AKUT

78 Stunden Häf’n

Weil er seine Parkstrafen nicht zahlen wollte, ging WIENER-Autor Kurt Molzer freiwillig ins Gefängnis. Und er würde es wieder tun.

TEXT: KURT MOLZER / FOTOS: KURT MOLZER SEN.

Ich zahle nie wieder eine Verkehrsstrafe. Und nie wieder auch nur einen Cent wegen Falschparkens. Zwei gute Vorsätze vom letzten Silvesterabend. In den vergangenen 30 Jahren gab ich für diesen Irrsinn – grob geschätzt – so viel aus wie für einen vierwöchigen Luxusurlaub in der Südsee. Dumm nur, dass sich im Verlauf von ein paar Monaten schon wieder ein paar Erlagscheine angesammelt hatten. Vier Übertretungen gegen das Parkometergesetz – 407 Euro, horrende Mahngebühren inklusive. Aber egal, was passiert – ich zahle NICHT! Die Magistratsabteilung 67 bombardierte mich mit Briefen, die ich ungeöffnet in die Donau warf. Bald bekam ich Besuch. Ein stämmiger Herr fragte mich: „Warum zahlen’S nicht?“ – „Weil ich net deppert bin.“ – „Wie viel verdienen’S denn?“ – „Weniger als ein Steineklopfer unter Pharao Ramses dem Zweiten, zirka 1.250 vor Christus.“ – „Hm.“ Ein paar Wochen später hielt ich ein DIN- A5-Kuvert in Händen: „Aufforderung zum Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe. Wir fordern Sie auf, die Strafe binnen 14 Tagen nach Erhalt dieses Schreibens beim Polizeianhaltezentrum Wien, Rossauer Lände 9, anzutreten. Wenn Sie diese Aufforderung nicht befolgen, müssen Sie damit rechnen, zwangsweise vorgeführt zu werden.“ Sie gaben mir noch eine allerletzte Chance, Zahlscheine lagen bei. Nein, Freunde, daraus wird nichts. Also Knast. 78 Stunden. Etwas mehr als drei Tage.

Es war ein strahlend schöner Montag am Beginn des Frühlings. Ich ging zu Fuß in den Häf’n, mit einem Billa-Sackerl über der Schulter. Der Inhalt: zwei Unterhosen, zwei Paar Stutzen, eine Weste, ein T-Shirt, Zahnbürste und Zahnpasta sowie eine Reclam-Ausgabe von Goethes „Wahlverwandtschaften“. Am frühen Nachmittag stand ich vor dem monströsen Bauwerk. Die Eingangstür war überraschend klein. Man musste eine Klingel drücken. Ich zögerte. Mein Puls stieg merklich an. Durchatmen. Wird schon nicht so schlimm sein. Also: Klingel drücken und rein, du feige Sau! Ein Warteraum mit drei Holzbänken. Hinter einer Glasscheibe saß ein Polizeibeamter. Er sprach sehr freundlich durch ein Mikrofon: „Grüß Gott, bitte sehr!“ Ich reichte ihm das Schreiben von der MA 67 und meinen Pass. „Okay, nehmen Sie Platz.“ Ich wartete fast zwei Stunden. Dann hörte ich einen Schlüsselbund. Der Kerkermeister. Links von mir ging die Tür auf. Ein Polizist bat mich, mitzukommen. Er führte mich in ein Großraumbüro, wo ein Kollege hinter einem Pult saß und ein Porträtfoto von mir machte. Anschließend wurde ich in eine winzige, weiß gekachelte Zelle gebracht. Nur eine Holzbank. Auf eine Fuge zwischen den Kacheln hatte ein Vorgänger von mir mit blauem Kugelschreiber die Buchstaben A.C.A.B. aneinandergereiht: All Cops Are Bastards. Derselbe Polizist, der mich vom Warteraum abgeholt hatte, reichte mir durch die Gitterstäbe zwei Blatt Papier und einen Bleistift. Ein Fragebogen, den ich gleich ausfüllen musste. Haben Sie schon einmal Drogen genommen? Haben Sie jetzt Selbstmordgedanken?

Dann wurde ich in ein anderes Büro gebracht. Dort saßen zwei Polizisten. Einer forderte mich (ebenfalls höflich) auf, alle Taschen und mein Sackerl zu entleeren. Sie nahmen mir das Handy ab, auch die Wohnungsschlüssel, Duschgel und Zahnpasta. Man darf nur hauseigene Gratis-Pflegeprodukte verwenden oder im Häf’n-Shop welche kaufen. Meine 15 Euro Bargeld durfte ich behalten. Ich wurde noch gefragt, ob ich Raucher- oder Nichtraucherzelle bevorzuge. In einem kleinen Nebenraum musste ich mich dann bis auf die Unterhose ausziehen. Ich wurde gemessen und gewogen. Dann die Unterhose runterlassen. Mit einem Kennerblick auf meinen dünnen Hängearsch vergewisserte sich der Beamte, dass sich im Darmausgang kein Koks versteckt hielt.

Nachdem ich wieder angezogen war, geleitete man mich über eine Treppe in den zweiten Stock. Mich beruhigte, dass es hier überhaupt nicht wie in einem Knast, sondern wie in einem stinknormalen Amtsgebäude aussah. Am Treppenaufgang warteten ein kleiner, älterer Polizist und ein Kerl mit Bart und langem Zopf, der einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift „San Francisco“ trug. Ein Sträfling, der sich freiwillig zur Hausarbeit gemeldet hatte. Er übergab mir ein Tablett mit Plas­tikschüssel, Löffel, Messer und Gabel sowie – eng zusammengerollt – ein Lein­tuch, einen Deckenüberzug und zwei Handtücher. Weiter ging es über einen langen Flur. Erst jetzt wurde mir bewusst, wo ich eigentlich war. Eine graue Stahltür nach der anderen, ausgestattet mit einem langen silbernen Hebel zum Öffnen und Schließen. Wir hielten vor Zelle 204. Der Polizist drückte den Hebel nach unten und ließ mich eintreten. Hinter mir schloss sich die Tür. Ich sah in das unrasierte Gesicht eines Südslawen und sagte: „Hi.“ – „Hi“, ant­wortete er lächelnd. „Zum ersten Mal in Gefängnis?“ – „Ja.“ – „Wie lange?“ – „Drei Tage.“ – „Ich fünf Wochen.“ Ein Serbe, Anfang 40, T-­Shirt, Trainingshose, Plas­tikpantoffeln. Eingebuchtet wegen Park­strafen von mehr als 3.000 Euro. Er stell­te mir den Rest der coolen Gang vor: einen jungen, dicken, rumänischen Koch, der sechs Wochen absitzen musste, ebenfalls wegen Parksünden; einen Wiener Unter­nehmer in meinem Alter, verdonnert zu mehreren Monaten wegen einer Verwal­tungsstrafe im fünfstelligen Bereich; einen grau melierten Niederösterreicher, der ins „Guinness Buch der Rekorde“ gehört, weil er in seinem getunten Audi S5 von Wien nach Graz ungefähr so schnell wie die AUA war. Von dem nächtlichen Tiefflug gibt’s auch ein schönes Erinnerungsfoto, aufgenommen bei 280 Sachen. Weil er nicht einsichtig war und auch noch be­ hauptete, das auf dem Foto sei nicht er, sondern seine Zwillingsschwester (!), setzte es 1.500 Euro Strafe. Er entschied sich für sechs Tage Ersatzarrest. Gott sei Dank keine schweren Jungs in der Zelle. Räuber, Mörder, Totschläger – gibt’s, wie ich später erfuhr, im ganzen Haus nicht. Die Zelle war ziemlich groß. Gelb ge­strichene Wände, sechs Stahlbetten, sechs Spinde, in der Mitte ein langer Holztisch mit einem sauber eingravierten Haken­ kreuz, zwei Heurigenbänke, ein kleiner Fernseher, ein Spiegel, ein großes, ver­ gittertes Fenster in einen weitläufigen Innenhof. Man sah viel blauen Himmel. Links vom Eingang die Tür zum WC. Ich blickte in die Runde und hatte ein gutes Gefühl. Meine Zellengenossen gefielen mir.

„Armer Liebling, das ist ja so schlimm hier! Ich lös dich jetzt sofort aus!“ Ich antwortete: „Wenn du das tust, verlass ich dich.“

Fünf Uhr nachmittags. Im Fernsehen lief eine Kabel-­Eins­-Krimiserie. Die Tür ging auf. Abendessen. Vor unserer Zelle stand ein Rollwagen mit einem großen Topf drauf, gefüllt mit kaltem Nudelsalat. Der Hausarbeiter gab jedem von uns einen Schöpfer. Ein zweiter Sträfling in einem bunten Trainingsanzug reichte Schwarz­ und Weißbrot. Zum Trinken gab’s Früch­tetee. Eine Polizistin überwachte den Vorgang. „Guten Appetit“, sagte sie. Wahr­ lich, der Nudelsalat war ausgezeichnet! Raffiniert gewürzt, nicht zu viel Mayon­naise, trotzdem sättigend. Könnte man bei Vapiano servieren.  Ich verstand mich, wie erwartet, mit allen sehr gut. Nach dem Essen blieben wir noch lang bei Tisch und erzählten uns Witze. Der Unternehmer erzählte einen, der für mich zu den ewigen Top Ten ge­hört: „Eine Frau geht zum Arbeitsamt und wird vom Sachbearbeiter nach den Personalien gefragt. ‚Ich heiß Maria Bau­er und komm aus Ficken.‘ Der Sachbear­beiter zuckt zusammen: ‚Ja wo is denn das?‘ – ‚Bei St. Pölten.‘ – ‚Ah, interessant.‘ Der Fall ist bearbeitet, wieder kommt eine Frau herein: ‚Ich heiß Helga Müller und komm aus St. Pölten.‘ – ‚Dann kennan’S ja auch Ficken.‘ – ‚Ja, besser als putzen.‘“

Um 19 Uhr wurde ich in den ersten Stock zum medizinischen Check gebracht. Eine gelangweilte, etwa 50­-jährige Ärztin maß meinen Blutdruck und entließ mich nach zwei Minuten wieder. Drei Stunden spä­ter, kurz bevor in der Zelle automatisch das Licht ausging, bekamen wir einen neuen Mithäftling, einen zuckerkranken Ägypter. Er war sehr schüchtern. Sogar vor mir hatte er Angst, das will was heißen. Zwei Tage nur musste er hinter Gitter. Er sprach fast nichts, lag die meiste Zeit im Bett und schlief. Frühstück jeden Morgen um sieben Uhr. Zwei Semmeln, Butter, Marmelade. Lei­ der nur Malzkaffee, ein bisserl sehr fad.Dafür zu Mittag ein herrlich knuspriges Brathendl mit Reis und grünem Salat. Dass es kein Bier dazu gab, oder wenigs­tens ein Vierterl Veltliner, hielt ich für eine bodenlose Frechheit. Vormittags, wenn die anderen eine Stun­de im Hof spazierten, las ich. Schade nur, dass die „Wahlverwandtschaften“ mich furchtbar langweilten. Ich muss Thomas Bernhard beipflichten, wenn er das ver­ meintliche Weltwunder Goethe als phi­losophischen Daumenlutscher bezeichnet, als schreibenden Größenwahnsinnigen. Wenn ich’s mir recht überlege, gab’s hier nur eine echte Strafe für mich: Goethe.

Besuch zweimal die Woche, je eine halbe Stunde. Allerdings kam ich mir vor wie im Todestrakt eines amerikanischen Ge­fängnisses. Man war durch eine Glas­scheibe getrennt und unterhielt sich über ein Telefon. Meine flammenrote Favoritin schluchzte durch den Hörer: „Armer Liebling, das ist ja so schlimm hier! Ich lös dich jetzt sofort aus!“ Ich antwortete: „Wenn du das tust, verlass ich dich.“ Nachdem der Ägypter seine kurze Strafe abgebüßt hatte, kam gleich der nächste Sträfling zu uns: ein großer, muskulöser Nigerianer. Er hatte einen Schnupfen und drückte den Knopf, der es uns ermög­ lichte, über eine Gegensprechanlage mit dem Wachpersonal zu kommunizieren. „Ich sehr krank“, brüllte er, „ich haben gesagt bei Verhaftung! Ich will Arzt, ich kann nicht sein in Gefängnis, wenn bin krank!“ Er solle sich beruhigen, bald wür­de man ihn sowieso zur Untersuchung bringen. Aber er ließ nicht locker. Schließ­lich kam ein Polizist und nahm ihn mit. Fünfzehn Minuten später kam er glück­lich mit einer Packung Neocitran zurück. Es dauerte nicht lang und er schnarchte, dass die Nasenflügel zitterten. Im Fernseher lief, wie immer, eine Krimiserie. Man verstand aber kein Wort mehr. Der Serbe rief genervt: „Schaut, Neger kommt von die Affen, sieht man!“ – „Natürlich“, entgegnete ich, „aber Serbe auch kommt von die Affen.“ An einem Donnerstag gegen acht Uhr abends wurde ich entlassen. Ich verab­ schiedete mich herzlich von allen. Und ihnen, meinen neuen Freunden aus Zel­le 204, widme ich dieses Gedicht: „Hallo Männer, seid nicht blöde – Strafe zahlen, das ist doch öde! Drum geht ruhig in den Knast, sonst habt ihr was verpasst!“

Kurt Molzer war aber nicht nur im Häfn, sondern hat auch den Taxischein gemacht. Mehr dazu hier und hier.