AKUT

POTZBLITZ

Franz J. Sauer

So oft wie diesen Sommer hat es über Österreich noch nie geblitzt. Mehr als 20 Menschen starben allein in den letzten Monaten den Blitztod. Doch die Naturwissenschaft konnte noch nicht alle möglichen Naturspektakel klären. (Ausgabe WIENER August 1983)

von Jutta Kohut

„Jeder hat Angst vor Atombomben. Dabei sollten sich die Leute besser vor Gewittern fürchten.“ Carl Belcredi, Wegbereiter neuer Formen der Wetterberichterstattung im ORF, kennt als Hobbypilot Gewitterwolken auch von innen: „Wenn man da reinfliegt, wird es zuerst ganz schwarz, dann senfgelb und dazu hagelt es faustgroße Körner“. Höllisch eben. Die laut Belcredi „spektakulärste Wettererscheinung außer Tornados kostete im heurigen Jahr bisher fast zwei Dutzend Österreichern das Leben. Höhepunkt der Todesserie war die Katastrophe von Neckenmarkt im Burgenland, als bei einem Internationalen Wandertag neun Teilnehmer starben. Sie hatten vor dem aufziehenden Gewitter Schutz unter einem zwischen Bäumen gespannten Zeltdach gesucht, in das prompt der Blitz einschlug. Seit diesem Pfingstmontag gab es fast jede Woche weitere Tote. Ein Skifahrer starb auf dem Kitzsteinhorn, als der Blitz in die Seilbahnanlage einschlug und bis zu den Schleppvorrichtungen übersprang. Eine Fünfzehnjährige wurde an einem Badesee tödlich getroffen, als sie sich eben in die nur wenige Schritte entfernte Imbissstube retten wollte. Im Burgenland wurde eine Frau beim Telefonieren schwer verletzt: Durch Blitzschlag waren sowohl die Telefonleitung als auch sämtliche Elektroinstallationen im Haus zerstört worden. Bauernhöfe, Scheunen und Kirchtürme standen in Flammen, Schweine und Vieh mussten notgeschlachtet werden. Auch ein niederösterreichisches Storchennest blieb nicht verschont. Zur großen Freude der Boulevardpresse konnte allerdings die Storchenmutter mit ihren drei Jungen im letzten Moment gerettet werden.

„Wetter ist,“ bringt ORF-Mann Belcredi Wolken, Wind und Regen auf eine knappe Formel. Auch für Universitätsprofessor Konrad Cehak vom Institut für Meteorologie und Geodynamik auf der Hohen Warte in Wien sind die Naturgewalten durchaus nichts Rätselhaftes.

Was ist ein Blitz?

Für ein ordentliches Gewitter nimmt man zunächst einmal eine Wolke. Und zwar nach Möglichkeit nicht irgendeine, sondern eine Kumulusnimbuswolke mit hoher Vertikalgeschwindigkeit. Segeln Wolken normalerweise mit Werten von durchschnittlich 20 Zentimetern pro Sekunde eher gemächlich dahin, so kann eine werdende Gewitterwolke schon auf 20 Meter in der Sekunde kommen. Durch die Aufwärtsbewegung – es können Höhen bis zu 20 km über dem Erdboden erreicht werden – gefrieren die Wassertropfen zu Eiskristallen, deren Reibung die Wolken elektrisch auflädt. Am Dach und Boden der Wolke entstehen zwei Ladungszentren, das obere meist positiv, das untere negativ. Durch die hohe Geschwindigkeit kommt es zu einem kräftigen Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ladungen, wobei bei Spannungen von 1 Million Volt pro Meter schließlich der Funke zwischen Plus- und Minusladung überspringt. Findet der Ladungsausgleich zwischen Wolke und Erde statt, bedarf es eines elektrischen Feldes zwischen Wolke und positiven Ladungen auf der Erdoberfläche. Aus dem negativen Wolkenboden entsteht ein sogenannter „Luftschlauch“ von mehreren Metern Durchmesser mit einem sehr gut leitenden Blitzkanal im Inneren. Ihm wächst auf den letzten 50 bis 100 Metern von der Erdoberfläche weg, zumeist von einem erhöhten Punkt aus, ein ähnlicher Kanal, die „Fangladung“, entgegen. Beim Zusammentreffen beider Kanäle kommt es zum Kurzschluss, die glühende Luft dehnt sich explosionsartig aus und erzeugt eine Druckwelle, die sich als „Donner“ fortsetzt.

Warum Österreich gerade heuer von verhältnismäßig vielen Wärmegewittern heimgesucht wird, liegt für Professor Cehak klar auf der Hand. Labile Luftschichten, Kaltfronteinschübe und hohe Luftfeuchtigkeit sind nun einmal ideale Voraussetzungen für sommerliche „Son-et-lumière“-Spiele, wie wir sie derzeit fürchten oder genießen dürfen – je nach Angstschwelle eben. Die Geheimnisse des Blitzes sind freilich noch nicht alle gelüftet, selbst professionelle Wetterfrösche sind den letzten Geheimnissen um die elektrische Aufladung von Wolken erst auf der Spur. Zwar wurden bereits in den 50er Jahren bei meteorologischen Grußuntersuchungen in den amerikanischen Bundesstaaten Florida und Utah Gewitterwolken durchflogen, werden in den letzten Jahren Überschalljäger und Wettersatelliten eingesetzt, aber, so Fachmann Cehak, „es existieren immer noch Dutzende Theorien zum Thema“. Die Scheu der Wissenschaftler vor Experimenten an Ort und Stelle wird verständlich, wenn man das Himmelsphänomen näher durchleuchtet. In einem durchschnittlichen Gewitter steckt immerhin die Energie von mehreren hundert Atombomben (Cehak), der Aufbau eines Gewitterwolkenturmes ist am ehesten mit einem Atompilz vergleichbar (Belcredi). Dementsprechend respektvoll pflegen denn auch Piloten aller Nationen die Wolkenberge mittels Radar und dank stets auf den neuesten Stand gebrachten Gewitterkarten zu umfliegen. Ein AUA-Kapitän: „Heute gibt es eigentlich in der Luftfahrt nichts wirklich Gefährliches mehr – außer Gewittern.“ Fliegerlatein, wie etwa Geschichten von Haudegen des II. Weltkriegs, denen es gelang, die Meute der Verfolger abzuschütteln, indem sie mutig mitten hinein in die zuckenden Blitze steuerten, erzählt man sich noch heute gern. Belcredi und sein OFR-Kollege Professor Leopold Kletter wissen sogar von Fallschirmspringern zu berichten, die auf grausame Weise zu Tode kamen: Sie wurden im Sog der Gewitterwolken tausende Meter in die Höhe gezogen und erfroren ebendort. „Dabei hätten die nur ihre Fallschirme kappen müssen und warten, bis sie aus den Wolken wieder rauskommen und dann den Notschirm öffnen.“

Kugelblitze gibt es wirklich.

Auch das Phänomen der Kugelblitze, für viele Forscher eher im Reich von Ufos und ET angesiedelt, wird hierzulande durchaus ernst genommen. „Kugelblitze gibt’s wirklich“, ist man sich von der Hohen Warte bis zum Küniglberg einig. Professor Cehak hält die Erforschung, die laut Augenzeugenberichten gerne Häuser treppauf, treppab durchwandern und geschlossene Fensterscheiben mühelos durchdringen, „möglicherweise für durch elektrische Kräfte zusammengehaltene Gaskugeln, die ins Nichts zerplatzen, wenn sie sich entladen“. Sein Kollege Professor Kletter spricht ebenfalls von durchaus realen Plasmagebilden, also dem vierten Aggregatzustand, dem häufigsten im Weltall. Atompilz hin, Kugelblitz her, einheimische Weinbauern lassen sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Drohen über der Wachau oder Langenlois Gewitterwolken am Horizont, ist an den „Abschussbasen“ Hochbetrieb: Mit Silberjodid gefüllte „Raketen“ werden abgefeuert, um die Hagelkörner schon vor dem Aufprall auf die kostbaren Reben zum Schmelzen zu bringen. Auch Christian Witz, technischer Angestellter am Meteorologischen Institut, zuckt bei Blitzschlag nicht furchtsam hinterm Ofen zusammen: In seinem Archiv befinden sich rund 5000 Dias von himmlischen Wetterleuchten. Dabei tut sich der Blitzfetischist angesichts der internationalen Gewitterstatistiken in Österreich ohnehin schwer. Öfter auf den Auslöser drücken könnte er zum Beispiel im Amazonasgebiet oder auf den Ostindischen Inseln, wo es bis zu 200 Gewittertage im Jahr gibt. Europa liegt mit rund 30 Gewittertagen pro Jahr im Mittelfeld angesiedelt, Skandinavien wird gar nur fünf bis zehnmal jährlich heimgesucht. Insgesamt gehen über der Erde täglich zwischen 20 und 40.000 Gewitter nieder, von welchen allerdings nur ein Bruchteil Herrn und Frau Österreicher in Panik versetzt. Die von Professor Cehak erstellte, bisher unveröffentlichte Statistik über die Gewittertätigkeit im Raum Österreich seit 1946 ergab für Wien den Durchschnittswert von 26 Unwettern in den Monaten Mai bis September (höchstens zehn Prozent finden im Winter statt). Die geringste Anzahl betrug bisher zwölf, die höchste 37 Gewitter im betreffenden Zeitraum während eines Jahres. Es sieht so aus, als ob 1983 ein Rekordjahr würde.

Die Blitz-Bauernregeln sind falsch.

Angsthasen sollten die Südoststeiermark und Kärnten besser meiden, gehen doch über diesen schönen Landschaften bis zu 40 Sommergewitter jährlich nieder. Weniger gefährlich lebt sich’s hingegen im Donautal zwischen Deutschland und der Wachau, Innervorarlberg sowie dem südlichen Inntal: Mit Marken von 10 bis 15 wird hier die österreichische Untergrenze erreicht. Egal, ob in der Südoststeiermark oder in Innervorarlberg (wo immer das sein mag), wer im freien Feld von einem Professor Cehak’s Appell an den gesunden Menschenverstand: „Wenn eine Buche und eine Eiche nebeneinander stehen, und die Buche ist niedriger, schlägt der Blitz selbstverständlich in die Buche ein.“ Für lebensfrohe Naturen käme daher nur eines in Frage: „Ja nicht der höchste Punkt im Gelände sein. Am besten, man legt sich in die Büsche.“ Cehak, Belcredi und Kletter sind sich jedenfalls einig: „So hart es klingen mag, aber wer durch Blitzschlag stirbt, ist zumeist selbst dran schuld.“ Nach den Vorstellungen des ORF-Wetterteams bräuchten in Zukunft allerdings weniger potentielle Blitzopfer in Feld und Au herumzustehen. In der Schublade von Carl Belcredi liegt ein von Kollegen Dr. Pillerstorff erarbeitetes realisierungsfertiges Gewitterfrühwarnsystem, das europaweit bahnbrechend sein könnte. Hauptingredienz sind die zumeist auf Bergen in idealer Höhe über ganz Österreich verstreuten ORF-Sendemaste, in welche automatische Beobachtungsstationen eingebaut werden müssten, deren Daten ein Zentralcomputer auszuwerten hätte. Sowohl über Videotext als auch übers Radio (à la Ö3-Verkehrsdienst) könnte man dadurch exakte zeitliche (etwa eine Stunde im Voraus) und örtliche Gewitterwarnungen durchgeben. Bis das Projekt den hausinternen Instanzenweg durchlaufen hat, wird es jedoch voraussichtlich noch des Öfteren blitzen.