AKUT

Lust auf Lust?

Roland Graf

Dauergeil, übergewichtig und versoffen: Das Verdammen des Hedonismus ist ebenso alt wie einfach. Im Dauerlockdown wurde dieses zutiefst menschliche Prinzip wiederentdeckt. Zeit wird’s!

Text: Roland Graf / Foto: Getty Images

In langweiligeren Magazinen als dem WIENER würde man an dieser Stelle betulich die Herkunft des altgriechischen Wortes „Hedoné“ erklären. Spätestens im zweiten Absatz träten dann Aristoteles und Epikur als Philosophen des Hedonismus in einem Nebel aus Fadgas auf. Wir geben Entwarnung: Die Gähn-Attacke ist abgewehrt! (Wir beweisen nur noch schnell, dass wir es auch könnten: ἡδονή. So!) Stattdessen stellen wir Ihnen lieber Gerold vor. Da versteht man besser, was Hedonismus ist. Und warum er zum gelungenen Leben (auch ­medizinisch!) unverzichtbar ist.

Gerold hatte wenig materielle Sorgen und war ein 50-jähriger Teddybär, den Frauen meist „süß“ fanden. Er kam also in ­ihren Beischlafmöglichkeitserwägungen grundsätzlich nicht vor. Das hatte Gerold spätestens mit 25 Jahren kapiert und richtete sein Leben danach ein. Keiner konnte sinnvoller über Bordeaux-Jahrgänge der 1980er-Jahre ­erzählen oder selbst mittelmäßigen Jazzern das Gefühl geben, einen Abend lang wie Stars geklungen zu haben. Ah ja: Er war Profibassist, habe ich vergessen, zu erwähnen. Als solcher ging sein Geld für Uhren von Tissot bis Rolex, Gitarren und Verstärker drauf sowie für die besagte Weinsammlung. Einmal leistete er sich sogar ein Rennrad.

25 Kilometer weit führte die erste Ausfahrt, dann erwiesen sich die eleganten, schmalen Reifen und Fußrasten als inkompa­tibel zu 130 Kilo Lebendgewicht und 1,90 Meter Größe. Egal, denn genau so etwas tun Hedonisten: Sie wollen wissen, was ihnen im Leben Spaß macht. Rennradfahren war es bei Gerold jedenfalls nicht! Doch er zeigte in seinem – leider zu kurzen – Leben, was ­Hedonismus nicht ist: eine Ersatzbefriedigung. Im Gegenteil; Das komfortable Einrichten im eigenen Leben ist die Essenz des Genussmenschen. Weil es die Antwort auf das unlösbare Rätsel jeder menschlichen Existenz darstellt. Nie werden wir wissen, was andere wirklich denken oder fühlen. Und die unsterbliche Liebe? Tja, auch die ist nur eine maximale Übereinstimmung auf Zeit. Aber halt auch keine restlose.

Let’s face it: Wir leben und sterben, philosophisch gesehen, immer für uns allein. Das kann man nun wahnsinnig tragisch ­sehen und im Winkerl weinen. Allerdings wäre das angesichts von Milliarden Menschen um uns, denen es genau so geht, ein wenig überheblich. Option B ­hingegen besteht darin, die beschränkte Zeit auf Erden (von der wir blöder Weise nur das Anfangsdatum kennen) als Experten für unser eigenes Vergnügen zu verbringen. Das schließt an­dere zwar nicht aus, bewertet werden sie aber auf stets auf der nach unten offenen Hedonismus-Skala: von Herzbinkerl bis Ungustl. Wer sich schneller für diesen Schubladenzugang zur Welt entscheidet, lebt früher entspannt. Mit sich. Und trotz der anderen.

Ironischer Weise liegt in der Tatsache, dass individueller Genuss etwas zutiefst Antisoziales ist, der Grund, warum die von allen erlebte Pandemie Hedonismus wieder attraktiv gemacht hat. Was bringt die Maßanzugsparade, wenn man nur Zoom-Meetings besucht? Mit wie vielen Modellen in der Garage kann man bei Ausreisebeschränkungen fortfahren? Und wem kann man Mauritius-Bilder senden, wenn man nicht zum Flughafen darf? Dass man mittlerweile selbst ­fettige Schnitzel und grantige Kellner zu vermissen glaubt, ist übrigens nur der Phantomschmerz des Hedonismus.

Die echten Lebensglücklektionen sind zwei: Der Hedonist sucht nicht in allem Lust, wie oft behauptet wird. Aber er findet sie in erstaunlich vielem. Und wenn es das erste selbst gebackene Brot sein sollte. Lektion zwei definiert „Homeschooling“ neu. Hedonismus ist nämlich auch erblich. In dem Sinne, dass ein vorgelebtes „jetzt gleich“ Kinder immer glücklicher machen wird als ein „jetzt nicht, vielleicht später (im Jenseits?)“.

Die versprochene Belohnung, der „Deferred Benefit“, die unmittelbar auf den Nimmerleinstag folgenden bessere Zeiten: Sie alle zählen zu den schmutzigen Tricks von Religionen, vor allem sind es aber pathologische Methoden. Sigmund Freud subsumierte das weiland unter dem „analen Charakter“. Dem kleinkindlichen Staunen über die bunte Welt, von der man am liebsten alles in den Mund stecken würde, folgt der Babydrill des Töpfchensitzens. Glückwunsch, der Beginn des Funktionierens als wertvolles Mitglied der Gesellschaft ist gemacht! Tief drinnen taugt uns das zwar leider nicht so. Und so wie das Kind kein Wurzerl freiwillig absondert, will dann auch der Erwachsene alles für sich behalten. Vor allem die Kontrolle.

Dieses Horten geht aber nur, wenn man nichts davon konsumiert. Ein Sammler ist insofern per definitionem kein Hedonist. Weil: Irgendwas fehlt halt doch immer. Selbst bei 2.000 „Dick Pics“ am Handy könnte ja noch irgendwo was prächtiges Gemächtiges abzulichten sein. Und auch der Besitz von 18 der Frühwerke von Neo Rauch sind halt nur „18 von x“. Was erst recht wieder magerlt und keineswegs Lust auslöst. Die lebenspraktische Zusammenfassung Freuds lautet daher: Wenn’s dir „oasch“ geht, solltest du kein analer Typ sein! Sondern sofort etwas ­Freude tanken. Der Instant-Kontrollverlust ist nämlich gar nicht jedem gegeben. Womit wir zur Anhedonie kommen, der dunklen Seite der Lebenslust. Die klinische Psycho­logie versteht darunter die chronische Unmöglichkeit, sich an Dingen zu erfreuen. So also heißt die österreichische Volkskrankheit korrekt! Psychopathologisch stellt das einen Bestandteil von Depressionen dar. Wer derlei Krankheitsbilder, die nicht selten mit Selbsttötung enden, bislang als bessere Migräne abtat, sei gewarnt: Es gibt Anzeichen, dass diese unüberwindliche Unlust am Leben vielleicht auch genetisch sein könnte.

Doch bevor der Lustpegel beim Lesen jetzt sinkt, nutzen wir diese düstere Erkenntnis, um den allerwichtigsten Aspekt ­eines hedonistischen Lebens ­festzuhalten: Es geht nicht um sabbernde Geilheit, ihr Spaßbremsen, sondern um die Minimierung des Schmerzes. Klar kann man das „Leiden“ am neuen SUV des Nachbarn heilen, indem man sich selbst einen noch größeren kauft. Man kann aber auch schlicht aufhören, sich davon provoziert zu fühlen! Das „Freisein von Affekten“, um nun kurz doch auf die alten Griechen zu kommen, ist quasi die Neutral-Stellung unseres Gefühlshaushalts. Findet man jetzt noch was, das einen beglückt, heißt es: Hedonismus ON! Ob Weichteile ablecken, Orchideen züchten oder Single Malts beschnüffeln, das ist dann die höchst private Angelegenheit.

Hier wäre noch eine gute Nachricht: Hedonismus hat ­definitionsgemäß gar nichts mit Reichtum zu tun! Wer mal gerne wieder die Bibel aufschlagen mag – Lukas 8, 14 wäre die Stelle. Dort werden die „Reichtümer“ nämlich explizit von den „Vergnügungen“ geschieden. Dass es eine Schnittmenge geben mag, ist unbestritten. Denn mancher Spaß ist eben nicht nur im Volksmund teuer. Liebt man den Geschmack von Trüffeln aber wirklich, beklagt man ihren Preis aber eher. Denn man sieht den Pilz als Lebensmittel. Schließlich ist man ja Hedonist! Das Blattgold-Steak für Franck Ribéry beim türkischen Koch „Salt Bae“ erfüllt diese Bedingung hingegen nicht. Es ist das, was Soziologen „symbolischen Konsum“ nennen. Und alle anderen sagen „dämlich“ dazu. Es gibt ausschließlich einen Kick, weil man etwas Besseres ist/isst.

Passt man da nicht auf, ist sie auch schon überschritten – die Grenze zum Fetisch. So etwas kennt der echte Genussmensch aber gar nicht. Fetische sind für ihn nur Fußfesseln, die den Sprung zum nächsten geilen Zeug hemmen. Der Hedonist will das Leben ganz auskosten. Weil er heute noch eines hat.