Interview

Filmen, bis kein Bild mehr übrig ist

Er hatte keine Karriere, behauptet Werner Herzog, und er meint das nicht einmal kokett. Er hat beinahe jeden Zipfel dieser Erde bereist, aber seine Neugier ist längst nicht gestillt. Nur die Simpsons sagten ihm wenig. Und dass John Waters schwul ist, merkte er erst nach 35 Jahren.

Interview: Manfred Rebhandl / Fotos: Maximilian Lottmann

Herr Herzog, meine Tochter ist der wohl größte Simpsons-Fan der Welt, sie ist ganz aus dem Häuschen, dass ich heute Herrn Walter Hotenhoffer treffe, Eigentümer von Hotenhoffer Pharmaceuticals in Season 22, Episode 15. Wie muss man sich das vorstellen? Rief ­Simpsons-Erfinder Matt Groening an und sagte: „Wörnör, I’v got an idea and a bunch of money …“?
Genauso war es! Wobei ich zu meiner Schande eingestehen muss, dass ich bis dahin keine Ahnung hatte, dass es die Simpsons überhaupt als Serie gibt, also als Laufbilder. Ich kannte die nur gezeichnet aus der Zeitung.

Im Ernst?
Ja! Ich habe also zunächst mal gefragt, wie er sich das überhaupt vorstellt, dass ich da eine Figur sprechen soll, die es nur in der Zeitung gibt, und habe Material angefordert, damit ich verstehe, was er genau meint. Er dachte wirklich, ich halte ihn zum Narren.

Die Show lief damals immerhin im 22. Jahr. Gibt es kein Kabel-TV im Laurel Canyon bei Los Angeles, wo sie seit über 20 Jahren mit Ihrer Frau leben?
Doch, doch, aber ich schaue halt nicht so viel TV bzw. schaue ich halt andere Sachen. Und ich lese halt sehr viel …

Und unterwegs sind Sie auch immer noch sehr viel.
Ja, sehr viel.

Durften Sie bei der Figur des Walter ­Hotenhoffer mitreden?
Nein, um Gottes Willen! Die arbeiten dort wirklich alle unglaublich professionell und streng, da wird nichts dem Zufall überlassen. Als ich meine Figur eingesprochen habe, war das wie in einem riesigen Kinosaal mit 200 Leuten um uns herum. Es wurde auf die ­Zehntelsekunde genau gestoppt, ob und wann das Publikum eine Reaktion zeigt, und wenn nicht, dann wurde das Timing geändert oder ich musste anders sprechen. Die treiben da wirklich einen unglaublichen Aufwand, zweimal musste ich nachher nochmal ins Studio kommen, um Kleinigkeiten nachzubessern.

Die Gage war es dann aber wert?
Ja, über die Gage beschwere ich mich nicht.

Diese Figur lebt nicht zuletzt von Ihrer unverwechselbaren Stimme samt Ihrem mittlerweile Kultstatus genießenden Englisch, mit dem Sie selbst alle Texte in Ihren Dokumentarfilmen sprechen. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Stimme und Ihr Englisch ein Markenzeichen werden könnten?
Ach, das hab ich gar nicht gemerkt. Ich habe nur irgendwann einfach aufgehört, mein Englisch zu polieren.

Sie haben das Bayerische darin akzeptiert?
Und dabei muss man sagen, dass mein Englisch trotzdem immer noch um vieles besser ist als das von Ex-Außenminister Henry Kissinger zum Beispiel, der ja auch aus Bayern gebürtig ist.

Oder von Ex-Gouverneur Arnold Schwarzenegger, der aus der Steiermark gebürtig ist. Wie dieser sind Sie in Amerika zu einem Heros der Filmindustrie aufgestiegen.
Weil ich nun mal einige wirklich sehr gute Filme gedreht habe!

In Ihren masterclasses, die man für 90 Dollar im Internet buchen kann, lehren Sie Ihre Schüler, dass sie bloß keine Filmschule, stattdessen lieber mal einen Schweißkurs besuchen sollen, oder so nebenher ein Kind großziehen, dabei würde man viel mehr übers Filmemachen lernen.
Das ist nun mal meine Überzeugung!

Mittlerweile werden Sie sogar als Schauspieler nachgefragt. Tom Cruise wollte Sie unbedingt für „Jack Reacher“ haben.
Er und sein Produzent suchten jemanden, der richtig böse wirkt, kaum dass er auf der Leinwand erscheint.

So Kinski-mäßig?
Ja, so ungefähr. Da kamen sie auf mich, riefen mich an und boten mir eine wirklich sehr gute Gage. Ich spielte dann einen Bösewicht unter vielen anderen …

Einen, der sich in einem Straflager in ­Sibirien die Finger abgekaut hat … Sie selbst hätten sich vermutlich auch die Finger abgebissen, wenn es die Fortsetzung eines Filmdrehs irgendwo im Dschungel gesichert hätte?
(lacht) Nun ja, wollen wir mal nicht übertreiben. Ich stand Gott sei Dank nie vor dieser Entscheidung, und man beißt sich nicht die Finger ab wegen eines Films, das macht man einfach nicht.

Sie spielten auch in „Julian Donkey-Boy“ von Harmony Corine, der wie Sie in jungen Jahren ein wilder Hund war. Jetzt ist seine Karriere aber ein wenig versandet, haben Sie noch Kontakt zu ihm?
Wir waren nie so eng, dass wir uns dauernd gesehen hätten, und „Julian Donkey-Boy“ hat ja ­eigentlich auch kein Mensch damals wahrgenommen.

1976 besetzten Sie für den Film „Stroszek“ den Berliner Straßenmusiker Bruno S., einen in zahlreichen Heimen des Nachkriegsdeutschland aufgewachsenen Außenseiter, der zuvor in „Kaspar Hauser“ mitgespielt hatte. Anschließend versprachen Sie ihm die Hauptrolle in „Woyzeck“, die Sie dann aber doch an Kinski vergaben. Um Ihr Versprechen einzuhalten, schrieben Sie innerhalb von fünf Tagen für ihn den Film „Stroszek“ über einen Berliner Straßenmusiker, der zusammen mit Eva Mattes sein Glück in Amerika sucht, aber nicht findet. Ein wunderbar zärtlicher, trauriger Film. Mein Lieblingsfilm von Ihnen.
Das freut mich.

Stroszek hatte immer den Hosenstall offen, war das eine Regieanweisung?
Nein, nein. Bruno S. war ja in hohem Maße verwahrlost, nicht abstoßend, aber er lebte halt auf der Straße, führte ein radikales Leben, wuchs in Heimen auf. Trotzdem hat er sich das Akkordeon- und Klavierspielen selbst beigebracht. Es war dann halt eben keine Regieanweisung, dass ich ihm gesagt hätte: „Jetzt mach mal deinen Hosenstall zu, Bruno!“ Seine Darstellung des Stroszek war dann wirklich großartiges, stilisiertes Schauspiel.

Einmal sagt Stroszek: „Ick wees da nicht mehr weiter, da bin ich wirklich am Ende.“ Hatten Sie selbst jemals das Gefühl, nicht mehr weiter zu wissen in Ihrer Karriere, auch wenn Sie immer abstreiten, überhaupt eine Karriere gehabt zu haben.
Nein, ich hatte einfach nie die Zeit, über so etwas überhaupt nachzudenken, ich hatte da nie die Wahl. Ich habe ja ständig gearbeitet. Man muss sich das vorstellen wie einen Bach, dessen Wasser schneller läuft als man selbst, aber man läuft halt trotzdem daneben her und versucht Schritt zu halten, das war meine „Karriere“: Ein Projekt nach dem anderen, das ich mir aus dem Bach herausgeholt habe. Der Preis, den man dafür bezahlt, ist dann natürlich manchmal schon sehr hoch.

1984 begleiteten Sie die beiden Extrembergsteiger Reinhold Messner und Hans Kammerlander zu einer Expedition auf die beiden Gipfel des Gasherbrum I und II im Karakorum-Massiv. Als die beiden vom Berg herunterkommen, waren sie vollkommen desperat, und Sie sagten einfach zu ihnen, sie sollten doch bitte mal die Schneebrillen abnehmen.
Dann wirkten sie noch verzweifelter, so als hätten sie in die Hölle geblickt. Das haben sie wohl tatsächlich getan, sie müssen da oben eine Woche lang Schlimmstes erlebt haben. Wobei man sagen muss: Die Projekte, die die beiden sich immer aufluden … ich weiß nicht. Man sollte einen Berg vielleicht einfach auch mal in Ruhe lassen. Aber ­Messner hat sich ja später ohnehin geändert, er muss nicht mehr alles und jeden „bezwingen“.

Dann brachten Sie ihn sogar zum Weinen, als Sie ihn fragten, wie er den Tod seines Bruders der Mutter beigebracht habe. Haben Sie so eine Art spezielles Wissen um die menschliche Seele?
„To know the heart of men“, sagt man auf Amerikanisch. Ich denke schon, dass ich auf den Grund einer Seele blicken kann.

Muss man sich eine gewisser Lockerheit bewahren, wenn man Dokus dieser Art dreht und Menschen interviewt?
Nein, im Gegenteil! Da gibt es keinen Moment, in dem ich nicht dran bin, da muss man intensiv in der Konversation sein. Ich drehe dann ja auch immer nur relativ wenig Material, bei mir gibt es kein Geschwafel.

Es gibt die schöne Szene in diesem Film, in der Sie und Messner von Ihrer Sehnsucht sprechen, einfach nur „gehen“ zu wollen.
Gehen, bis kein Weg mehr übrig ist.

Haben Sie diese Sehnsucht noch heute?
Bei mir musste das Gehen immer einen großen, übergreifenden Sinn haben. Als Lotte Eisner, die Filmkritikerin, krank in Paris lag, da dachte ich, ich könnte sie heilen, wenn ich zu Fuß zu ihr ginge. Oder als Willy Brandt das Projekt der Wiedervereinigung aufgab, dachte ich, ich könnte das Projekt wieder voranbringen, wenn ich die Grenzen Deutschlands bis in ihre letzten Ausbuchtungen abwandere. Heute fehlt vielleicht dieses Zwingende.

In „Encounters at the End of the World“ besuchten Sie eine Forschungsstation in der Antarktis. Es gibt das Bild des einen Pinguins, der nicht allen anderen zum Wasser folgt, sondern zunächst mal stehen bleibt und dann einfach gerade ins Landesinnere auf die Berge zuläuft, wo der sichere Tod ihn erwartet. Ein kleiner, starrköpfiger Herzog-Pinguin?
(lacht) Ja, das war unglaublich berührend, und auch tragisch. Ich stellte ja damals die Frage, ob Pinguine auch wahnsinnig werden können. Ich stelle mir ja immer solch wüste Fragen: Warum sattelt ein Schimpanse kein Pferd und reitet darauf in die Wüste und so. Wobei man Pinguine natürlich nie, unter keinen Umständen, aufhalten und an ihren Wanderungen hindern darf, auch wenn es in die falsche Richtung geht. Der wäre immer wieder dorthin gelaufen.

Dr. Ainley, der Pinguin-Doktor dort in der Antarktis, spricht nicht mehr viel mit Menschen, nachdem er 20 Jahre Pinguine beobachtet hat.
Ja, das war schwierig, mit ihm überhaupt ins Gespräch zu kommen. Er wusste wirklich nicht mehr so recht, wie man mit Menschen redet.

Ist das für Sie eine mögliche Option? Der völlige Rückzug, nach all den Wahnsinnigen und Seltsamen, die Sie in Ihrem Leben auch kennengelernt haben? Oder brauchen und lieben Sie die Menschen trotz allem noch immer?
Ich brauche und liebe die Menschen, ich lebe ja mit den Menschen, und sie sind ja auch mein Publikum. Aber irgendwann hat dann ja auch Dr. Ainley wieder angefangen zu reden und mir erzählt, dass Pinguine auch schwul sein können und in Dreierbeziehungen leben.

Apropos schwul: Bei Ihrem sehr guten Freund, Trash-Regiegott John Waters („Hairspray“), kam Ihnen erst nach 35 Jahren der Gedanke, dass er schwul sein könnte.
Ja, das war seltsam. Aber ich sehe Menschen nun mal nicht so. Wenn ich einen Mann sehe, sehe ich einen Mann und denke nicht darüber nach, ob er schwul sein könnte. Aber irgendwann nach 35 Jahren sagte ich dann bei so einer Veranstaltung plötzlich zu meiner Frau: „Du, ich glaube, der John ist schwul.“ Dabei hatte ich ihn zuvor schon einmal richtig getröstet, als er Liebeskummer hatte, er hat sich buchstäblich an meiner Schulter ausgeweint, bis ich ihm gesagt habe: „So, John, jetzt mache ich dir ein gutes Steak, und du sagst mir, wie du es gewürzt haben möchtest.“

Immer wieder beschreiben Sie in Ihren Filmen das Trailer-Park-Amerika. Nun haben die sogenannten Fly-over-states die US-Wahl zugunsten von Donald Trump entschieden.
Nein, nein, Moment! Da reden wir nicht von White Trash, da reden wir von der marginalisierten ländlichen Mittelschicht! Von Bauern, die Weizen anbauen! Oder von Cable Guys, die sich im Winter mit ihrem Gurt an Masten hängen, und niemand interessiert sich für sie. Mich wundert selbst oft diese Arroganz der Westküsten- und Ostküstenbewohner, die noch nie in Wisconsin oder Ohio waren und schlicht nicht wissen, dass es diese Menschen dort überhaupt gibt.

2009 zählten Sie zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt, zumindest für das Time Magazine.
(lacht) Ich habe denen gleich geschrieben, dass ich das ablehne, und sie schrieben mir zurück, was mir denn stattdessen vorschwebe? Also schrieb ich ihnen, dass ich, wenn schon, zu den 300 Spartanern gezählt werden möchte, die unter Leonidas bei den Thermopylen 300.000 Persern widerstanden. Das wäre mir eine wirkliche Ehre gewesen!

1991 waren Sie Direktor der Viennale, Sie lebten damals in Wien.
Ja, in der Nähe des Naschmarkts, einer meiner Söhne lebt noch heute hier. Ich wollte das damals gar nicht so wirklich, aber irgendwann habe ich zu Bürgermeister Zilk halt gesagt, wenn er jemanden braucht …

Und dann haben Sie gleich Ihren Freund Philippe Petit auf einem Seil vom Apollo Kino zum Flakturm im Esterházypark hinübergeschickt …
Na gut, das war ja sein Beruf. Aber weil Sie Apollo Kino sagen: Ich habe mich ja so bemüht, den wunderbaren, großartigen Regisseur Jean Rouch nach Wien zu bringen, der damals 80 Jahre alt war, ich wollte dem Wiener Publikum unbedingt dessen großartigen Film „Les ­maîtres fous“ (F, 1955) nahebringen. Und dann kommen wir da von hinter dem Vorhang im Apollo Kino, das damals wahrscheinlich 800 Sitzplätze hatte, auf die Bühne und schauen hinein ins Publikum, und der Raum war – leer! Nur 38 Leute waren gekommen! Das war so ein Schock für mich.

Wie hat der Meister reagiert?
Ganz gelassen. Er hat mich an der Schulter gefasst und getröstet.

So wie Sie damals John Waters?
Ja, genau.


Werner Herzog
Der 1942 in Bayern geborene Werner Herzog wurde berühmt durch seine Zusammen­arbeit mit Schauspielberserker Klaus Kinski, den er als „Fitzcarraldo“ (1982) ein ganzes Schiff über einen Berg ziehen ließ; die Dokumentation „Mein liebster Feind“ beschreibt das schwierige Verhältnis der beiden. Es folgten Spielfilme und vor allem zahlreiche Dokus, mit denen er seinen Ruf als „Soldat des Kinos“ festigte: „Grizzly Man“ erzählt die wahre Geschichte eines Tierfreundes, der in Alaska mit Grizzlybären kuschelt – bis sie ihn zerfleischen; in der TV-Serie „On Death Row“ besuchte er Insassen amerikanischer Todeszellen. Heute verehren ihn vor allem junge Film-Fans, in seinen Internet-Masterclasses lehrt Herzog: Bloß keine Filmschule besuchen! Heute lebt er zusammen mit seiner Frau Lena, einer Fotografin, in Los Angeles.

Das Filmarchiv Austria widmet dem Regisseur, Schauspieler und ehemaligen Viennale-Direktor eine weltweit erstmalige und umfassende Retrospektive. Werner Herzog „Soldat des Kinos“, noch bis 1. März im Metro Kino, Wien 1. filmarchiv.at