AKUT

1–10

Dirk Stermann

Die Aeronauten sind eine Schweizer Band, die vor vielen Jahren ein Lied geschrieben haben, das für mich oft schon wichtig war. Bei Turbulenzen im Flugzeug, beim Zahnarzt, wenn mir auf der Straße eine Horde von gewaltbereiten Querdenkern entgegenkommt:

„Ich bin gar nicht da, ich bin gar nicht hier. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, wenn ich will, kann ich gehn.“

Es ist eine einfache, naive Kindermelodie und der Text ist leicht zu merken. Natürlich weiß ich bei Turbulenzen, dass ich nicht einfach gehen kann, ich bin ja kein Fallschirmspringer, aber trotzdem machen die Zeilen Mut. Leider muss ich das Lied wirklich singen, zwar leise, aber ich bin mir sicher, dass mir schon der eine oder andere Fluggast wirklich einen Absturz gewünscht hat, weil nichts nerv­tötender ist, als ein leise singender Sitznachbar. Vielleicht hat derjenige aber auch begonnen, leise das Lied zu singen, so leise, dass ich es nicht hören konnte und auf mich bezogen.

Während der Pandemie, als es nicht mehr sicher war, dass wir nicht alle in Intensivstationen landen, habe ich das Lied auch gesungen. Und? Das Virus, bis auf die Delta-Variante, hielt es nicht mehr aus.

Dieses Lied ist wirklich tröstlich. Wenn Sie bei Hochzeiten eingeladen sind, die es ja auch schon wieder gibt, und die Reden so langweilig sind und der unvermeidliche Diavortrag mit Fotos der Braut aus der Kindheit noch vor Ihnen liegt, dann singen sie. Ich bin gar nicht da, ich bin gar nicht hier. Wenn ich will kann ich gehn. 1–10.

  1. Singen Sie: Wenn Ihre Partnerin sich darüber aufregt, dass Sie im Haushalt nicht genug tun.

2. Wenn Bundeskanzler Kurz spricht oder, vielleicht sogar lauter, wenn der Finanzminister auf Fragen nicht antwortet.

3. Wenn Ihnen ein Handwerker ausführlich erklärt, was genau er tun muß, obwohl Sie von Technik keine Ahnung haben und einfach nur wollen, dass der Scheiß wieder funktioniert.

4. Wenn Sie einen eingewachsenen Zehennagel haben und ihnen der Arzt vor der Begradigung des Nagelbettes eine lange Spritze in den dicken Zeh jagt.

5. Wenn Sie auf der Straße einen alten Schulfreund treffen, den Sie damals schon nicht mochten und der Ihnen aus seinem öden Leben erzählt, das noch öder geworden ist, als Sie damals schon vermutet haben.

6. Wenn Sie aus mir völlig unverständlichen Gründen eingewilligt haben, bei einem Dressurreitwettbewerb zuzuschauen.

7. Wenn Ihr Hausarzt zum wiederholten Mal vorschlägt, dass Sie gesünder leben sollten.

8. Wenn Sie im Regionalzug sitzen und der Zug für eine Strecke, die man eigentlich in 30 Minuten schaffen könnte, fünf Stunden braucht.

9. Wenn Sie zu Hause überfallen werden.

10. Wenn Sie zufällig die Aeronauten im Radio hören sollten. Singen Sie einfach mit.

Leider hilft das Lied nicht, wenn man verprügelt wird. Man wird dann verprügelt, egal, ob man singt oder nicht. Obwohl, vielleicht kennt der Prügelnde das Lied zufällig auch und sie singen gemeinsam, während sie verprügelt werden.

Man braucht kleine, leichte Hilfen im Leben und ich teile gerne mit Ihnen meine Helfer. Gegen die Flugangst hat mir einmal eine Frau in Zagreb einen kleinen, bunten, quietschenden Vogel geschenkt. Ich steckte ihn in meine Jacke und flog mit meinem Glücksbringer nach Skopje. Neben mir saß ein Imam mit einem weißen Turban. Den ganzen Flug über quietschte es aus meiner Jacke und der Imam schaute mich irritiert an. Ich nervte ihn, das war offensichtlich. Also zog ich den Vogel heraus und zeigte ihn dem Moslem. „Brings luck. I am afraid of flying.“

„Bullshit“, antwortete er. „It is just a colourful bird, made in China!“

„Na und?“, erwiderte ich. Als wären religiöse Menschen etwas Besseres als ich, nur weil ihre Reliquien nicht in China produziert wurden.

Ich quietschte mit dem Vogel die Kindermelodie. 1-10. Ich bin gar nicht da, ich bin gar nicht hier. Wenn ich will, kann ich gehen. Die Stewardess war uralt, das Flugzeug klein und der Luftwirbel stark. Dank Vogel und Aeronauten landeten wir unverletzt und ich zwinkerte dem Imam quietschend zu.


Dirk Stermann
kolumxniert seit ­Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich ­willkommen und ist erfolgreicher Autor.