AKUT

Heidi List Collage

Circle of Sex

Heidi List

Wien, 80er Jahre. Nur mehr drei Kurven, dann kommt die Haltestelle. Dann ist man am Bahnhof. Und dort ist die Trafik. Und heute ist doch Mittwoch. Und die Bravo kommt raus. Bzw. wir haben DAS Bravo gesagt. Es ist noch ein Exemplar da. So ein Glück. In der Schule sperrt man sich im Häusel ein und blättert schnell durch. Nena-Starschnitt, Nino de Angelo, A-HA, Karate Kid, Horoskop – ah, da sind wir schon. Dr. Sommer. Die Beratungs- und Aufklärungsseite. NEIN!! Diesmal nur Thema: „Darf man als Mädchen mit dem Petting anfangen?“ Nichts mit irgendwas Masturbation, Orgasmus Stellung und so. Muss man warten, vielleicht nächsten Mittwoch. Trotzdem, in der Klasse wird halt dann das Pettingthema besprochen, irgendwer zerrt ein Penthouse an vom grossen Bruder. Finden die Buben toll. Irgendwer erzählt, es heißt, es kursiere eine Ausgabe von „Ich bin so wild nach deinem Erbeermund“ in der Oberstufe. Von Klaus Kinski, diesem Brüllaffen. Da war man dann ganz gut bei der Sache, hört man. Die etwas reflektierteren von uns fanden ihn ekelhaft, vor allem, weil er angeblich auffällig unauffällig sexuell über seine Töchter schreibt. Aber he, da gibts angeblich eine Stelle, wo er mit seiner Geliebten zwei Tage nicht das Bett verlassen hat und am nächsten Tag mussten sie sich gegenseitig stützen. Das war schon vielversprechend, was prinzipiell das Erwachsenenleben betrifft. Man hat sich vorgenommen, ganz bestimmt sehr oft gestützt werden zu müssen.

Wien, einige Jahrzehnte später. Wieder Mittwoch, ist sitze bei einer Freundin im Wohnzimmer. Im Nebenzimmer wieder ein Teenager. Kopfhörer anscheinend auf, lautes Herumgegröhle, es wird irgendwas gezockt. „Ja, nein, das war cringe, ich meine, seinem Vater muss man einmal sagen, dass er den Verlauf löschen soll, dann poppen keine „Milfs aus deiner Gegend, die es heute noch besorgt brauchen“ auf. HAHAHA, ja der Wahnsinn. Nein, er hat den Verlauf selber gelöscht, bevor er ihn anspricht. Muss man ja schonen den Opi, sind wir froh, dass er sich noch fithält. HAHAHA.“ Ich mache grosse Augen. „Also Mädchen gegenüber ist er ganz normal vorsichtig und scheu“, sagt die Freundin. „Freut sich, wenn ihn eine einmal einlädt. Er lässt das alles langsam angehen, sagt er.“
Was ist in der Zwischenzeit passiert, dass heute die Youngsters abgeklärtest wohlwollend wegsehen, damit die Alten ihren verzwicktes Retro-Sexualleben beibehalten können? Ich sprach mit dem Jugendpsychologen meines Vertrauens, also den einzigen, den ich kenne und kann nun vermelden: Alles ist schon wieder anders. Die Jungen sind nicht so schuld- und komplexbeladen wie wir es waren, die aus den katholischen oder sonst wie genormten Familien gekrochen sind. Sie müssen auch nicht so übertreiben wie wir, wenn es darum geht, sich und der Welt zu beweisen, dass man frei und alles möglich ist. Ein Grund dafür ist, dass die Erde so schlecht beinander ist, das ist tatsächlich am wichtigsten für sie. Es ist eine Generation dahergekommen, die es über die hürdenfreien Umwege des Internets einigermaßen geschafft hat, sich sogar über Pornografie hinweg zu hanteln. Die sich sexuell nähern traut, ohne besondere Vorgaben. Mit dem Nebeneffekt, dass sie schon in den Teenagerbeziehungen sehr auf Treue setzt.

Sie stilisieren Sex nicht als den ultimativen Glücksbringer hoch – und haben so die Chance, ein Sexualleben zu entwickeln, das den einzelnen entspricht. Vor allem für Frauen ist weggefallen, dass man weniger wert ist, wenn man keinen Freund oder auch kein Sexualleben hat. Sie machen das gechillter als wir, Zumindest so lange sie nicht komplett verTikTokt sind, das geht manchmal aufs Körperbewusstsein.

Wohin wird das gehen? Werden die 14jährigen langjährige reife Beziehungen führen? Wo bleibt die Revolution, der Rock n Roll, wogegen lehnen sie sich überhaupt dann noch auf? Wir fragen dann die Urenkerl, was denn so an deren Elterngeneration cringe ist, sofern sie den altbackenen Ausdruck noch verstehen. Achso, und falls die Welt noch steht.


Heidi List
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache ­Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.