AKUT
Archiv 1999: Der Stoff, aus dem die Männer sind
Die Abwesenheit des Vaters in der Erziehung ist speziell für heranwachsende Buben eine Katastrophe. Denn nur Väter haben das Zeug dazu, aus ihren Söhnen richtige Männer zu machen.
Text: Manfred Sax
Diese Frage gehörte zu den interessanteren Details im Umfeld der notorischen Clinton-Debatte: „Mama, was ist ein Blowjob?“ fragte ein achtjähriger US-Boy nach Genuß eines nachmittäglichen Nachrichtenblocks im TV. Die Frage ist hier weniger, wieso eine sprachlose orale Gunst den Sprung in die internationalen Schlagzeilen schafft. Nachrichten sind eben nicht mehr das, was sie waren. Dasselbe gilt für Präsidenten. Allein in den Familien, so scheint’s, ist alles beim alten. Wenn Buben ein Defizit haben, gehen sie zur Mutter. Vater ist ja selten da. Ganze fünf Minuten täglich sind es, die er laut Umfrage eines Linzer Meinungsforschungsinstituts Mitte der 90er Jahre seinem Nachwuchs widmet. Nicht genug, wenn es um Fragen geht, die eine gewisse Zimmertemperatur erfordern. Bleibt also Mutter. Die mag zwar nicht immer eine Lösung für die Probleme des Buben haben, aber jedenfalls hat sie Verständnis. Es ist nicht leicht, ein Bub zu sein. In den Schulen sind es heute die Mädchen, die Sicherheit ausstrahlen, motiviert wirken und hart arbeiten. Die Schulleitungen der Buben aber sinken. Dafür steigt ihr Beitrag zur Kriminalitäts-Statistik, Ihre Orientierungslosigkeit ist total, und das global. Und der Zusammenhang, den die englische Wissenschaftlerin Adrienne Burgess in ihrer Studie über Väter fand (Fatherhood Reclaimed, London 1998), hat mit Zufall wenig zu tun: „Noch nie wuchs eine Generation so vaterlos heran wie die jungen Männer von heute“, befand sie. Schlimm, natürlich auch für Töchter. Aber für Söhne ist es eine Katastrophe. Denn „Mütter können zwar einen Embryo in einen Buben verwandeln. Aber nur Väter machen Buben zu Männern“, SO sah es der amerikanische Anthropologe Robert Bly in seinem Buch vom Eisenhans. Buben sind eben anders. Leider zollte die Erziehungswissenschaft diesem Umstand zu lange keinen Respekt. Im letzten Vierteljahrhundert war Forschung in Sachen „Unterschied der Geschlechter“ praktisch tabu. Mit dem Feminismus etablierte sich die Meinung, das bekannte Unwesen des Mannes sei größtenteils eine „anerzogene“ Sache, also ein Fall für erzieherische Bügelei, die denn auch mitunter ins Bizarre kippte: Es gab Buben, die zu Weihnachten die Barbie-Puppe in Rosa bekamen, während die Schwester im Baukasten von Lego wühlte. Es gab Buben, die im Kindergarten nur Spiele spielten, in denen es keine Sieger gab, weil es keine Verlierer geben durfte. Es gab und gibt – also Buben, die alles Recht haben, schlecht drauf zu sein. Wer ständig „gleich“ behandelt wird, dem macht der Unterschied zu schaffen. Und Buben sind anders. In ihrem Blut fließt der Stoff, aus dem die Männer sind – Testosteron. Der Stoff gibt dem Boy Muskelpakete, Energieanfälle, Liebe zum Wettbewerb, Sehnsucht zum Siegen und alle Qualitäten, die ihn während 99 Prozent der Menschheitsgeschichte zum Jäger stempelten. Chronologisch gesehen leider die ersten 99 Prozent. Wer heutzutage in den Anzeigen der Zeitungen blättert, findet keine Stellenangebote für Jäger. Der Stoff macht den Buben maskulin, und das schubweise ab der achten Schwangerschaftswoche. Testosteron ist verantwortlich für das Wachsen von Hoden und Penis, Für die Erektionen des Neugeborenen, die Energieanfälle des Vierjährigen, die Taubheit des Zwölfjährigen, die Wimmerl des 14-jährigen und die Entscheidung des 40jährigen, beim Sex in Hinkunft auf Quantität zugunsten von Qualität zu verzichten. Ohne Testosteron gäbe es das weibliche Vorurteil „Alle Männer denken zunächst mit dem Schwanz“ nicht. Ohne den Überschuss Testosteron im Männerblut hätte Frau vielleicht eine Chance, den Mann zu verstehen. Oder wenigstens den Buben. Hat sie aber nicht. Mit einem hormonell halbwegs normal veranlagten Buben am Hals ist die weitgehend alleinerziehende Mutter schlicht überfordert. Das heißt, der Bub bleibt unterfordert – der Mann im Boy läuft Gefahr, der Welt nur mit einer verkümmerten Variante seiner voll entfalteten Männlichkeit trotzen zu können. Womit wir im Heute sind: Der moderne Mann ist wenig mehr als ein kümmerlich entfaltetes Abziehbild seiner männlichen Anlagen. Ein Jahrhundert des weitgehend mit Abwesenheit glänzenden Vaters hat seine Spuren hinterlassen. Eingebrockt hat Mann sich den Zustand selbst. Als er im vergangenen Jahrhundert die industrielle Revolution anzettelte, beforderte er nicht nur Frau zur Herrin des Hauses, Alleinerzieherin und Hüterin von Zivilisation, sondern sich selbst ins Abseits. Seine Rolle beschränkte sich fortan auf das Beschaffen von Brot. Leider gab es das nur in der Fremde zu verdienen. Womit er nicht nur die moderne Welt des Marktes begründete, sondern auch mit einer alten Tradition brach: Um zu überleben, zogen traditionelle Gesellschaften stets kompetente und verantwortliche junge Männer groß. „Es war dies eine Frage von Leben oder Tod“, meint der australische Familientherapeut Steve Biddulph, „und wurde nie dem Zufall überlassen.“ Mit dem Auge des Erziehers gesehen, regierte in der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts das Prinzip Zufall. Die Welt braucht mehr Väter. Das ist die Botschaft, die Mister Biddulph in seinem neuen Buch* über Buben-Erziehung vertritt. Eine Botschaft, mit der er vor allem offene Türen eintritt. Denn alle wollen mehr von der Qualität Vater. Die Gesellschaft will ihn, weil die Formel „Je weniger Vater, um so mehr Gewalt, Verletzung, Probleme und schlechte Schulleitungen“ für Buben laut Statistik stimmt. Der Bub will ihn, weil nur ein Vater die ungestüm rohen Testosteronschübe relativ unbeschadet in eine zivilisationsgerechte Form zähmen kann. Die postfeministische Mutter will ihn, weil sie jemanden braucht, der das Haus sauber hält, während sie Karriere macht. Und der Mann selbst, nun, der hat allen Grund, den Vater zu wollen: Ein Jahrhundert der Muttersohnhaftigkeit, das mit einem Jahrzehnt der Schlappschwänze (Viagra!) endet, sollte reichen. Fürs Millennium will der Mann mehr Männlichkeit. Also mehr Vater. Leider ist derlei Strukturwandel leichter gefordert als umgesetzt. Mit der Geburt eines Buben steigen nicht nur die Überlebenschancen der Spezies Mann, sondern auch die Kosten für den Unterhalt. Aber: Es gibt ein Minimum. Es gibt ein Minimum an Väterlichkeit, das der Mann in seine(n) Buben investieren muss. Unbedingt und ehe es zu spät ist. Im folgenden listet der WIENER So ein Minimum auf. Qualitäten, die nur ein Vater vermitteln kann. Nicht alle, aber die wesentlichen.
0-6 Jahre
Die Entwicklung des Buben verläuft in drei Phasen. Die erste endet mit dem sechsten Lebensjahr. Es ist die Zeit, in der einem Buben vor allem Mutternähe in den Kram passt. Gefragt sind Gefühlsknüller wie Liebe und Geborgenheit sowie Versuche, den Boy auf das Leben anzutörnen. Gewisse väterliche Beiträge sind dennoch nicht zu ersetzen.
Die Grundbedingung: Ein Vater ist mündig. Wer in Anwesenheit seines Buben mit dessen Mutter Streit anzettelt, beweist seine Unmündigkeit. Der Trouble mit den Frauen ist ein Thema, mit dem ein Baby nichts anfangen kann.
Das Achsel-K.-o.: Manche Mütter berichten es nicht ohne Neid: Väter haben eine erstaunliche Gabe, den Knirps in den Schlaf zu wiegen. Je näher die Nase des Boys am väterlichen Achsel zu Schweiß zu liegen kommt, um so besser ist die Gabe. Die Ursache dafür wird den Pheromonen – den männlichen Duftstoffen – zugeschrieben, und bei regelmäßiger Ausübung ist die Wirkung phänomenal. Ein paar Lungenzüge reichen, und beim müden Boy gehen die Lichter aus.
Ein Vater, zwei Wörter: Eine Laune der Natur will es, dass der Mann als besserer Schweiger das Licht der Welt erblickt. Zumeist bleibt es dabei. Spracherziehung erfolgt denn auch traditionell via Mutter. Laut Erziehungs-Guru Biddulph gibt es aber eine Phase, in der sprachliche Zuwendung des Vaters für den Boy von höchstem Nutzen ist. Sobald der Boy imstande ist, sich mit „Ein-Wort-Sätzen verständlich zu machen, will er eigentlich einen Partner, der mit zwei Worten erwidert. Die Mutter aber spricht in der Regel sofort in ganzen Sätzen. Eine große Chance des Vaters, sich beim Sohn Gehör zu verschaffen.
Spielraufen: Mütter beschwichtigen. Gestresste Mütter beschwichtigen ganz besonders. Und oft sind sie sehr gestresst, wenn den Buben ein Testosteronschub zappelig macht. Allerdings braucht er dann keine Beschwichtigung. Spielraufen ist eine jener kostbar raren Methoden, die dem Vater gestatten, den Sohn an den unfallfreien Umgang mit seinem Treibstoff Testosteron zu gewöhnen. Was anfangs insbesondere mit Kontrolle zu tun hat: Jeder Boy will wissen, wie weit er gehen kann. Er braucht ein Gefühl für seine Grenzen. Mutter lässt ihn nie an die Grenze. Der Vater macht’s möglich.
Der Ball: Im Alter von vier schwillt der Testosteron-Level im Blut des Buben plötzlich auf das Doppelte an“, schreibt Biddulph. Der Bub schwebt erstmals im Rausch eines Himmelstürmers, und ein Vater, der seinen Sohn nicht spätestens jetzt in das ehrene Gesetz des Johann K. einweiht („Der Ball ist rund“), beschert dem heimischen Fußball einen unwiederbringlichen Verlust.
7-12 Jahre
Ab dem sechsten Lebensjahr zeigt der Bub verstärktes Interesse an seinen anatomischen Zeu…
Die Feuertaufe: Die Erklärung des Abseits im Fußball ist ein sanfter Einstieg in die Welt, die anders ist als jene der Frauen. Die Mutter versteht das Abseits nicht, der sechsjährige Boy hat damit keine Schwierigkeiten. Und er erkennt: Der Unterschied, das, was vorher so unheimlich erschien, ist eigentlich ganz okay.
Das Auto-Spiel: Die große Gefahr ist, dass eine Betonung des Unterschieds in späteren Jahren gern als „Sexismus“ ausgelegt wird. Maximale Wertfreiheit beim Erziehen des Buben ist also angebracht. Etwa im Auto, wo der Bub jetzt neben dem Papa sitzt, wenn Mama nicht mitfährt. Irgendwann wird er einmal fragen: Warum macht der Fahrer im Auto vor uns so was?“ „Du meinst die Fahrerin“, wird der Vater sagen, um dann zu überholen. Und tatsächlich – es war eine Frau am Steuer. Der Boy ist ebenso verblüfft wie fasziniert, und in der Folge kann ein wertfreies Spiel daraus werden: Rat mal, wer im Auto vor uns am Steuer sitzt. Ohne warum und wieso. Nicht lange, und die Treffsicherheit des Sohnes wird dem Vater sehr imponieren. Allerdings empfiehlt sich das Spiel nicht, wenn Mutter auch im Auto sitzt.
Die Mutprobe: Der Bub ist in der Schule, und normalerweise dortselbst sehr schnell am Werk, seinen Platz in der Hierarchie der Bubenwelt zu ergründen und zu verbessern. Was heutzutage schwieriger ist denn je, weil das Raufen bei Erwachsenen ein verdammt schlimmes Image hat. Andererseits ist das Image des raufscheuen „Feiglings“ unter Buben nicht sonderlich attraktiv. Unter Buben gibt der Klügere nicht nach. Mut dagegen zählt noch immer. Selbst der gewaltfeindlichste aller Väter kann also dem Sohn das Raufen nicht verbieten. Aber er kann ihm eine Auflage mit auf den Weg geben. Etwa: „Verprügle nur Buben, die größer sind als du – das ist mutig.“ Und selbst eine Niederlage ist schlimmstenfalls ehrenvoll“.
Die Wurzelsuche: Wie bereits erwähnt, erwarb der Mann den Löwenanteil seiner Identität als Jäger. Insofern darf es keinem bewussten Vater erspart bleiben, dem Sohn bestimmte Kenntnisse anzueignen. Ais da sind: das Basteln von Pfeil und Bogen; das Pfeifen mit Grashalmen; das Fischen mit und ohne Angel; das Fangen von Heuschrecken; das Brechen des Eises im Teich; der Gang in den finsteren Keller; der Bau eines Lagerfeuers und viele einschlägige Knüller mehr. Das Tun mag in der modernen Welt nicht wirklich Sinn haben. Aber es bringt dem Buben Identität.
Der Billard-Klub: Drei Dinge will ein Bub stets wissen: Wer ist der Boß? 2. Was sind die Spielregeln? 3. Werden die Spielregeln fair eingesetzt? Das testosterongetriebene Design des Buben schreit nach Hierarchie, die er unter gleichaltrigen Freunden aber nicht immer findet. Wohl dem Vater also, der ihm eine Struktur vermittelt. Ein Besuch des Billard-Klubs mit Sohn und Freund etwa bietet dem Vater eine hervorragende Kulisse, diese drei Punkte abzuklären. Zumal die Anwesenheit des Vaters (Boß und Regelkenner) dafür sorgt, dass Meinungsverschiedenheiten nicht durch Muskeln, sondern durch Argumente erledigt werden. Ein wichtiger Schritt zur Gesellschaftsfähigkeit.
Der Ruf der Natur: Ein Vater, der gemeinsam mit seinem Sohn in freier Wildbahn einen Baum bepinkelt, kann zwei wesentliche Dinge vermitteln: 1. Sieh zu, dass der Wind im Rücken ist. 2. Ein Mann kann beim Pinkeln einen hohen Bogen beschreiben, also einen kreativen Akt leisten. Eine Frau macht nur den Boden nass.
*Steve Biddulph: Raising Boys, Thorsons UK 1998