AKUT
Kallerful: Mehr als 240 Zeichen
Nunu Kaller reflektiert über ein Chaos gedruckter Natur. Mit gutem Grund und einer Frage als Anlass: Ist die WIENERIN nun tot oder doch nicht?
Puh, in der Medienbranche geht es gerade heiß her. Der Wochenblick wurde eingestellt, was ich zugegebenermaßen sehr gut find, die Wienerin auch, was ich sehr traurig find. Jetzt lebt die Wienerin aber doch, aber anders, aber beim gleichen Konzern weiter, was ich noch nicht so ganz einordnen kann. Onlinemedien, deren RedakteurInnen es an Recherchefähigkeit ordentlich mangeln lassen, bekommen siebenstellige Medienförderungen, während die Wiener Zeitung nach über 300 Jahren ihre tägliche Druckausgabe einstellen muss.
Geklagt über Österreichs Mediensituation wird seit Jahrzehnten, jetzt geht das große Sterben los, und alle wundern sich. Ist irgendwie wie mit der Klimakrise – seit Jahrzehnten wird gewarnt, und 2022 wunderten wir uns über 20 Grad zu Silvester. Nein! Doch! Oooh. BuchhändlerInnen, die normalerweise in den zwei Monaten vor Weihnachten durchschnittlich gut drei Viertel ihres Jahresumsatzes machen, wunderten sich über gewaltigen Verkaufsrückgang. Zeitschriften, die ich früher gerne las, gibt es inzwischen fast alle nicht mehr – oder nur noch online mit mehr Bildern als Text.
Doch warum ist das so, dass mir letztens sogar mein Stammtrafikant erklärte, er bietet jetzt nur noch Zigaretten und Lottoscheine an, den Zeitschriftenverkauf stellt er ein, rechnet sich nicht? Da muss ich mich leider auch an der eigenen Nase nehmen. Während ich noch vor zehn Jahren liebend gern Freitagnachmittag in die Trafik wanderte und mir mindestens zwei Zeitschriften mitnahm, um sie zuhause Samstagvormittag entspannt zu vergenusszweigeln, gönne ich mir diese Momente kaum noch. Die abonnierte Wochenzeitung wandert jedes zweite Mal direkt ins Altpapier, hin und wieder ein WIENER reicht mir vollends (aber der muss sein!). Dabei lese ich gerne, viel und gefühlt ständig, und bei langen Geschichten in schönen, haptisch angenehm anzugreifenden Zeitschriften entspannt mein Hirn weitaus besser als beim Gescrolle am Handy. Warum ist das eigentlich so? Das fragte ich auch im Freundeskreis.
Eine der Antworten traf ins Schwarze. Freund M. sagte schulterzuckend: „Bitte wie soll ich einen dreiseitigen Text auch nur irgendwie konzentriert lesen, wenn ich dabei hunderte spannende Tweets verpassen könnt?“ Es stimmt: Unsere kollektive Konzentrationsspanne ist zusammengeschrumpft auf 240 Zeichen, auf 10 Sekunden Tiktok-Video, auf Goldfischniveau. Wobei, im Durchschnitt haben Goldfische eine Aufmerksamkeitsspanne von 9 Sekunden, bei Menschen liegt sie inzwischen bei nur noch acht. Irgendwann regieren die uns und dann geigens im U4.
Ich will das nicht. Konzentration kann man wieder lernen. Ich will lange Texte lesen. Und ich will sie auch schreiben. So wie diesen hier. Denn nach dem Ende der Wienerin habe ich die große Freude, im Wiener meine Kolumne weiterzuführen. Macht euch gefasst auf lange Sätze, ausführliche Erläuterungen, viele Adjektive und … keine Tweets. Versprochen.