchen, aber auch der Obmann des Europäischen Netzwerks für Sensorik. Denn jedes Uni-Labor, das Physik und Psychologie unseres Geschmackssinnes besser verstehen will, hat seine Schwerpunkte. Die Holländer in Wageningen ­suchen nach Fleischersatz aus ­Insekten und Wasserlinsen und betreiben eine Kamera-gespickte Forschungscafeteria. Der Einfluss von Beleuchtung und Anordnung von Speisen am Buffet wird hier im Auftrag von Caterern untersucht. Der Physiker Gérard Liger-­Belair in Reims wiederum widmet sich dem Entstehen der Champagnerbläschen, Arzt Thomas Hummel in Dresden kümmert sich um Wahrnehmungsschwellen von Gerüchen, Psychologe Charles Spence in Oxford hat u. a. den Einfluss von Musik und Tellerfarben in ­Restaurants untersucht.

Klaus Dürrschmids persönliche Spezialität hingegen ist der Trigeminus, „eine Art Sado-Maso-­Nerv“. Mit Reiz-Rezeptoren in Auge, Nase und Kiefer bringt ­dieser „Drillingsnerv“ keine Geschmacksempfindung im eigenen Sinne hervor, wird aber von Alkohol, Kren oder Chili angesprochen. Deshalb tränen die Augen beim Zwiebelschneiden, „er öffnet aber auch die Rezeptoren für ­Wärme, und dann wird uns beim Chili-Essen heiß“, so Dürrschmid. Als Feuerwehr schickt uns das Gehirn dann Tränen, so die gegenwärtige Erklärung des unangenehmen Nebeneffekts beim ­Gulaschkochen.

Auf 6.500 m² Gesamtfläche, ­darunter drei Labors, erforscht das Department für Lebens­mittel­wissenschaften und -technologie diverse Nahrungsmittel  – und unsere Reaktionen darauf. Welche Altersgruppen auf bestimmte Düfte ansprechen ­(„Vanille verbindet man mit der Kindheit“) und welche Emotionen Essen ­auslöst, gehört etwa zu den Forschungsfragen, die in der Arbeit des offensichtlichen Nirvana-Fans Dürrschmid („Tastes like Teen Spirit“) beantwortet werden. Der Schlüssel dazu sind die „impli­ziten Körperreaktionen“, die mit dem verzogenen Gesicht, das im Sensoriklabor als Spontan­reak­tion gefilmt wird, beginnen.

Was wir nicht kontrollieren können, aber Aussagen über den Gefallen eines Geschmacks ermöglicht, den „hedonischen Wert“, eignet sich für die Optimierung von Essbarem. Das Audiotuning von Chips (siehe auch Kasten „Chips, Tampons und Schnüffler“!) ist dabei nur eine Anwendung, die Rheologie eine ganz andere. Hier werden die Eigenschaften von Flüssigkeiten getestet und optimiert. Bringt ein viskoseres, „fetteres“ Mundgefühl eine bessere Bewertung eines Öls? „Vermutlich wird ‚fettig‘ demnächst sogar als sechster Geschmack anerkannt“, gibt der Sensoriker gleich einen Einblick in die veränderte „Zungenlandkarte“. Sauer, süß, salzig und Umami werden an den Rändern der Zunge gleich wahrgenommen, lediglich die Rezep­toren für „bitter“ befänden sich sehr weit hinten.

Neben vergleichsweise einfachen Experimentierbehelfen wie Duftstreifen stehen aber auch die Apparaturen zur „superkritischen Flüssigkeitextraktion“ im 19. Bezirk bereit. Mit verdichtetem Kohlendioxid werden dabei Aromen gezielt extrahiert – ein Verfahren, das etwa beim Entkoffeinieren von Kaffee Verwendung findet. Aber auch Erdnuss- oder Kakao­aroma lassen sich im Kohlensäureextraktor weit reiner gewinnen als im herkömmlichen Verfahren mit den Lösungsmitteln Propan oder Hexan.
Die Gratwanderung der Sensoriklabors zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstreben und dem Zuarbeiten für Fran­ken­stein-Produkte der Convenience-Industrie ist keine leichte. „Mirakulin“, eine Substanz, die Dürrschmid dem WIENER bei unserem Besuch der BOKU-Forschungsstätte reicht, stellt ein Beispiel dar. Die afrikanische Wunderbeere hat die Eigenschaft, mittels eines Proteins saure Speisen und Getränke in süße zu verwandeln. Was die ­einen als Zuckerersatz seit Jahrzehnten fordern – patentiert ­wurde der Beeren-Wirkstoff ­bereits 1969 –, sehen die anderen als verfälschenden Eingriff in Naturprodukte. „Noch ärger wirkt Gymnemasäure“, die aus einer indischen Schlingpflanze gewonnen wird: „Sie schaltet die Süß-Wahrnehmung aus – das ist schockierend“!

Entsprechend vorsichtig ist man mit dem Publizieren von Erkenntnissen. Klaus Dürrschmid hat die Erkenntnisse seiner Disziplin nun in ein Buch gepackt. Firmennamen, etwa seiner österreichischen Kunden aus der Süßwarenabteilung, wird man in „Zungenbekenntnisse“ vergeblich suchen. Dafür schildert das Sensorik-Kompendium ausführlich den Skramlik-Test. Er zeigt, wie aufgeschmissen unser Geschmackssinn ohne gleichzeitiges Riechen (für Kenner wie Dürrschmid: „retro-nasale“ Wahrnehmungen) ist. Die gute Nachricht: Neben Essig, Muschelsud und ­Zitronensaft nehmen wir auch Whisky bei zugehaltener oder verlegter Nase recht gut wahr. Gurkensaft hingegen praktisch überhaupt nicht. Aber wer braucht den schon?


Tampons und Schnüffler
Die verrückte Welt der Geschmacksforschung
Es hat lange gedauert, bis die Forschung einen so banalen Vorgang wie das Essen ernst nahm. Nun kann es interdisziplinär von Gastrophysik bis Experimentalpsychologie gar nicht schräg genug sein. Drei Stichworte aus der Sensorikwelt zeigen die Bandbreite des Wissenswerten.
Crispness – eine mittlerweile legendäre Studie aus dem Crossmodal-Perception-Labor der Uni Oxford untersuchte 2008 den „Sound“ von Kartoffelchips. Wenig überraschendes Ergebnis: Je knuspriger sie klangen, desto besser wurde auch der Geschmack bewertet. Abgesehen vom – manipulierten – Geräusch handelte es sich um die identen „Pringles“. Ähnliches bestätigte eine Untersuchung aus Leeds für das britische „BLT“-Sandwich (mit Speck, Salat und Tomate). Je knuspriger der Speck ist, desto frischer wird der gesamte Snack empfunden.

Sniffin’ Sticks – mit der nasalen, chemosensorischen Funktion wurde Thomas Hummel (Technische Universität Dresden) berühmt. Er erstellte eine Testbatterie, die aus Stiften besteht, die wie Edding-Marker aussehen, aber mit Aromen befüllt sind. Damit lassen sich Schwelle, Diskrimination und Identifikation messen. Also: Ab wann rieche ich einen Duft, kann ich ihn unterscheiden und korrekt benennen? Das Basis-Set mit zwölf Gerüchen gibt es auch für daheim: Um 172 Euro über https://smelltest.eu
Tampon – einen veritablen Shitstorm löste der britische Spitzenkoch Heston Blumenthal nach einem Besuch der Uni Wageningen (Holland) aus. Technisch durchaus richtig, im Wortlaut aber verbesserungsfähig hatte er einen Tampon zur Neutralisierung des Gaumens empfohlen. Ein neutraler bzw. gereinigter Gaumen nimmt neue Aromen viel besser wahr, ­hatte ihn der Physiologe Don Prince gelehrt. Bitte nicht im Restaurant nachmachen!


Loblied auf die Zunge
Ein Sensorik-Buch mit Gags und Gehalt
Was passiert, wenn man seine Gemüsesuppe mit einer – fabriksneuen! – Klobürste umrührt? Auf 240 Seiten widmet sich Klaus Dürrschmid den psychologischen Aspekten von Schokoladen in Gackwurzen-Form ebenso wie der sensorischen Grundaus­stattung des Menschen. Der Pluspunkt dieser „fröhlichen Wissenschaft“: Dürrschmid hält den Leser mit Kuriosa (Vietnamesen bevorzugen rosa Muffins, Österreicher halten sie für künstlich) bei der Stange und erklärt unsere Vorlieben und Aversionen bei Tisch auch.

Dass man sich an Bier und Kaffee erst im Lauf des Lebens herantastet, hat ebenso Gründe wie die Tatsache, dass Frauen den besseren Geruchssinn besitzen. Der Clou des Buches sind die – in Zungenrosa gehaltenen – Seiten mit den Experimenten für zuhause. Da wird die wissenschaftliche Sensorik sogar zum Partyspaß!

„Zungenbekenntnisse“ – Klaus Dürrschmid
Brandstätter Verlag, 240 Seiten, 22 Euro, brandstaetterverlag.com