AKUT

VERGEWALTIGUNG

Christian Jandrisits

,,Laß ihn doch. Er wird schon einen Grund haben, daß er sie drischt!“ – Reaktion eines Schaulustigen auf eine inszenierte Vergewaltigung – Das dynamische Duo Erich Reismann (Fotograf) und Manfred Sax (Journalist) berichtete im März 1989 für den WIENER, eine Zeitreise in Schwarz & Weiß, Teil 2:

WÜRDEN SIE DIESER FRAU HELFEN?
Im Ernstfall können Sie sicher sein: ein jeder ist sich selbst der Nächste. Das ist die Botschaft des neuen US-Films „Angeklagt“, in dem eine Frau öffentlich verge­waltigt wird, oh­ne daß ihr Hilfe widerfährt. Auch in Wien läßt die mitbürgerliche Anteilnahme zu wünschen übrig. Der WIENER inszenierte eine öffentliche Prü­gelszene als Test. Das Ergebnis war niederschmet­ternd: Kiebitze statt couragierten Helfern.

Fotos: Erich Reismann/Text: Manfred Sax – Eine Zeitreise in Schwarz & Weiß

Die Frau hat nichts Übles im Sinn. Will nur geschwind ein paar Illustrierte kaufen. Im Kiosk am Wiener Westbahnhof, untere Etage freitags um 15 Uhr 30. Viel Bewegung in der Halle.
Plötzlich stört ein Typ ihre Kreise. Unrasiert. Breite Schul­tern unter schmieriger Lederjacke. Nicht eben schwach auf der Brust.
Er macht sie an, zuerst anzüg­lich, dann derb, dann beleidigend. Wieso? Weil sie jung ist und in modischem Mini unter dem offe­nen Mantel unterwegs? Weil ihm fad ist? Sie weiß es nicht. Sie will es auch nicht wissen.
Sie will nichts wie weg, doch er läßt sie nicht. Sie dreht sich um, er hält sie am Mantel fest. Reißt ihn ihr vom Körper. Sie schreit gellend. Er packt sie, wirft sie zu Boden, kniet über ihr. Ein Handgemenge, minutenlang Hilfeschreie aus ihrem Mund. Die Rufe verhallen mit Echo.

… aus dem Archiv: VERGEWALTIGUNG/WIENER März 1989 – Text Manfred Sax/Fotos Erich Reismann, Andreas Hermann

Eine widerliche Szene. Zumindest für jeden halbwegs sensiblen Zeugen des Geschehens. Möglich, daß die junge Frau ohne blaues Auge davonkommt. Es muß aber nicht sein.

Im Film „Angeklagt“, in Amerika heiß diskutiert und die­ser Tage in Österreichs Kinos, bekommt eine von Jodie Foster verkörperte Serviererin die volle Dosis männlicher Aggression zu spüren. Erst gibt sie sich frei und wild. Dann wird sie zum Frei­wild gemacht. Sie wird verge­waltigt. In einem Beisel. Vor gaf­fenden Beiselgästen, die sich, wenn überhaupt, nur verbal in Szene setzen. Eine Rechtsanwäl­tin bringt diese Zeugen der Ge­walttat vor Gericht. Sie hätten einschreiten müssen, meint die Advokatin. Und Jodie Foster er­gänzt in einem Interview für die englische Tageszeitung Guardian: ,,Es sollte schwer sein, einer Vergewaltigung zuzusehen. Es sollte die Leute aufrütteln.“

Soweit der Film. Aber es ist nicht alles Hollywood, was zum Himmel schreit.

Es sind auch nicht nur Not­zucht, Nötigung zum Beischlaf, Zwang zur Unzucht oder Nötigung zur Unzucht, die einem das Recht geben von Vergewaltigung zu sprechen. Der brutale Angriff auf die Integrität der Frau ist gewalttätig genug. Doch wie steht es um die mitbürgerlichen Anteilnahme in Österreich, wenn einer Frau öffentlich männliche Übermacht widerfährt? Wie verhalten sich die Passanten am Wiener Westbahnhof, die in der oben angeführten Szene zu Zeugen der Attacke auf die junge Frau werden, an jenem Freitag um 15 Uhr 30? Der WIENER hat die Szene inszeniert. Zwei Jung­darsteller spielten sie durch. Die Polizei, von dem bevorstehendem Ereignis informiert, bezog diskret im Hintergrund Stellung. Für den Fall, daß eine aufgebrachte Menge unserem Aggressor die Leviten liest.

Im Ernstfall schert sich niemand um Sie

Als die junge Frau das erste mal schreit, stockt der Bewegungsfluß im Umkreis der Szene in der Bahnhofshalle. Passanten kommen näher, sehen zu und verharren. Während der An­greifer sie niederringt, schwillt die Zuseherschaft an. Ein „na hallo!“ hier, ein Kopfschütteln dort. Nach etwa zwei Minuten nähert ein junger Mann sich den beiden: ,,Sie geh’n ja auf eine Frau los“, protestiert er. ,,Na und! Kümmere dich um deinen eige­nen Dreck!“ schnauzt der Wüstling zurück. Der junge Mann ist verunsichert. Der An­greifer, Franz heißt er, traktiert die Frau erneut. Da nimmt sich ein etwa 45jähriger Zuseher ein Herz: ,,So was tut man nicht!“ schreit er. Doch ein Kiebitz kauft ihm die Schneid ab: ,,Laß ihn doch. Er wird schon einen Grund haben, daß er sie drischt!“
Ansonsten entsetztes Starren. Neugieriges Verharren. Lähmende Passivität. Nach einigen Minuten ist der Spuk vorbei. Franz läßt vom Opfer ab, geht gemächlich auf den Ausgang der Bahnhofshalle zu. Ungehindert. Nur von einem Murren aus der Passantenschaft begleitet: „Unerhört! Frechheit! Uns so was bei uns, am hellichten Tag!“ Die Menge löst sich auf. Die Frage bleibt: warum hat niemand der Frau geholfen? Blitzinterviews mit den Zeugen der Tat fördern zum Teil bizarre Antworten zuta­ge: ,,Weil ich zwei Bekannte zum Zug bringen mußte“, meint etwa ein Gemütsmann in den besten Jahren. Und: ,,Die Frau hätte ja zurückschlagen können“, ein Tourist. Der Geschäftsführer eines Restaurants am Ort erläutert
seinen fehlenden Tatendrang so:,,Der Mensch ist ein Herdentier. Nur wenn er selbst in Gefahr ist, wehrt er sich. Weil, wenn ich wem helfe, bin ich selber schuld, wenn mir was passiert.“ Den Vogel aber schießt der Kiebitz mit der Laß-ihn-doch-dreschen-Meldung ab: ,,Frauen sind zwar lieb und notwendig, aber ich helfe ihnen nur, solange sie mir helfen. Schließlich sind sie auch nicht immer so fair, wie wir sie wünschen.“
Unsere Frau Verena, die für die Szene das Opfer gemimt hat, ist schockiert: ,,Einer meinte, ich brauche nicht schreien, solange ich nicht geschlagen werde. Soll ich warten, bis er mir die Nase einschlägt?“
Neu war die Szene ihr nicht. Sie sei auch einmal einem Attentäter knapp entronnen. Mit 13 auf dem Weg zur Schule. Im Schweizer Garten, Nähe Südbahnhof. Ebenfalls vor Zeugen, die keinen Finger rührten. Durch den Schrei habe der Strolch den Griff gelockert, und sie konnte entwischen.
So weit, so schockierend. Im Ernstfall, so ein erstes Fazit, hilft dir niemand.

TRAUERSPIEL: Der Täter verläßt die Szene, ohne je gestört worden zu sein. NACHSPIEL: Erst eine Viertelstunde später beschimpft ein Passant den Täter, doch ein Kiebitz meint: „Laß ihn, er wird schon wissen, warum er es tut.“ WIENER März 1989


Die Empörung angesichts nackter Gewalt ist zwar da. Und es gibt bestimmt keinen der in der Haut des Opfers gesteckt hätte. Möglich, daß latente Bereitschaft vorlag, gemeinsam des Angreifers Mütchen zu kühlen. Aber wer will schon der erste sein? Eine Frage fehlender Zivilcourage ist der mangelnde Tatendrang der Bürger nicht, meint Hofrat Johann Nachtlberger von der Polizeidirektion Wien. Eher eine Frage fehlender Anteilnahme: „Es ist einem eigentlich egal. Man schaut nur hin, weil es interessant ist. Das ist ja das Erschreckende.“ Der Kriminologe Franz Csaszar spricht von einem Phänomen der anonymen Großstadtgesellschaft. Da wolle man nicht anecken im Lebensbereich anderer. Das habe mitunter extreme Konsequenzen. 1964 zum Beispiel wurde eine Frau namens Kitty Genovese in New York auf offener Straße eine halbe Stunde lang zu Tode gedolcht, ohne daß einer der mindestens 38 Zeugen eingegriffen hätte. In Sozialstrukturen, wo man die Nachbarn kennt, so Csaszar, könne das kaum passieren.
Also weg vom anonymen Westbahnhof. Kulissenwechsel. Nach Favoriten, wo das Wiener Herz noch am ehesten goldene Ränder hat. Zum Gemüsemarkt an der Fußgängerzone Favoritenstraße. Noch immer Großstadt zwar. Aber zumindest ist dort die Chance gegeben, daß die Menschen einander vom täglichen Erinkauf her vertraut sind. Die Inszenierung ,,Mann attackiert Frau. Wie verhalten sich die Passanten?“, findet noch einmal statt.

Diesmal stört Franz die ihm offiziell unbekannte Verena beim Obstkauf. Der Rest der Szene spielt sich ab wie gehabt. Eine alte Frau bleibt zuerst stehen. Aus nächster Nähe läßt sie sich kein Detail des Geschehens entgehen. Nach einer Minute ist der Schauplatz gut besucht. Die Reaktionen: ähnlich wie am Westbahnhof. Leises Tuscheln. Halblautes Murren. Große Neugier. Ein älterer Mann geht zu Franz: „Das ist aber nicht leiwand, was du da machst.“ – „Verputz dich“, knurrt Franz. Der Mann verputzt sich. Franz rauft weiter mit der am Boden liegenden Verena. Nach einer klei­nen, atemlosen Ewigkeit tritt ein junger Mann zwischen die bei­den. „Komm hör auf“, sagt er leise. Franz tritt ab. Der Retter hilft Verena auf die Beine. Eine Frau kommt dazu und will sie auf einen Kaffee einladen.
Ein großes Geplauder bricht los. Einer berichtet dem anderen, was der andere eventuell nicht mitbekommen hat. Der Retter meint, er habe nicht daran gedacht, Angst zu haben, „weil eh so viele Leute da waren“. Die „vielen Leute“ sind eher unschlüssig, „Immer wenn man die Polizei braucht, ist sie nicht da“, schimpft eine Dame. Ein nicht mehr ganz taufrischer Arbeiter sagt, daß er alles von Anfang an gesehen habe. Warum er dann nichts unternommen habe, wird er gefragt. „Wieso, was war denn?“ fragt er zurück. Ein Obst­standler, bestimmt kein Zwerg, aber die ganze Szene lang schweigsam, riskiert plötzlich die große Lippe: ,,Ich wollte ja schon einschreiten, wie er die junge Dame vor meinem Stand belä­stigt hat aber . . . Na, wenn das einer mit meiner Tochter macht, dem dreh ich den Hals um.“ Gott sei Dank war die Frau nur eine Fremde. Auf die Frage, warum er bei soviel Schneid die ganze Zeit hinter seiner Budel blieb, bleibt er die Antwort nicht schuldig: „Ich kann doch mein Geschäft nicht alleine lassen!“ Man muß sich eben Prioritäten setzen. Das Leben ist hart in Favoriten.
Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, scheint die Devise. Denn der „Retter von Favoriten“ war auch nur ein Retter von Franzens Gnaden. Zumindest sieht Franz das so.

SZENE IN FAVORITEN: Der Aufruhr ist groß, das das goldene Wienerherz läßt sich lange bitten, ehe ein junger Mann zaghaft dazwischentritt. Der Täter trabt gemächlich davon. Der Retter hilft der Frau auf die Beine. – Das Leben geht weiter!


Oder hätten Sie der Frau am Westbahnhof und in der Fuzo Fa­voritenstraße geholfen? Würden Sie einem oder einer Gruppe von Gewalttätern entgegentreten, die offensichtlich gar nichts vom ba­nalsten aller Grundsätze des Zu­sammenlebens halten: daß man keinem verpaßt, was man selbst nicht einstecken will? Alle zwei Minuten wird in den USA eine Frau vergewaltigt. Legt man die in einer Studie des Landeskrimi­nalamtes Wiesbaden entwickelte Dunkelziffer für Vergewaltigun­gen auf österreichische Verhält­nisse um, so macht hierzulande jede Stunde eine Frau diese er­niedrigendste aller Erfahrungen. Relativ zur Einwohnerzahl ist die Bilanz also ausgeglichen. Jede Stunde ist einer Frau vor allem dies zu wünschen: daß sie einen guten Selbstverteidigungskurs hinter sich hat. Denn im Ernstfall ist sie sich selbst die Nächste. ■