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Thomas Bernhard, sind Sie debil?

Christian Jandrisits

An jedem 12. Februar fahre ich zum Grinzinger Friedhof hinaus und gehe an das Grab von Thomas Bernhard. Es ist sein Todestag.

Mein großer Held, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren, dessen „Auslöschung“ ich schon mit 15 verschlungen hatte, starb 1989 an Morbus Boeck, einer entzündlichen Erkrankung, die ihn Zeit seines Lebens quälte, Lunge und Herz befallen hatte. Er wurde nur 58. Sein Grab ist schlicht, ohne Umrandung, mit Efeu bewachsen, darüber ein schwarz-goldenes Barockkreuz. Vier Tage nach seinem Tod wurde der Sarg schnell und heimlich in die Erde gelassen. Der Bernhard wollte kein Tamtam um seine Leich, keine verlogenen Reden und schon gar kein Ehrengrab am Zentralfriedhof.

Kurt Molzer am Grab von Thomas Bernhard …


Neulich war ich wieder da. Ich sagte „Grüß Gott, Herr Bernhard“. Wie jedes Mal und wie damals im Herbst 1988, als ich ihn an einem Vormittag an der Straßenbahnhaltestelle gegenüber der Staatsoper ansprach. (Ich war 20. Heute bin ich fast so alt wie Bernhard zum Zeitpunkt seines Todes.) Wir, mein Vater und ich, erwarteten ihn dort. Vater, von Beruf Fotograf, hatte seine Kamera um die Schulter. Mehrere Tage hintereinander standen wir da und hofften, dass er aussteigen würde aus dem 38er. Wir wussten: Wenn der hauptsächlich in Oberösterreich lebende, unnahbare Provokateur in Wien weilte, fuhr er fast täglich mit der Bim vom 19. Bezirk zur Oper. (In Döbling gehörte ihm die Wohnung seines 1984 verstorbenen „Lebensmenschen“ Hedwig Stavianicek, die mit ihrem Mann übrigens im gleichen Grab liegt). Von der Oper ging er dann zu Fuß ins „Bräunerhof“, sein Stammkaffeehaus.


Ich dachte: Ein Interview mit Thomas Bernhard, das wär’s! Viele dachten das. Am Burgtheater sollte in zwei Wochen sein Stück „Heldenplatz“ aufgeführt werden, ein grandioser Hassausbruch gegen das eigene Land. Die „Wochenpresse“ und die „Kronen Zeitung“ veröffentlichten schon vor der Premiere Textpassagen. Da hieß es zum Beispiel: „Der Judenhass ist die reinste, die absolut unverfälschte Natur des Österreichers.“ Oder: „Österreich selbst ist nichts als eine Bühne, auf der alles verlottert und verkommen ist, eine in sich selber verhasste Statisterie von sechseinhalb Millionen Alleingelassenen, sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige, die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien.“ Der größte Theaterskandal der Zweiten Republik war perfekt. Es gab (erfolglose) Bemühungen seitens der Politik, das Stück vom Spielplan abzusetzen (!). Es gab Demonstrationen und Gegendemonstrationen. Thomas Bernhard, der „Nestbeschmutzer“, war das große Thema jener Tage. Na klar wollten sie ihn alle interviewen! Nur: Thomas Bernhard gab so gut wie keine Interviews, denn er konnte Journalisten auf den Tod nicht ausstehen. Bei mir machte er eine der ganz wenigen Ausnahmen. Mit mir sprach er. Es war das letzte, das allerletzte Interview, dem er zustimmte. Wenige Monate später war er tot.


Da stand er dann also plötzlich und tatsächlich leibhaftig vor uns, der Bernhard, dem 38er entstiegen! Ziemlich mager schon, in Hemd und Tweedsakko, wie Ende sechzig sah er aus, zehn Jahre älter. Ich machte einen Schritt auf ihn zu: „Grüß Gott, Herr Bernhard! Verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit, meine Name ist Kurt Molzer, ich bin Journalist, schreibe für die BUNTE und habe vergeblich versucht, über Ihren Verlag Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.“ Er ging einfach weiter und sagte: „Lassen Sie mich in Ruhe.“ Aber ich ließ mich nicht abwimmeln, und als wir durch die Opernpassage zur Kärntner Straße gingen, blieb er auf einmal stehen und sah mir in die Augen: „Na gut, fragen Sie mich, ich habe als junger Reporter auch anderen Leuten mit dämlichen Fragen ihre Zeit gestohlen, fragen Sie mich ruhig.“

In dem Moment dachte ich nur: Jetzt werd ich berühmt! Ich sprach also mit ihm über die ganze Aufregung, die wegen seines Stückes in Österreich herrschte, und irgendwann kam die Frage, auf die ich mich am meisten gefreut hatte:

„Herr Bernhard, sind Sie debil? Sie bezeichnen die Österreicher als ein Volk von sechseinhalb Millionen Debilen. Da gehören Sie doch auch dazu.“

Damit hatte er nicht gerechnet. Er stutzte erst. Dann aber lachte er und antwortete: „Natürlich bin ich debil. Nur der Herrgott ist nicht debil. Weil den gibt’s ja nicht.“ Mein Vater machte die ganze Zeit Fotos von uns beiden. Das störte Bernhard überhaupt nicht. „Sie haben aber einen jungen Vater, der könnte ja ihr älterer Bruder sein“, meinte er. Im „Bräunerhof“ saßen wir schließlich mit ihm an einem Tisch und redeten und redeten und redeten. Irgendwann sagte er: „Wenn Sie wollen, können wir bei mir in Döbling weiterplaudern.“

Unglaublich! Homestory in BUNTE mit Thomas Bernhard! Thomas Bernhard in der Küche beim Teekochen. Thomas Bernhard auf der Wohnzimmercouch vorm Fernseher. Thomas Bernhard sinnierend über seiner Schreibmaschine. Thomas Bernhard in Thomas Bernhard blätternd, vor dem Bücherregal. Thomas Bernhard mit der Nagelfeile vor dem Badezimmerspiegel. Thomas Bernhard beim Vollstopfen der Waschmaschine. Aber jetzt kommt’s! Denn was sag ich Volltrottel darauf: „Herr Bernhard, das ist ganz lieb von Ihnen, aber Sie haben mir jetzt eh schon so viel erzählt, ich muss nämlich gleich in die Redaktion, damit wir das Interview noch in die aktuelle Ausgabe kriegen.“ Worauf der Bernhard nur sagte: „Na, wenn Sie meinen.“

Ich bereue das bis heute.

Thomas Bernhard und Kurt Molzer im Gespräch …


Neben seinem Grab steht ein Baum. Ich setzte mich hin, lehnte mich an den Stamm und fing an zu reden: „Herr Bernhard, ich war wieder zu Hause bei Ihnen am Bauernhof in Ohlsdorf. Alles immer noch so, wie Sie’s hinterlassen haben. Auch die Flasche Cinzano in dem Getränkeschrank – ungeöffnet. Wieder hat sie mich angelacht, und wie gern hätte ich zugelangt und mir einen Americano oder einen Negroni Sbagliato gemixt. Aber die Frau Fabjan (Ehefrau von Bernhards Halbbruder, Anm. d. Red.) hat gut aufgepasst, dass ich nix Verbotenes mach. In einem unbeobachteten Moment, wie die Frau Fabjan in der Küche war, ist es mir aber geglückt, kurz in Ihren grünen Lodenumhang zu schlüpfen. Der hängt seit eh und je am gleichen Kleiderhaken in dem Vorraum. Das war ein Gefühl, ich sag’s Ihnen! Ich hab mich darin selbst umarmt und den Stoff gespürt und mir vorgestellt, dass Sie den getragen haben. Später bin ich zu einem der südseitigen Fenster gegangen. Ich hab mich hingestellt und lang hinausgeschaut und mir wieder einmal gedacht, was für ein herrlicher Narr Sie doch auch waren! Zwar haben Sie sich zum Kauf dieses Vierkanthofs aus dem 14. Jahrhundert entschieden, beschaulicher geht’s ja schon gar nimmer. Aber man sieht halt auf die Westautobahn! Ich weiß schon, Sie haben mir damals im ‚Bräunerhof‘ gesagt, es sei Ihnen ganz wichtig, jederzeit und schnell die Flucht nach Wien oder in die andere Richtung antreten zu können, wenn Ihnen in Ohlsdorf die niedrige Decke auf den Kopf fällt. Trotzdem, dieser Blick auf die A1, immer wieder zum Abgewöhnen! Anschließend hab ich mich an den Küchentisch gesetzt und war dort lang in Gedanken versunken.“

„Die Leute gehen am Wochenende, so wie sie früher Affen schauen gegangen sind, Dichter schauen. Das ist günstiger. Sie fahren nach Ohlsdorf und umstellen mein Haus. Ich schaue dann wie ein Sträfling oder wie ein Verrückter hinterm Vorhang vor.“

Thomas Bernhard

Dabei sind mir die Worte eingefallen, die Sie über diesen Ort einmal geschrieben haben: „Weil ich so blöd war, die Adresse bekannt zu geben, kann ich jetzt in Ohlsdorf nicht mehr leben. Leute sitzen dort auf der Mauer. Schon in der Früh, wenn ich zum Tor hinausgehe, sitzen sie dort. Die Leute gehen am Wochenende, so wie sie früher Affen schauen gegangen sind, Dichter schauen. Das ist günstiger. Sie fahren nach Ohlsdorf und umstellen mein Haus. Ich schaue dann wie ein Sträfling oder wie ein Verrückter hinterm Vorhang vor. Unerträglich.‘ Ja, unerträglich, lieber Thomas Bernhard, aber auch ziemlich lustig diese Vorstellung.

Jetzt liegen Sie da unter der Erde, viele Jahre schon. Es ist Februar und kalt. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Totsein im Winter graut mir. Ich denk mir immer, ich weiß nicht warum und es ist ja hoffentlich auch ein Blödsinn: Die Toten, bis auf die Knochen entblößt, müssen schrecklich frieren. Wahrscheinlich lass ich mich verbrennen, meiner Asche ist bestimmt nicht kalt. Ich hoffe sehr, Ihnen ist jetzt auch nicht kalt.

Dass ich längst geschieden bin, habe ich Ihnen schon gesagt, nicht? Sie haben von der Ehe ja nie viel gehalten. Durch die Kirchentür geht man hinein und durch die Bordelltür hinaus. So haben Sie’s geschrieben. Wissen Sie was, Herr Bernhard, ich hab eine Zeitlang geglaubt, Sie hätten mir das Interview nur gegeben, weil ich Ihnen gefallen hab. Und weil sie mich ja auch in Ihre Döblinger Wohnung einladen wollten, hat mich dies in meiner Annahme bestärkt. Sie haben ja, wie man weiß, nie eine Frau gehabt. Wenn ich mit Leuten über unsere Begegnung gesprochen habe, hat’s oft geheißen: ‚Der Bernhard war bestimmt schwul. Irgendwas musste er ja sein.‘ Das glaub ich jetzt nicht mehr.

Kürzlich hab ich das Buch Ihres Halbbruders Peter Fabjan gelesen: ‚Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard‘. Darin heißt es: ‚Thomas Bernhard war schlicht asexuell.‘ Damit ist wohl alles gesagt. Obwohl ich mir sowas nur schwer vorstellen kann. Was genau heißt asexuell? Bedeutet es, dass der Asexuelle nie geil ist? Gibt es das überhaupt? Oder hat er manchmal doch Lust und macht es dann aber nur mit sich selbst? Ich gehe davon aus, dass sie mich nicht verführen wollten, es war ja schließlich auch mein Vater dabei, der hätte Ihnen die Hölle heiß gemacht!

Obwohl es natürlich eine sensationelle Story gewesen wäre: ‚ICH WAR DER GELIEBTE VON THOMAS BERNHARD‘. Damit hätte ich ein Vermögen verdient. Nein, hören wir auf damit, so eine Hure bin ich auch wieder nicht, da halte ich’s mit Ödön von Horvath: „Es gibt nichts Entsetzlicheres als eine schreibende Hur. Ich geh nicht mehr auf den Strich.“

Ach, Herr Bernhard, ich bin so unsäglich traurig, dass Sie schon so lange tot sind, ich vermisse Sie so schrecklich! Ihre Bücher, so wunderbar deprimierend und so wunderbar humorvoll. Nur ganz wenige Schriftsteller bringen mich so zum Lachen wie Sie. Ich hätte gern noch so viel mehr von Ihnen gelesen. Puh, kalt ist mir, ich muss jetzt langsam gehen. Vielleicht schau ich noch auf einen Sprung am Grab vom Heimito von Doderer vorbei, der liegt ja auch hier, den mag ich auch sehr gern, Ihr Antipode sozusagen, der hat’s ja mit den Weibern gehabt, hui, mit den fetten bevorzugt, denen er kräftig aufn Arsch hauen konnte, naja, jedem das Seine. Also: Auf Wiedersehen, Herr Bernhard, bis zum nächsten Jahr! Ich werde jetzt nach Hause gehen und das alles aufschreiben und dem WIENER schicken. Und das 35 Jahre alte Foto von uns beiden schick ich auch dazu, das gibt eine hübsche Geschichte.“

Kurt Molzer
ist eine der heißesten Aktien unter den deutschsprachigen Journalisten. Er war Chefreporter bei „Bild“ und „Bunte“, Chefredakteur von „Pent­house“ und ist auch den Lesern von „RAMP“ kein Unbekannter. Für den WIENER lässt der gebürtige und nun auch wieder hier lebende und arbeitende Buchautor seine Hochzeiten als „GQ“-­Kolumnist wieder aufleben. Allerdings in leicht veränderter Form.