AKUT
Where is my Wiener???
Auf der Suche nach dem verlorenen Wiener.
Text: Neli Peycheva
Bis vor ein paar Jahren glaubte ich, dass die Gemütlichkeit als Konzept den Deutschen zugeteilt worden war, nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Entweder ist sie dermaßen ansteckend, dass sie sich bis nach Österreich hin ausgebreitet hat, galoppierend mit der Geschwindigkeit eines globalen Phänomens, oder sie war auch hierzulande schon immer gelebt und gehuldigt. Allerdings brauchte ich lange, bis ich in Worte fassen konnte, was genau mit dem heutigen Wiener nicht stimmt. Zugegeben, ein vages Vorgefühl auf irgendwas schwebte schon immer umher, ein Vorzeichen auf ein nicht ganz deutlich wahrzunehmendes Etwas, das sich wie ein Schatten abzeichnete, der bald in einen grauen Grat hinüberzog und für ein paar Atemzüge sein sonst so perfektes Erscheinungsbild ganz zu seinen Ungunsten betrübte: der Mangel am Adligen.
Immer öfter kam er mir vor als jemand, der innerlich litt – als ob ihm der Kern mit Gewalt herausgerissen wurde, und trotz aller Bemühungen, die Oberschicht blank zu polieren, glänzte er nur noch mit einem falschen, trügerischen Schein. Betrogen fühlte ich mich auch in meinen Erwartungen! Jedenfalls war seine Echtheit – die ich doch anfangs immer noch zu finden hoffte, schon von vornherein weg. Das wird wohl vielen nicht wohlbekommen, mich stimmt es auch nicht unbedingt froh, und Pauschalisierungen sind das Letzte, was ich, die vehemente Kämpferin gegen die Stereotypen, mag. Doch ich habe ein Problem, und ein Unglück kommt wie bekannt nur selten allein: Ich kann nicht lügen – jemand hätte es mir vielleicht gefälligst in der Kindheit beibringen können, hat es aber verabsäumt. Dieses unverzeihliche Versäumnis ist die Ursache, warum ich mir den Luxus erlaube, zu schreiben, was ich denke und zu beschreiben, wie ich die Welt wahrnehme – ein postgenetischer Defekt nämlich. Als solche bin ich auch oft unbequem, und der Wiener wusste seine Bequemlichkeit zu schätzen.
Wie man den Wiener am besten kennenlernen kann? Ganz einfach. Indem man nichts tut und sich ihm einfach stellt. Von da an sollte man nur die Fähigkeit besitzen, detailliert zu beobachten. Große Worte, gepaart mit Kleinbürgerlichem, Existenzängste hinter der Fassade des Dandys, Versprechen ohne Wert, die nie eingehalten werden, Handlungen, die, auch wenn an sich nicht stimmig, schlicht und einfach bequem sind. Und die Quelle all dessen – diese heilige Gemütlichkeit, die den Wiener fest in den Arm genommen hatte!
Die gute Nachricht ist, dass der Wiener nicht nachtragend ist – das behauptet er jedenfalls von sich selbst. Und tatsächlich! Mit verblüffender Leichtigkeit werden Statements gemacht, an die man sich am Tag darauf nicht mehr erinnern kann. Außerdem ist der Schmerzpegel bei ihm sehr niedrig, und überhaupt ist er sehr empfindlich – wenn er über ein Steinchen stolpert, fließen ihm die Tränen! „Wie er die Stolpersteinchen im Leben meistert?“, fragt ihr euch? Mit innerer Widerstandsfähigkeit, genannt Leugnen. Leiden ist für ihn ein Unwort, ich habe neulich gelesen, dass er sogar an die Gesellschaft für deutsche Sprache geschrieben haben und herzenszerreißend darum gebeten haben soll, „Leiden“ aus dem Wörterbuch zu streichen.
Wenn der Wiener von heute wirklich Angst hat – und Ängste hat er mehr als genug –, dann vor Frauen mit Hirn. Bedroht fühlt er sich, falls er ihnen begegnet, eingeengt in seinem Existenzwert, und folglich ist er ja auch allseits bemüht, diese unbequemen Wesen zu meiden, im besten Fall tut er so, als ob es sie gar nicht gäbe.
Dem Wiener kann ich eh schon vieles verzeihen: die inneren Ängste, die Zerrissenheit, die Feigheit, sogar das inkonsequente Handeln, die leeren Worte, sein Zuspätkommen, die Vergesslichkeit – alles Eigenschaften, die nicht unbedingt ein Grund zum Stolz sind, trotzdem würden sie ihn kaum von den Anderen unterscheiden. Das, was ich ihm nicht verzeihen kann, ist der Mangel an Großzügigkeit, denn dafür braucht man nichts – nur groß geschnitten im Herzensbereich zu sein.
Wenn ich mir ab und zu die Tagträumerei großzügig erlaube, taucht vor mir jene Gestalt auf, die Ende des 19. Jh. in den Wiener Kaffeehäusern erhitzt philosophiert und zu den großen Themen des Tages diskutiert hat – den Wiener Intellektuellen eben –, die den starken Willen zur Veränderung gehabt haben soll, weil sie ihren Kern noch nicht verloren hatte. In solchen Momenten denke ich an jene progressiven, mutigen Querdenker, denen es weder an Worten noch an Taten fehlte, wenn es darum ging, das Rad des Weltgeschehens in Bewegung zu setzen oder gar ein Teil davon zu werden. Heutzutage ist vielleicht noch immer ein Hauch vom damaligen Philosophieren zu spüren, allerdings bleibt der innere Antrieb total auf der Strecke: In Wirklichkeit tut der Wiener von heute so, als ob er das wäre, was die Welt von ihm verlangen würde, und in vieler Hinsicht wird diese Rolle professionell gespielt.
Was dem heutigen Wiener denn fehlt? Das Adlige. Das Großzügige. Das Feinfühlige. Das, was schon beim ersten Kontakt subtil wahrgenommen und an der Ausstrahlung eines Menschen abgelesen werden kann. Es ist da, oder eben nicht. Und wenn es da ist, sind alle Worte überflüssig. Überflüssig wären auch meine Zeilen hier gewesen. Ich vermisse jedenfalls jenen Wiener, dessen Lebensstil leidenschaftliche Polemik, Aufrichtigkeit und Mut zur Weltveränderung prägten. Werde ich ihn weitersuchen? Selbstverständlich! Werde ich ihn nach wie vor wachrütteln? Na, klar! Aus einem einzigen Grund: aus Liebe.
Dr. Neli Peycheva
hat Sprachwissenschaften studiert, leitet Sprachkurse und philosphiert gerne über ihre geheime Liebe namens Wien. Ihre gesammelten Werke finden sich unter www.nelisworld.com