AKUT

Ukrainekrieg: Clickbaiting zum Jahrestag

Christian Jandrisits

Liveticker feiern Wiederauferstehung, TV-Dokumentationen zum Ukrainekrieg laufen in Dauerschleife, so ziemlich jedes Medienstück findet irgendeinen Bezug zum täglichen Sterben zwischen Donezk und Lwiw. Auf allen Kanälen wird der 24 Februar 2023, also der erste Jahrestag der Ausweitung der russischen Angriffe auf das gesamte Gebiet der Ukraine, zelebriert und abgefeiert, als wären heuer OSCAR-Verleihung, Helloween und Bundespräsidentschaftswahlkampfverschiebung am selben Tag. Dient das alles wirklich nur der Information? Oder geht es doch auch um die schärfste Schlagzeile und den reisserischsten Clickbait?

von Franz J. Sauer

Ein Jahr ist es nun also her, dass Russlands Präsident Putin versucht hat, in einem Handstreich die gesamte Ukraine einzunehmen und so eine Art von Sowjet-Status rund um Mütterchen Russland wiederherzustellen. Damit setzte ein Medienfeuerwerk auf allen Kanälen ein, wie es die Informationswelt selten zuvor gehört oder gesehen hatte. Kein Online-Newsmedium kam mehr ohne Lifeticker aus, Sondersendungen wurden Standardprogramm in den ZiB-Studios. Und weil der Ober-Kremlin auch recht schnell die Drohung parat hatte, „notfalls“ auch sein Nuklearwaffen-Arsenal zum Einsatz zu bringen, feierte ein altes Superwort, dessen Nennung in Medienheadlines seit bald 80 Jahren für erhöhte Schlagzahlen sorgt, seine frostige Auferstehung: Der Atomkrieg. Stets garniert mit einem feurigen Pilzfoto.

Clickbait! Das war und ist ein Problem in der Debatte über die russische Invasion. Die Medien erregen Ihre Aufmerksamkeit, indem sie von „Eskalation!“ schreiben. Ganz zu schweigen von „atomaren Drohungen!“. Und „Atomkrieg!“. Die russischen Propagandisten nutzen das mit ihren Verweisen auf Atomwaffen geschickt aus. Was eigentlich eine nüchterne Diskussion sein sollte, wird leider mehr geprägt von einem Zählen von Dollars als einem Abwägen von Risiken.“ schreibt Timothy Snyder, Professor für osteuropäische Geschichte an der Yale University und Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen in seinem lesenswerten Blogpost „Nuclear war! Why it isn’t happening„, der am 22.2., dem Jahrestag übrigens von jenem Tag, an dem Putin die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken offiziell anerkannte, vom Standard als „Kommentar der anderen“ übersetzt wurde. Und stellt klar, dass damit exakt dem teuflischen Treiben der russischen Propagandisten Rechnung getragen wird, die mit den atomaren Drohungen ihres Präsidenten bewußt Angst schüren und damit all jene Kräfte stärken wollen, die es lieber heute als morgen sähen, wie die Ukraine Russland den Donbas und die Krim „schenkt“, damit dort endlich Ruhe einkehrt (was ja schließlich auch dann kaum der Fall wäre, Stichwort „Guerillakrieg“).

kawumms …

Medium A richtet also einen Liveticker zum Kriegsgeschehen ein. Demzufolge müssen die Medien B, C und D bis H auf ihren Online-Portalen schnell mitziehen. Die Meldungen, die es zu transportieren gilt, rattern allerdings zumeist über die selben Agenturen wie Reuters, AP oder dpa ein, und das überall wortgleich. Der Liveticker-Redakteur, von seinem Online-Chef gern daran erinnert, dass nur der Schnellste im Netz gewinnt, oder aber der mit dem blutrünstigsten Intro, hat aber eben nur die Headline als Gestaltungsspielraum für das Rennen um die meisten Klicks. Ob da dann alles auch wirklich so gestimmt hat in der schnell abgeschossenen Meldung, oder ob da ein „unbestätigten Berichten zufolge“ oder ähnlich schwummriges dringestanden hatte, bleibt nebensächlich. Was des öfteren dazu führt, dass man Meldungen, die man zuvor getickert hatte, nachher relativieren muss. Was aber wiederum nicht alle lesen, die zuvor die andere Meldung gelesen hatten. Und so weiter.

Krieg und Propaganda

Propaganda gehört zum Krieg wie Blut, Elend und Lebensverlust. Und dass der russische Befehlsapparat auf dem Feld derselben gut geübt ist, haben wir die letzten Jahre über von unzähligen Meldungen über große wie kleine „Russische Hackerangriffe“ gelernt. Ebenfalls auf der Hand liegt, dass der Kreml stets seine eigene Version der Geschehnisse (Nazi-Regierung in Kiew, der Westen versucht, Russland zu zerstören, Genozid an den Russen in Donbass, die bösen USA, die armen Russen, die netten Chinesen und so weiter …) in größtmöglicher Lautstärke hinausposaunt. Fraglich ist bloß, warum man sich im Westen derart damit beeilte, „Feindsender“ wie RT und Konsorten abzudrehen – ist es im 21. Jahrhundert dem Medienkonsumenten in der freien Welt nicht zuzutrauen, sich selbst sein Bild aus allen zur Verfügung stehenden Medienquellen zurecht zu zimmern?

Medium A richtet also einen Liveticker zum Kriegsgeschehen ein. Demzufolge müssen die Medien B, C und D bis H auf ihren Online-Portalen schnell mitziehen.

Stets empört wird auch verneint, dass es nicht nur jenseits des neuen, Eisernen Vorhanges so etwas wie Propaganda gibt. Klar ist: Auch die Ukraine nutzt (Des-)Information als legitimes Mittel der Kriegsführung, was im Westen nur ungern und kleinlaut eingeräumt wird. Und auch die unentwegten Versuche des ukrainischen Präsidenten Selensky, durch Falschmeldungen oder zumindest unbestätigte Berichte einen Eintritt der NATO in die Kampfhandlungen zu provozieren (aus seiner Sicht betrachtet übrigens völlig verständlicherweise), bleiben auf Seiten der „Verbündeten“ lautstark unkommentiert.

Panzerlieferung als Medienereignis

Wenn dann schließlich Panzerlieferungen, beziehungsweise die Abmachung derer, zu Medienereignissen werden, in deren Rahmen grausige Details wie die Schlag- oder Vernichtungskraft der nämlichen Gerätschaften detailiert beschrieben werden, allerdings nicht im Nerd-Programm von DMAX um drei Uhr früh, sondern mitten im öffentlich-rechtlichen Nachrichtenprogramm, würde ein Koma-Patient, der nach einem Unfall im Jahr 2018 nun langsam wieder zu Bewußtsein kommt, kaum seinen Sinnen trauen. Und vielleicht auch ganz schnell wieder zurück ins Koma wollen.

Fraglich ist weiters, warum sich einer wie Putin überhaupt noch einen Geheimdienst leisten sollte (ausser aus höchst privaten, nostalgischen Gefühlen), wenn er heutzutage sowieso aus dutzenden Livetickern erfährt, wann welcher Panzer in welchem Wartungszustand über welchen Schienenstrang ins Kriegsgebiet geliefert wird …

Lifeticker zum Jahrestag

Nun also der Jahrestag. Mit wiederauferstandenen Lifetickern (die meisten Medien waren von dieser Meldungsautobahn wieder abgekommen, als absehbar wurde, dass wir es mit einer längerwährenden Auseinandersetzung zu tun bekommen), Sondersendungen sonder Zahl nebst unzähliger Ankündigungs-Spots derselben, sowie Sonderheften von großen Tageszeitungen und Spezial-Podcasts der wichtigsten 20.000 Meinungsmacher und Kriegsexperten deutscher Zunge. Es wird mit lautestem Getöse ein widerwärtiges Jubiläum „begangen“, bei dem es wahrlich nichts zu feiern gibt. Der einzig berichtenswerte Beitrag wäre meiner Meinung nach ein sofortiger Waffenstillstand, unvorstellbar, ich weiß, aber man kann ja noch träumen. Und falls sich die Dinge richtung endgültiger Eskalation bewegen, dann wird man anderswo davon erfahren, als auf der bevorzugten Medienseite oder in deren Liveticker. Das dann dafür ziemlich körperlich.