AKUT
HIGH NOON IN ENNS
Im Juni 1988 blickte die Welt in die ob-der-ennsischen Kleinstadt, welche die Huldigung von Papst Johannes Paul dem Zweiten zelebrierte! Das dynamische Duo Erich Reismann (Fotograf) und Manfred Sax (Journalist) recherchierte im Vorfeld für den WIENER etwaige Besonderheiten, die das Land-ob-der-Enns zu bieten hätte ….. Eine Zeitreise in Schwarz & Weiß Teil 1:
Das altrömische Nest erwartet den Besuch des Papstes. Hat die ob-der-ennsische Kleinstadt sonst noch was Besonderes zu bieten? Ja, sie hat: Eine widerspenstige Bande von Originalen, die dem Irrwitz des Seins beharrlich Widerstand leisten.
MAD IN AUSTRIA
Enns glüht in der Mittagshitze. „Jonny Zieh“ steht breitbeinig auf dem flimmernden Asphalt des Stadtplatzes, vor ihm der Ennser Turm und ein behelmter Polizist, der gerade lässig von seiner 500er Maschine gestiegen ist und jetzt Richtung ,,Johnny Zieh“ äugt. Der Platz liegt in gespenstischer Stille, wie an jedem Samstag nach der Vormittagshektik. Nur rechts von Johnny sitzen ein paar Kurzweiler unter Schirmen im Gastgarten des Hotels „Brunner“ und beobachten die Szene. Johnnys erlebnisgegerbtes Gesicht wirkt verkniffen, aber gelassen. In seinem Mundwinkel steckt ein kalter Zigarettenstummel. Die rechte Hand baumelt locker an der Naht seiner zerschlissenen Hose, drei Finger gekrümmt, aber Daumen und Zeigefinger zu einem imaginären Revolver gespannt. Als der Polizist eine Bewegung macht, geht ein Ruck durch Johnnys Körper. Er wirft sich nach rechts, und im Fallen drückt er dreimal ab. Vom „Brunner“ her dröhnt Gelächter. Johnny Zieh steht auf, klopft sich ab und hinkt davon. Die Stadt Enns ist um eine Anekdote reicher.
Die Ennser lieben solche ,,G’schichtln“. Sie stehen überhaupt sehr auf Lachen. Oft wirkt die Lache aufgesetzt. Aber wenn es um Leute der Qualität von „Johnny Zieh“ geht, kommt sie von Herzen. Und Originale mit Sinn für die Reizschwelle eines Normalbürgers sind in Enns kein Einzelfall.
ENNSER G’SCHICHTEN
Die „Aigner Res“‚ ist so ein Original. Es fällt ihr leicht, eine Prise Absurdität in die Monotonie eines Geschäftsalltags zu zaubern. Sie braucht nur etwas zu kaufen und dann das Geschäft wieder zu verlassen, schon bricht hinter ihr die Hektik los: die Verkäufer fuchteln wie wild mit Spraydosen herum, als wär die Res‘ eine Hexe und in den Dosen Weihrauch. Dabei trägt Res‘ nur ein Parfum, das nicht im Ennser Trend liegt.
Bei anderen hat ein Kennzeichen bereits den Namen ersetzt: Kaum einer kennt den Walter, aber jeder den „Hupferten“, jenen kleinen Mann, der sich samstags und mittwochs mit Holzbein und Leiterwagen abmüht und ab und zu der um zwei Köpfe größeren Res‘ um den Hals fällt. Stadtbekannt sind auch die „Tiger-Tanga“, Pinocchio, das ,,Lipperl“, die „Moped-Lies“ und der „Huschhusch“. Man nennt sie „die Bladern“, obwohl sie nur lose miteinander zu tun haben. Was sie eint: sie sind origineller als der Rest von Enns. Sie unterscheiden sich in Aussehen, Auftreten und Umständen extrem von dem landesweit als Idealmaß gefeierten Mittelmaß. Und sie haben zu gewissen Orten keinen Zugang. Beim „Brunner“ zum Beispiel sitzen nur die oberen Zehntausend im Betongarten. Da gehört die „Bladern“ nicht dazu. Und das bei gezählten 9721 Ennser Einwohnern (Anm.: Am 1. Jänner 2022 hatte Enns 12.025 Einwohner)
ENNSER WITZE
Das Land ob der Enns ist nicht eines jeden Most. Dem gewieften, von Osten her kommenden Autofahrer ist der Ennser Turm eine Warnung: ,,Fenster schließen und Vollgas!“ drückt sie aus. Und prompt stößt man ab St. Valentin auf üble Luft, die selbst Hungrige unverzüglich satt macht. Es käme einem spontan absolut kein Grund in den Sinn, von der Autobahn ausgerechnet zur ältesten Stadt Österreichs abzubiegen, wär‘ da nicht der Papst. Daß der Neorömer Ende Juni die Ennser Erde küssen soll, ist eine von den Diözesen Linz und St. Pölten arrangierte Fügung. Man hatte sich auf keine der beiden Hauptstädte einigen können. Die Ennser Stadtväter sprechen seither einem Prinzip Hoffnung das Wort. Der weltweite mediale Niederschlag soll Enns auf der internationalen Landkarte des Städtetourismus etablieren. Was nicht leicht einzusehen ist. Abgesehen von römischen Mauerresten, einem ersäuften Märtyrer und einem in besseren Tagen erbauten Turm hat Enns wenig zu bieten. Außer Lipperl und Co., wie gesagt. Aber die sind der Stadtgemeinde eher peinlich. •
„Lipperl“ hat mit dem Papst nichts gemein. Erstens ist er evangelisch, zweitens liegen bei ihm zu Hause genug Zahlscheine für den eigenen Glauben. Daß für den katholischen Vater jetzt die Millionen lockergemacht werden, macht ihn die Fäuste ballen. Bei der Notstandshilfe muß er um jeden Hunderter betteln. Eigentlich heißt er Bruno. Aber Oberösterreicher sind eben optische Menschen. Und Bruno sieht mehr nach „Lipperl“ aus als nach „Bruno“. Die große Lippe holte er sich beim Boxen. Er war zu häufig Sparringpartner schwerer Brocken. Wettkampfmäßig brachte er 16 Duelle hinter sich, wovon er fünf gewann. Bruno wurde vor 44 Jahren in Bad Ischl geboren. Nach einem Transfer in den 60er Jahren hatte er sich in Enns an einen neuen Vater zu gewöhnen. Der hieß „Tupferl“ und war Staatsmeister im Boxen. Er stand ein paar Klassen über Bruno, aber niemand kann sagen, der Stiefsohn hätte es nicht versucht. Die Lippe ist sein Beweis. Heute drücken Brunos Gesicht und Körper präzise die Geschichte seines Lebens aus: fünf Jahre VOEST, zehn Jahre Hilfsarbeit, vier Jahre Notstand. Ein Zimmer um ÖS 350,-. Kein Klo. Wasser im Hof. Mit der Krise der Industrie war auch die seine perfekt. Und als er einmal Holz stahl, weil ihm kalt war, war der Ofen aus. Er hält sich gern in der Nähe des Turmes auf. Der Turm paßt zu ihm. Eigentlich wird der Turm erst durch ihn wirklich sehenswürdig. Wer mit ihm einmal raufgestiegen ist, weiß das. Neben den Glocken stehend, sprüht er magische Kräfte, die den Beschauer ins Notre Dame eines anderen Jahrhunderts reisen lassen. Und vor der Tür zur Turmwächterin beweist er kalten Geist. Auf die Frage, was es denn hier zu bewachen gäbe, kontert er mit Pokergesicht: ,,den Turm!“ Brunos Stiefvater „Tupferl“ beging eine große Gemeinheit: Nach dem Tod der Mutter holte er sich mit „Moped Lies“ eine Freundin ins Haus, die zehn Jahre jünger als Bruno war. Das war ein Tiefschlag. Aber als ihn sogar die Lies einmal mit der Faust auf die Bretter holte, sah Bruno den Boden der Dinge.•
Sie gilt als Emanze: eine Henne sieht rot.
Die Moped-Lies ist hart. Härter noch ist ihr Ruf. Sie sei ein Mannsweib, heißt es in Enns. Sie fährt Moped. Sie prügle Männer aus den Lokalen. Sie habe Freundinnen. Irgendwie gilt sie als das, was man in Enns unter ,,Emanze“ versteht: eine Henne sieht rot. Für die Lies ist es mehr das Bedürfnis, sich nicht alles gefallen zu lassen. Unter Alkohol geht sie halt dann manchmal weiter, als es gesund ist. Dafür hat sie heute sieben Monate Gefängnis hinter sich, und das mittlerweile vierjährige Kind wurde ihr weggenommen. In ihren Augen ist Enns die Stadt, wo man nichts machen kann. Hier schert sich jeder um den andern mehr als um sich selbst. Wenn sie hier Arbeit sucht, ist sie von vornherein abgestempelt. Sie kam vor acht Jahren hierher, als Schmucklöterin für die Firma „Gablonzer“. Für 4000 Schilling pro Monat hielt sie zwei Jahre lang durch. Mit dem „Tupferl“ war es ähnlich: zwei Jahre, dann stank ihr seine Eifersucht. Dafür versteht sie sich jetzt mit dem Bruno. Mit der „Bladern“ hatte sie ohnehin nie Probleme. Mit denen kann man wenigstens reden. Ihr liebster Gesprächspartner ist ja leider nicht mehr.
Zur Sperrstunde sagte er: ,,Husch-husch, in die Betten!“
„Huschhusch“ ist seit einem Jahr tot. Man nannte ihn auch den „Herrn Hans“. ,,Huschhusch“ war allseits beliebt. Er hatte sogar einen Draht zum Establishment: die oberen Zehntausend sprachen mit ihm. Weil er perfekt war. ,,Huschhusch“ war ein geborener Tragöd. Er hatte den schönsten Beruf unter der Sonne gelernt: er war Melker. So was ist pures Glück, denn Kühe sind angenehme Lebewesen, und Zitzen ohnehin göttlich. Vor nun schon einigen Jahrzehnten holte die Ob-der-Ennser-Landwirtschaft zu einem Schicksalsschlag aus: sie stellte von Vieh auf Getreide um. Damals war er noch der Hans. Als er seine kuhlose Zukunft mit Fassung und Würde trug, wurde er zum „Herrn Hans“. Sein Auftreten war so gepflegt, daß ihn das Lokal ,,Stauder“ als Barmann beschäftigte. Zur Sperrstunde sagte er immer ganz sanft: ,,Huschhusch, in die Betten.“ – Er avancierte bald zum Gaudium für die Gäste. In Enns ist Stil etwas Lustiges. Man spendierte ihm Drinks, und zwar so lange, bis er umfiel. Er fiel immer häufiger um, bis er am 17. 1. ’87 nicht mehr aufstand. Sein Begräbnis war 14 Leuten ein Beisein wert und einem Franziskanermönch ein Gebet. •
Ohne „Huschhusch“ sind die Zeiten nicht mehr ganz so wie früher. Es fehlt der Szene die Seele. Auch die Auftritte von ,,Johnny Zieh“ werden selten. Es geht bergab mit ihm. Vor zwei Monaten brach er sich ein Bein, kam ins Krankenhaus, und kaum war er wieder frei, brach er das andere Bein. Auch „Tiger-Tanga“, eine stolze alte Dame, die sommers gern im Tanga spazierengeht, ist störrisch, seitdem ein Ennser Spaßvogel sie nackt fotografierte. Das Foto wurde Teil der Dia-Show einer Linzer Disco.
DER „HURENSENGEL“
Und der „Hurensengel“, ein Mann mit einem Gesicht wie ein alter Holzzaun, ist gebrochen. Jahrelang war er poetischer Muskel der Stadt, wenn er mit Moped, Anhänger und daraufsitzendem Hund vorfuhr. Der Hund war sein alles. Der Hund bekam Fleisch. Der „Hurensengel“ gab sich mit Knackwurst zufrieden. Jetzt ist sein ein und alles tot, und der adrenalinhältige Aufschrei „Hurensengel!“ will nicht mehr von des Mannes Lippen.
VITUS !!!!!
Fast könnte man um den Outcast- Nachwuchs bangen, wäre nicht die Industrie auf Rationalisierungstrip. Vor kurzem wurde die Ennser Zuckerfabrik „Sugana“ geschlossen, und in der VOEST werden die nächsten paar hundert Entlassungen vorbereitet. ,,Vitus“ ist ein frischgebackener Ex-VOESTler. Er wollte zuerst nicht gehen, da steckte man ihn zu den Hochöfen, worauf er aufgab. Vitus ist 50 und gleicht „Vitus Mostdipf“, dem Landessymbol der Ob-der-Ennser, aufs Haar. Er braucht nur zu einem Schmalzbrot zu greifen, um Teile der Umgebung zum Kichern zu bringen. Vitus hätte Chancen zum Star der Szene, wäre er nicht als „Lois“ schon seit Jahren der Star der Ennser Laienbühne gewesen. Seine Spezialität waren Schwänke der Löwinger-Art. Er brauchte nur auf der Bühne erscheinen. Der Rest bestand aus Warten, bis sich das Publikum beruhigte. Er hat nicht Frau noch Kind noch Hund. Seine Liebe gehört der kalten Fleischplatte und dem Most. Vor kurzem machte er einen Fehler. Er ließ sich im Spital routinemäßig durchsuchen. Seither lassen sie ihn nicht mehr raus.
Zur Zeit steht Enns im Zeichen der Vergänglichkeit. Arbeitsplätze wackeln. Am Industriehafen legt gerade noch ein Schiff pro Jahr an. Um das zu symbolisieren, wird dem Papst für die ,,Stunde der Begegnung“ ein rostiges Kreuz gefertigt. Und auf den Dächern der Stadt übt die Anti-Terror-Truppe „Kobra“ probeliegen, um des Papstes Vergänglichkeit zu verhindern. Gewisse Dinge bleiben auch gleich: am Stadtplatz herrscht die „Lex Brunner“. Wenn das Wetter schön ist und ein Parkplatz frei, erweitert der Brunner seinen Garten. Dortselbst kreisen launige Scherze: ,,Am liebsten wär‘ i in Südafrika. Da dürfen die Schwarzen nicht wählen“, wird da der rote Bürgermeister zitiert. Und ein Mann in Tracht sitzt vor einer Torte, verscheucht eine Wespe und kommt ins Sinnieren: ,,I mag kane Wepsen . . . i mag kane Goissn … und Juden mag i scho goa net.“•
ENNSER ANEKDOTEN
Enns ist also eine Kleinstadt wie viele in Österreich und reizte kaum zum Besuch wär‘ da nicht diese „Bladern“ von Originalen, die bei guter Lage den Alltag in ein Fest verwandeln können. Dann boxt „Lipperl“ mit seinem Schatten, der „Hupferte“ probt mit der „Aigner-Res „‚ ein ungestümes „Romeo und Julia“. Eine jetzt hochgeschlossene „Tiger-Tanga“ nähert sich auf Zehenspitzen und schiebt dem „Hupfertn“ verstohlen eine Zwanziger-Note in die Tasche. Ein anonymer Bauer fährt mit Traktor und verkehrt zur Fahrtrichtung am Anhänger sitzender Frau vor. Er verschwindet in einem Geschäft, während die Frau starr sitzenbleibt. Nach zehn Minuten kommt er wieder raus, besteigt den Traktor und fährt weiter. Die Stadt Enns ist um eine Anekdote reicher. _________________________________