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Kein Corona – Kobra, übernehmen Sie!

Manfred Sax

In ganz Indien sorgt Corona für katastrophale Zustände. Aber in einem Dorf Westbengalens, wo 6.000 Menschen mit 3.000 Kobras in friedlicher Lebensgemeinschaft wohnen, ist das Virus bis dato nicht mal ein Gerücht.

Text & Fotos: Manfred Sax, Palani Mohan

„Die ersten Jhaenglai kriechen gerade aus ihren ­Löchern“, erzählt Utsab euphorisch und schickt per Handy ein Bild. Ein ausgesprochen hübsches Exemplar, gut eineinhalb Meter lang – eine Monokelkobra, auch „Schwarze Kobra“ genannt. Wenn sie ihre zehn Hals­wirbeln spreizt und jener namensgebende, dottergelbe Ring auf ihrer Haube ersichtlich wird, ist Abstand angebracht; von der Giftkonzentration her ist sie die tödlichste aller Kobras. Ein 90-Minuten-Ticket in den Tod. Falsche Bewegung genügt, schon hast du es gelöst. Aber man gewöhnt sich. Der Mensch gewöhnt sich an alles, was aus seinem Lebensraum nicht wegzudenken ist.

Utsab ist ein Student aus Mosaru, einem von vier Dörfern Westbengalens, die in keiner Landkarte vermerkt sind. Der östlichste Bundesstaat Indiens wird von ­etlichen Seitenarmen des Ganges durchkämmt, die in den Monsunmonaten von Juni bis August über die Ufer treten. Das bringt Katastrophen, und es bringt Segen: eine halbe Milliarde Tonnen nährstoffreichen Schlamm. Perfekter Boden für Reis, der Westbengalen den Ruf der „Reisschüssel Indiens“ einbrachte. Es ist das dichtestbesiedelte Gebiet der Welt, jeder zehnte Weltbürger lebt am Ganges. Aber Mosaru und die Nachbardörfer, inmitten von Reisfeldern gelegen, sind fast verschlafen wirkende Orte. Knapp 6.000 Menschen wohnen dort, Wachstum unwahrscheinlich. Trotz friedlicher Atmosphäre und beschaulicher Lage will niemand hin. Der Grund: Die Dörfler teilen sich den großzügigen Lebensraum mit ominös vielen schwarzen Kobras. Seit Jahrhunderten. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Einer Schätzung von Zoologen zufolge ­leben die 6.000 Menschen mit 3.000 Monokelkobras in einer einzigartigen Lebensgemeinschaft. Im restlichen Indien werden die tödlichen Reptilien als Plage ein­gestuft. Wer eine sieht, will weglaufen oder sie umbringen. Aber hier sind sie sicher. Die schwarze Kobra gilt als Freundin der Dörfer und hat als Jhaenglai einen makellosen Ruf. Tatsächlich hat sie VIP-Status. Sie gilt als Regenbringerin, sie sorgt für Fruchtbarkeit. Wenn sie aus ihren Löchern kriecht, ist der Monsun nicht weit. Das macht Utsab so euphorisch. Es wird ein guter Sommer, sagt er, normalerweise kommen sie erst im Juni raus. Im Februar finden die Männchen ihre Weibchen, letztere bestücken die Löcher und Gruben des Dorfes mit je 18 bis 30 Eiern, aus denen im Mai die nächste Generation schlüpft – mit gehörigem Hunger. Also kriechen sie aus den Löchern – und bringen den Monsun. Den brauchen sie, denn mit dem Monsun kommen die Ratten und Frösche. So was schaffen nur höhere Wesen. Die schwarze Kobra wird denn auch als Reinkarnation einer Gottheit namens Jhankeshwari gefeiert. Niemand darf ihr ein Leid antun. Und all­jährlich im Juli wird ihr ein großes Fest bereitet, das „Jhankeshwari Puja“, in welchem eines dieser schönen Geschöpfe am Altar des Schlangentempels in Milch und Honig gebadet wird. Ich war einmal zu einem Puja eingeladen, wenn auch vor Corona.

Heuer ist die Lage in Indien so prekär wie nie zuvor, bei Redaktionsschluss waren 20 Millionen Corona-Fälle registriert. Ja, bestätigt Utsab, „in Delhi und Mumbai ist es besonders schlimm, und mit den öffentlichen Wahlkampagnen kam die zweite Welle auch nach Westbengalen. Aber nicht zu uns. Wir haben keinen einzigen Corona-Fall in Mosaru. Das Dorf mit dem Schlangentempel ist beschützt.“ Was nicht wirklich erstaunt. Es will ja niemand hin. Zwischen Kolkata (dem früheren Kalkutta) im Golf von Bengalen und Mosaru liegen 130 Kilometer, das ist eine halbe Tagesreise durch Chaos und Lärm. Aber nach Passieren eines „Balgona-Kreuzung“ genannten, total übervölkerten Umschlagplatzes tritt plötzliche Stille ein. Keine Menschenmassen mehr, nur noch im Sonnenlicht glitzernde Reisfelder. Und bist du mal in Mosaru, wirst du ­belehrt. Es gibt Verkehrsregeln, denn die Kobra ist im Sommer überall – in Büschen, unter Steinen und Dächern, bisweilen auch direkt am Weg. Und weil kommunikativ zwischen Mensch und Reptil nichts läuft, hat die Kobra immer grünes Licht. Ein Respektabstand von zumindest einem Meter muss eingehalten werden, so weit reicht ihr Angriffsstoß. Social Distancing ist in Mosaru seit jeher Lifestyle. Weil die Jhaenglai eine Gottheit ist, dürfen sie nur Angehörige des Hohepriester-Clans berühren. Das sind die Regeln, die kein Bürger Mosarus jemals verletzt, erklärt Utsab, weil: „Ein Gott lässt sich nicht hinters Licht führen.“ Wird dennoch mal eine Jhaenglai tot aufgefunden, bettet sie der Priester in ein Tongefäß und bestattet sie im Ganges. Ein Respekt, der zu absurd anmutenden Zahlen führt: In Indien kommen alljährlich im Schnitt 50.000 Menschen durch Schlangenbisse um ihr Leben. Aber der letzte Schlangenbiss in Mosaru ereignete sich vor fünf Jahren, sagt Utsab.

Der Segen für die „Reisschüssel“ Indiens fußt im Ökosystem. „Denken Sie mal nach“, erklärte mir damals Deepak Mitra, Schlangenexperte aus Kolkata. „Ein Rattenpaar kann sich innerhalb eines Jahres auf 880 Exemplare multiplizieren. 25 Prozent des indischen Getreide- und Reisanbaus werden von Ratten verzehrt. Mit jeder Kobra, die du tötest, zeugst du­ unzählige Ratten.“ Kein Wunder, dass die Reisernte in Mosaru so ergiebig ist. Wenngleich Shyamal Chakraborty, Hohepriester des Dorfes, das Ökosystem anders vermittelt. Während die Wissenschaft davon ausgeht, dass die Kobras vor 600 Jahren von einer Flut angeschwemmt wurden, baut er auf eine Hindu-Legende. Demnach habe die schwarze Kobra sich im Jahr 911 auf Befehl der Schlangengöttin Manasa angesiedelt. Weil der Reisertrag sich daraufhin enorm verbesserte, wurde der Göttin der kleine, knapp fünf mal fünf Meter große Tempel errichtet. Und das Fest zu ihren Ehren wird auch heuer wieder gefeiert, sagt Utsab, wenngleich diesmal nur für die Bürger der vier Dörfer. Am 25. Juli wird ab fünf Uhr früh von Tablas ­getriebene Musik durchs Dorf plärren, werden die Menschen vor dem Tempel der Göttin huldigen und zwei Ziegen opfern. Und als Höhepunkt wird Nayan Chakraborty, Sohn des Hohepriesters, eine besonders hübsche Jhaenglai selektieren und sie am Tempel segnen. Es wird die Mutter aller Feste sein, und Corona wird keine Chance haben, der Kobra sei Dank.

Jhankeshwari Puja
Erntedankfest zu Ehren der Schlangengöttin Manasa; Mosaru, Westbengalen, Indien, am 25. 7. 2021.