Interview

„Oper ist eine ernste Sache“

Dominique Meyer trägt die Generalschlüssel für zwei der wichtigsten Opernhäuser der Welt mit sich, als wir ihn zum Abschiedsgespräch in seinem Büro in der Staatsoper empfangen. Dort hat er schlechten Empfang für sein Dienst­handy und schlechte Erinnerungen an die „Gruppe von 50 bis 60 Leuten, die in diesem Land alles entscheidet.“

Datum: 22. 05. 2020 um 11.00 Uhr.
Ort: Büro des Staatsoperndirektors, Wien
Interview: Manfred Rebhandl
Fotos: Maximilian Lottmann

wiener: Herr Direktor, sind Sie gesund? Ich wurde unten gerade auf Fieber gemessen …
meyer: Diese Fiebermessungen habe ich aus Mailand importiert.

Waren Sie in letzter Zeit öfter mal illegal dort, weil Sie ja ab der kommenden Spielzeit Direktor der Scala sein werden?
Natürlich nicht, es gibt ja keine Flüge, und Illegales ist nicht meine Sache. Ich bin ja verantwortlich für viele Menschen und will kein Risiko eingehen. Außerdem ist die Scala ja eh geschlossen, dort ist die Epidemie ja noch stärker als bei uns.

Den Generalschlüssel aber haben Sie schon?
(Zeigt seinen Schlüsselanhänger.) Staatsoper und Scala. Es gibt vier wirklich wichtige Häuser auf der Welt, die beiden plus die Met in New York und den Covent Garden in London.

Und eines Ihrer drei Handys hier ist bereits ein Diensthandy aus Mailand?
Und ein Diensthandy der Staatsoper, das hier in meiner Wohnung ganz schlechten Empfang hat, sowie mein privates.

Sind Sie hart im Nehmen? Wenn ich Ihnen sage, ich war erst einmal in der Oper, „Don Giovanni“, sehr langweilig, und sitzen konnte ich auch nicht – erschüttert Sie so ­etwas?
(Lacht.) Ja!

Sie wuchsen in einem bürgerlichen Haushalt im Elsass auf …
Nein! Meine Familie war sehr einfach, mein Vater war Soldat, dann Diplomat, mein Großvater war Bauer. Jeden Freitag war die Frage, was er schlachten soll: eine Ente oder ein Kaninchen … wir hatten Eingelegtes im Keller, eigene Butter, Milch. Händler kamen vorbei, wir lebten beinahe autark. Später, als wir in Nimes im Süden lebten, liebten wir die mediterrane Küche. Ich koche selbst sehr gerne, Samstag, Sonntag immer für die Familie. Ich habe auch meinen Sohn unterrichtet, wie man kocht, italienische Sänger brachten mir wiederum die italienische ­Küche bei.

Haben Sie zugenommen in der Krise? Mit Sauerteigbrot vielleicht?
Nein, und Brot backe ich nicht.

Haben Sie heimliche Corona­abschiedspartys gefeiert?
Auch nicht (lacht). Aber es wird leider keinen richtigen Abschied von meiner Mannschaft geben. Normalerweise ist das hier ein Ameisenhaufen, jetzt ist es so ­ruhig: keine Proben, kein Singen, kein Orchester. Es gab Wochen, wo nur jemand von der Feuerwehr hier war. Ich kann mich vom Publikum, das mir sehr nah war, nicht verabschieden, das Orchester werde ich hier nicht mehr hören, den Chor, die Bühnenarbeiter nicht mehr sehen, das Ballett nicht. Ich mochte es, sie alle zusammen zu sehen, das ist ein bisschen bitter.

Haben Sie Balkonkonzerte besucht auf der Suche nach neuen
Talenten?
Nein, das wäre unernst, Folkore. Oper ist eine Sache, die man ernst nehmen muss, nicht jeder hat die Qualität für die Bühne. Ich höre mir bis zu 900 Sänger jedes Jahr an, davon engagierte ich vielleicht sechs.

Ihr erstes Erlebnis mit Oper ­hatten Sie …
… mit 18, als wir aus Südfrankreich nach Paris gezogen sind. Da habe ich mich entschieden, alles aufzusaugen, was die Kapitale an Kulturellem zu bieten hatte. Mit meinem Bruder war ich überall, im Museum, im Theater. Und einmal eben auch in der Pariser Oper, und da hat es mich erwischt.

Sie waren also gar nicht von Anfang an Teil dieser französischen Elite, die sich alles untereinander ausmacht?
Nein, gar nicht. Ich weiß auch überhaupt nicht, was „die französische Elite“ sein soll. Als ich Kind war, gab es kein Bewusstsein dafür. Ich war ein ganz guter Schüler, aber ich hätte mir nie vorstellen können, in eine Grand Ècole zu ­gehen …

… wo die Elite hingeht.
… das gehörte in eine Sphäre, die nicht unsere war. Ich bin ein Produkt der Republik, ich glaube wirklich, dass jeder seine Chance hat.

Egalité?
Ja. Die Voraussetzungen für mich waren nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut. Trotzdem habe ich in der Folge viele interessante Jobs bekleidet (lacht).

War das Wille, gab es einen Plan?
Nein! Ich habe mir nie eine genaue Vorstellung von meiner Reise gemacht. Das Wichtigste war, dass ich das Glück hatte, in verschiedenen Etappen meines Lebens Leute getroffen zu haben, die meine Wegweiser waren. Zwei Professoren an der Uni, die sehr wichtig für mich waren, oder später Jack Lang, mit dem ich einen schönen Spaziergang machte, während dem ich vieles gelernt habe.

Sieht er in echt so gut aus wie auf allen Fotos?
Jack Lang ist vor allem der beste Politiker, den ich in meinem Leben getroffen habe, sehr kompetent, ein Schwerarbeiter, mutig. Er hat immer die Ziele gesehen und keine künstlichen Hindernisse aufgebaut, hatte Vertrauen in junge Menschen. Am Samstagvormittag gab es in seinem Büro immer eine Kaffeerunde mit sechs, sieben ­Leuten, das war die „Ideenbüchse“. Man durfte alles sagen, wider­sprechen, war total frei. Da sind viele Sachen entstanden.

Haben Sie sich dann selbst ­geschult, indem Sie Opernplatten gesammelt haben?
Ich habe Tausende Aufnahmen, eine riesige Sammlung. Schallplatten habe ich nicht mehr, aber CDs und am Computer. Ich bin kein überheblicher Mensch, aber ich kann jede Oper besetzen, weil ich jede Oper kenne. Ich kann mit jedem Dirigenten ein symphonisches Konzert auf die Beine stelle, weil ich das Repertoire kenne. Ich kann mit ­jedem Pianisten einen Abend gestalten, mit jedem Quartett etwas programmieren, weil ich das alles kenne. Es gibt keine Uni, wo man das lernt. Man lernt besser aus Leidenschaft.

Sie wissen auch, welcher Dirigent es traditionell gemütlich anlegt und welcher aufs Tempo drückt?
Natürlich. Vor ein paar Jahren konnte ich einen Pianisten identifizieren, ohne ihn zu sehen, jetzt kann ich es nicht mehr, weil ich in letzter Zeit weniger Klavier gehört habe. Das ist wie Wein verkosten, das hat zu tun mit Analyse und Gedächtnis, das muss immer geübt werden.

Waren Sie ein „Ziager“, wie man in Wien sagt? Einer, der viel unterwegs war? Kriegen Sie im Sacher zu jeder Tages- und Nachtzeit Ihr Schnitzerl?
Ja, ja, nach einer Vorstellung gibt’s noch Spannung, die wird abgebaut, aber nicht so viel im Sacher, wir gehen lieber in kleinere Lokale. Es gibt ja Gott sei Dank so viele heute, als ich in den 80er-Jahren hier war, gab es gar nichts.

Gehen Sie auch zum berühmten Würstelstand hinter der Oper und können Sie „eine Eitrige, bitte!“ mittlerweile ohne Akzent bestellen?
Ohne Akzent wird das nie gehen. Und das Problem ist, dass dort oft eine Schlange steht.

Werden Sie nicht vorgelassen?
Das will ich nicht.

Nützen die Leute dann die ­Gelegenheit, Sie um Freikarten ­anzujammern?
Man weiß, dass wir keine Freikarten vergeben, ich bin sehr gegen Freikarten. Was wir hier machen, ist etwas wert, darum muss bezahlt werden.

Stichwort Oper als hochpreisiges Vergnügen: Haben Sie im Publikum schon mal Russen, Chinesen oder heimische Prominenz gesehen, bei der Sie sich dachten: Du hast das Geld nicht legal verdient, das du hier für teure Karten ausgibst!
Das Publikum ist eine wichtige Dimension hier an der Staatsoper, 400.000 im Jahr davon sind Österreicher, das sind 70 Prozent. 30 Prozent sind Gäste aus dem Ausland, viele aus Deutschland, viele aus Japan. Dann kamen die Russen, jetzt nicht mehr so stark …

… weil sie ihr Schwarzgeld nicht mehr so einfach hereinbringen?
Diese Frage stelle ich mir nicht. Ich glaube an das Positive im Menschen.

Als Sie in Paris lebten: Wollten Sie nie leben wie Serge Gainsbourg?
Nein, denn ich kannte ihn! Er wohnte 50 Meter von uns entfernt in unserer Straße. Er war ein wichtiger Künstler, aber als Mensch oft in einem Zustand, den man sich gar nicht vorstellen kann. In unserem Haus war die Trafik, wo er die Zigaretten gekauft hat, und er hat viele gekauft! Auch hat er seine Abende oft im Kommissariat in der Nähe beendet, wo er mit einer Flasche Rotwein hingegangen ist und mit den Polizisten getrunken hat.

Aber zu „Je t’aime“ haben Sie schon eng getanzt?
(Lacht.) Nein, nie. Ich habe keinen Führerschein fürs Tanzen.

„La Boum“, den Film, haben Sie gesehen?
Natürlich, das war meine Jugendzeit. Alle jungen Menschen haben diesen Film gesehen.

Sie waren auch an der Organisation der Fußball-WM in Frankreich beteiligt …
… und lese die „L’Équipe“, seit ich geboren bin. Diese Sportzeitung habe ich sehr vermisst als ich nach Wien kam. Deswegen habe ich mir gleich ein Tablet gekauft, jeden Tag beginne ich um sechs Uhr mit ­einem Blick in die „L’Équipe“.

Sie erinnern sich noch an die großartige Europameister-Mannschaft aus 1984?
Joel Bats im Tor, Bossis, Battiston, Platini, Tigana, Six, Giresse, Rocheteau … in meiner Kindheit spielte Frankreich Fußball wie die Österreicher, sie haben nie etwas gewonnen, denn am Ende gewannen immer die Deutschen (lacht). Dann kamen die 80er-Jahre um Platini, dann die Generation um Zidane, nun die um Mbappé …

Die Nationalmannschaft spiegelt die Entwicklungen im Land?
Sie ist das Beste von Frankreich, sie ist sehr bunt. Sie zeigt, dass auch Menschen mit nordafrika­nischer Herkunft ganz nach oben kommen können, aber es wäre naiv, zu denken, dass eine „bunte Mannschaft“ allein wichtige ­Probleme der Gesellschaft löst.

Probleme gibt es genug in Frankreich. Haben Sie eine Gelbweste im Schrank?
Nein, und ich bin auch nicht begeistert von den Gelbwesten. Sie sind das Resultat einer Politik, wo man viel zu viele Menschen auf der Seite liegen gelassen hat, obwohl Frankreich ein sehr solidarisches Land ist. Ich fühle mich wohler in einer Gesellschaft, die Parteien und Gewerkschaften kennt.

Übersiedeln Sie immer mit großem Gepäck, oder lassen Sie auch mal etwas zurück?
Nein, ich schleppe immer alles mit, vor allem meine Musiksammlung.

Würden Sie in Mailand auch Direktor bleiben, sollte Salvini dort doch noch sein erträumtes neofaschistisches Regime errichten?
Ich habe schon hier gesagt: Wenn Hofer Präsident wird, dann gehe ich.

Würden Sie ein unmoralisch hochdotiertes Angebot eines Diktators annehmen, sein eigenes für ihn errichtetes Opernhaus zu leiten?
Nicht einmal im Albtraum.

Greta würde sagen, Sie haben ­einen großen ökologischen Fuß­abdruck wegen ihrer vielen Flüge im Internationalen Opernbetrieb.
Dafür habe ich kein Auto, aber man lehnt den Betrieb ab, oder man macht ihn mit. Ich kenne übrigens die Mutter von Greta sehr gut, weil ich sehr oft mit ihr gearbeitet habe. Sie ist eine wirklich sehr gute Sängerin, hat viel im Theater an der Wien gesungen und bei mir in Paris.

Wer ist die beste Königin der Nacht?
Nächste Frage. Beziehungsweise haben wir in Wien ein Juwel, eine 22-jährige Italienerin, die im Dezember ihre erste Königin der Nacht hier gesungen hat. Wissen Sie: „Der/die Beste“ ist kein Begriff, wir sind ja nicht bei den Olympischen Spielen. Gut, schlecht. Was soll das? Wenn die Leute um eine Regie streiten – das sind einfach unterschiedliche Geschmäcker, und viele kennen sich nicht aus.

Apropos Geschmack: Beneiden Sie Rolando Villazón um seine schönen Haare?
(Lacht.) Ich habe seit Langem keine Haare mehr und kann damit sehr gut leben. Ich mag Villazón, aber nicht wegen seiner schönen Haare. Ich war mit meinem Sohn einmal im Stade de France, weil er unbedingt Zidane sehen wollte, als Frankreich gegen Mexiko gespielt hat. Bei den Hymnen höre ich plötzlich hinter mir einen singen, also richtig gut singen, wo ich mir dachte: Der könnte Sänger werden. Als ich mich umdrehte, war es Villazón (lacht)

In zwanzig oder dreißig Jahren, wenn Sie vielleicht in Pension gehen, wollen Sie sich dann doch noch ein Rolling-Stones-Konzert mit einem dann 100-jährigen Mick Jagger ansehen? In Ihrem T-Shirt mit der berühmten Zunge drauf?
Nein, als ich jung war, konnte ich mir diese Konzerte nicht leisten, und dann hat mich die Oper ­einfach mehr interessiert. Und unsere Familie war nie eine T-Shirt-Familie.

In welcher Stadt wollen Sie später Ihre Beine hochlegen? Eine Wohnung werden Sie sich ja überall leisten können, anders als viele ­andere Menschen.
Das ist eine Frage, die ich mir hin und wieder stelle: Eigentlich bin ich entwurzelt, einen Ort, an den ich mich gebunden fühle, gibt es nicht. Was könnte ich als Bewohner von Paris erleben, was ich nicht in fünf Tagen als Tourist auch erleben könnte? Paris ist schmutzig geworden, sehr stressig, sehr laut. Und was die Wohnung angeht, ist nur die Frage interessant, ob sie drei oder vier Zimmer hat.

Dann vielleicht vier in Wien?
Wien ist eine gefährliche Stadt, sie packt dich, alles ist einfach hier, die Lebensqualität ist sehr hoch, es ist locker, alles ist sauber. Allerdings ist man hier als Staatsoperndirektor keine Privatperson, man wird angesprochen …

Auf den Opernball?
Die Organisation des Opernballs fand ich sehr interessant, wir haben sehr viel reformiert. Ich habe aus meiner Erfahrung der Filmfestspiele in Cannes vieles mitgenommen. Nach meiner Meinung war der Opernball sehr chaotisch, er war wie eine Messe: dieses Gedränge bei der Stiege, diese Nichtorgansisation, schrecklich. Also haben wir zwei Drittel der Fotografenakkreditierungen gestrichen. Dann haben wir den Fernsehteams fixe Standplätze zugeteilt. Dann haben wir fixe Zeiten für wichtige Besucher festgelegt, zu denen sie empfangen wurden. Wir haben auch sehr viel in die Ausstattung investiert und die Künstler des Hauses ins Zentrum gestellt.

Richie Lugner?
Richard Lugners Namen habe ich nie öffentlich in den Mund genommen, ich tue dies hiermit zum ersten Mal. Aber weil Sie am Anfang von Elite gesprochen haben: Was ich hier gar nicht mag, das ist diese kleine Gruppe, quasi dieses Gremium von vielleicht 50 oder 60 Menschen in Österreich, die der Meinung sind, dass sie alles entscheiden dürfen. Und die das auch tun.

Die mischen sich auch in Ihre ­Geschäfte ein?
Ja.

Auch auf die unangenehme Art?
Ja.

So „Ich lass dich spüren, wer hier das sagen hat“?
Ja.

Auch auf bedrohliche Art?
(Nachdenklich) Das entscheidet ­jeder selbst, wie er damit umgeht. Ich habe Abstand gehalten zu ­ihnen. Aber die kommen und ­mischen sich ein, ja.

Und das haben Sie nur hier ­erfahren?
Ja. Niemand hat zum Beispiel etwas gesagt, als ich den Ballettchef ernannt habe. Aber als es um die Stelle der Ballorganisatorin ging – unfassbar! Ich habe dann zu Minister Ostermayer gesagt: „Ich hoffe, dass die Republik auf ihren Sockeln stehen bleibt.“

Und diese „Leute“ wohnen alle hier im ersten Bezirk?
Manche auch im 19. (Lacht.) Jedenfalls wird hier vieles in Clubs entschieden, bei Abendessen … als Fremder war das sehr interessant zu beobachten.

Daraus machen wir irgendwann eine eigene Geschichte, versprochen?
Gerne. Au revoir!


Dominique Meyer
wurde 1955 im französischen Elsass geboren, in Paris studierte er Wirtschaftswissenschaften und war als Politberater in verschiedenen ­Ministerien sowie bei der Organisation von Kultur- und Sport­events tätig. Nach Stationen an den Opern in Paris und Lausanne wechselte er 2010 nach Wien an die Staatsoper, die er seither als ­Direktor leitete. Er ist verheiratet und hat einen Sohn.