AKUT

HIGH NOON IN ENNS

Christian Jandrisits


Im Juni 1988 blickte die Welt in die ob-der-ennsischen Kleinstadt, welche die Huldigung von Papst Johannes Paul dem Zweiten zelebrierte! Das dynamische Duo Erich Reismann (Fotograf) und Manfred Sax (Journalist) recherchierte im Vorfeld für den WIENER etwaige Besonderheiten, die das Land-ob-der-Enns zu bieten hätte ….. Eine Zeitreise in Schwarz & Weiß Teil 1:

Erich Reismann (Fotos) und Manfred Sax (Text) besuchten Österreichs unfreiwil­ligste Lebenskünstler. 

Das altrömische Nest erwartet den Besuch des Papstes. Hat die ob-der-ennsische Kleinstadt sonst noch was Besonderes zu bieten? Ja, sie hat: Eine widerspenstige Bande von Origina­len, die dem Irrwitz des Seins beharrlich Widerstand leisten.

MAD IN AUSTRIA

„JOHNNY“ ZIEH, 53, in seinem Keller. Bei Duellen ist er unbesiegbar. Keiner zieht den Revolver aus Daumen und Zeigefinger schneller als er.


Enns glüht in der Mittagshitze. „Jonny Zieh“ steht breitbeinig auf dem flimmernden Asphalt des Stadtplatzes, vor ihm der Ennser Turm und ein behelmter Polizist, der gerade lässig von seiner 500er Maschine gestie­gen ist und jetzt Richtung ,,Johnny Zieh“ äugt. Der Platz liegt in gespensti­scher Stille, wie an jedem Samstag nach der Vormittags­hektik. Nur rechts von Johnny sitzen ein paar Kurzweiler un­ter Schirmen im Gastgarten des Hotels „Brunner“ und be­obachten die Szene. Johnnys erlebnisgegerbtes Gesicht wirkt verkniffen, aber gelassen. In seinem Mundwin­kel steckt ein kalter Zigaretten­stummel. Die rechte Hand bau­melt locker an der Naht seiner zerschlissenen Hose, drei Finger gekrümmt, aber Daumen und Zeigefinger zu einem ima­ginären Revolver gespannt. Als der Polizist eine Bewegung macht, geht ein Ruck durch Johnnys Körper. Er wirft sich nach rechts, und im Fallen drückt er dreimal ab. Vom „Brunner“ her dröhnt Gelächter. Johnny Zieh steht auf, klopft sich ab und hinkt davon. Die Stadt Enns ist um eine Anekdote reicher. 


Die Ennser lieben solche ,,G’schichtln“. Sie stehen über­haupt sehr auf Lachen. Oft wirkt die Lache aufgesetzt. Aber wenn es um Leute der Qualität von „Johnny Zieh“ geht, kommt sie von Herzen. Und Originale mit Sinn für die Reizschwelle eines Normalbürgers sind in Enns kein Einzelfall. 

ENNSER G’SCHICHTEN

DIE „AIGNER-RES‘ „, 50, am Ostwall der Stadt. Ihr Kenn­zeichen: man kann sie riechen. Ihr Pech: Ihr Parfum liegt nicht im Ennser Trend.

Die „Aigner Res“‚ ist so ein Original. Es fällt ihr leicht, eine Prise Absurdität in die Monoto­nie eines Geschäftsalltags zu zaubern. Sie braucht nur etwas zu kaufen und dann das Ge­schäft wieder zu verlassen, schon bricht hinter ihr die Hek­tik los: die Verkäufer fuchteln wie wild mit Spraydosen her­um, als wär die Res‘ eine Hexe und in den Dosen Weihrauch. Dabei trägt Res‘ nur ein Par­fum, das nicht im Ennser Trend liegt. 

DER „HUPFERTE“ WALTER, 44, in Enns-West. Er Ist der Romeo von Enns. Die „Tiger-Tanga“ ist wild auf ihn. Aber Walter bleibt der Aigner-­Res‘ treu.

Bei anderen hat ein Kennzei­chen bereits den Namen ersetzt: Kaum einer kennt den Walter, aber jeder den „Hupfer­ten“, jenen kleinen Mann, der sich samstags und mitt­wochs mit Holz­bein und Leiterwa­gen abmüht und ab und zu der um zwei Köpfe  größeren Res‘ um den Hals fällt. Stadtbekannt sind auch die „Tiger-Tanga“, Pinocchio, das ,,Lipperl“, die „Moped-Lies“ und der „Huschhusch“. Man nennt sie „die Bladern“, ob­wohl sie nur lose miteinander zu tun haben. Was sie eint: sie sind origineller als der Rest von Enns. Sie unterscheiden sich in Aussehen, Auftreten und Um­ständen extrem von dem landesweit als Idealmaß ge­feierten Mittelmaß. Und sie ha­ben zu gewissen Orten keinen Zugang. Beim „Brunner“ zum Beispiel sitzen nur die oberen Zehntausend im Betongarten. Da gehört die „Bladern“ nicht dazu. Und das bei gezählten 9721 Ennser Einwohnern (Anm.: Am 1. Jänner 2022 hatte Enns 12.025 Einwohner)

ENNSER WITZE

Das Land ob der Enns ist nicht eines jeden Most. Dem gewieften, von Osten her kommenden Autofahrer ist der Ennser Turm eine Warnung: ,,Fenster schließen und Voll­gas!“ drückt sie aus. Und prompt stößt man ab St. Valen­tin auf üble Luft, die selbst Hungrige unverzüglich satt macht. Es käme einem spontan absolut kein Grund in den Sinn, von der Autobahn ausge­rechnet zur ältesten Stadt Österreichs abzubiegen, wär‘ da nicht der Papst. Daß der Neorömer Ende Juni die Enn­ser Erde küssen soll, ist eine von den Diözesen Linz und St. Pölten arrangierte Fügung. Man hatte sich auf keine der beiden Hauptstädte einigen können. Die Ennser Stadtväter spre­chen seither einem Prinzip Hoffnung das Wort. Der welt­weite mediale Niederschlag soll Enns auf der internationalen Landkarte des Städtetourismus etablieren. Was nicht leicht ein­zusehen ist. Abgesehen von rö­mischen Mauerresten, einem ersäuften Märtyrer und einem in besseren Tagen erbauten Turm hat Enns wenig zu bieten. Außer Lipperl und Co., wie ge­sagt. Aber die sind der Stadtge­meinde eher peinlich. 

DAS „LIPPERL“ Bruno, 44, am Ennser Stadtplatz. Vergangenheit: Boxer, VOEST-Arbeiter. Gegenwart: Unikum mit Narrenfreiheit. Die Leute verlachen ihn, und er verlacht sie, aber mit Haltung.


„Lipperl“ hat mit dem Papst nichts gemein. Erstens ist er evangelisch, zweitens liegen bei ihm zu Hause genug Zahl­scheine für den eigenen Glau­ben. Daß für den katholischen Vater jetzt die Millionen lockergemacht werden, macht ihn die Fäuste ballen. Bei der Not­standshilfe muß er um jeden Hunderter betteln. Eigentlich heißt er Bruno. Aber Ober­österreicher sind eben optische Menschen. Und Bruno sieht mehr nach „Lipperl“ aus als nach „Bruno“. Die große Lippe holte er sich beim Boxen. Er war zu häufig Sparringpartner schwe­rer Brocken. Wettkampfmäßig brachte er 16 Duelle hinter sich, wovon er fünf gewann. Bruno wurde vor 44 Jahren in Bad Ischl geboren. Nach ei­nem Transfer in den 60er Jah­ren hatte er sich in Enns an ei­nen neuen Vater zu gewöhnen. Der hieß „Tupferl“ und war Staatsmeister im Boxen. Er stand ein paar Klassen über Bruno, aber niemand kann sa­gen, der Stiefsohn hätte es nicht versucht. Die Lippe ist sein Beweis. Heute drücken Brunos Gesicht und Körper präzise die Geschichte seines Lebens aus: fünf Jahre VOEST, zehn Jahre Hilfsar­beit, vier Jahre Notstand. Ein Zimmer um ÖS 350,-. Kein Klo. Wasser im Hof. Mit der Krise der Industrie war auch die sei­ne perfekt. Und als er einmal Holz stahl, weil ihm kalt war, war der Ofen aus. Er hält sich gern in der Nähe des Turmes auf. Der Turm paßt zu ihm. Eigentlich wird der Turm erst durch ihn wirklich sehenswürdig. Wer mit ihm einmal raufgestiegen ist, weiß das. Neben den Glocken ste­hend, sprüht er magische Kräf­te, die den Beschauer ins Notre Dame eines anderen Jahr­hunderts reisen lassen. Und vor der Tür zur Turmwächterin be­weist er kalten Geist. Auf die Frage, was es denn hier zu bewachen gäbe, kontert er mit Po­kergesicht: ,,den Turm!“ Brunos Stiefvater „Tupferl“ beging eine große Gemeinheit: Nach dem Tod der Mutter holte er sich mit „Moped Lies“ eine Freundin ins Haus, die zehn Jahre jünger als Bruno war. Das war ein Tiefschlag. Aber als ihn sogar die Lies einmal mit der Faust auf die Bretter holte, sah Bruno den Boden der Dinge.

Sie gilt als Emanze: eine Henne sieht rot.

DIE „MOPED-LIES“, 33, am Grab von „Husch­husch“. Sie ist eine Ex-Schmucklöterin, vor der sich die Männer fürchten. Er war ein Melker, der plötzlich ohne Kuh dastand: eine Ennser Tragödie. 


Die Moped-Lies ist hart. Härter noch ist ihr Ruf. Sie sei ein Mannsweib, heißt es in Enns. Sie fährt Moped. Sie prügle Männer aus den Lokalen. Sie habe Freundinnen. Irgendwie gilt sie als das, was man in Enns unter ,,Emanze“ versteht: eine Henne sieht rot. Für die Lies ist es mehr das Bedürfnis, sich nicht alles ge­fallen zu lassen. Unter Alkohol geht sie halt dann manchmal weiter, als es gesund ist. Dafür hat sie heute sieben Monate Gefängnis hinter sich, und das mittlerweile vierjährige Kind wurde ihr weggenommen. In ihren Augen ist Enns die Stadt, wo man nichts machen kann. Hier schert sich jeder um den andern mehr als um sich selbst. Wenn sie hier Arbeit sucht, ist sie von vornherein abgestem­pelt. Sie kam vor acht Jahren hierher, als Schmucklöterin für die Firma „Gablonzer“. Für 4000 Schilling pro Monat hielt sie zwei Jahre lang durch. Mit dem „Tupferl“ war es ähnlich: zwei Jahre, dann stank ihr seine Eifersucht. Dafür versteht sie sich jetzt mit dem Bruno. Mit der „Bladern“ hatte sie ohnehin nie Probleme. Mit denen kann man wenigstens reden. Ihr liebster Gesprächspartner ist ja leider nicht mehr.

Zur Sperrstunde sagte er: ,,Husch-husch, in die Betten!“ 

„Huschhusch“ ist seit einem Jahr tot. Man nannte ihn auch den „Herrn Hans“. ,,Husch­husch“ war allseits beliebt. Er hatte sogar einen Draht zum Establishment: die oberen Zehntausend sprachen mit ihm. Weil er perfekt war. ,,Husch­husch“ war ein geborener Tra­göd. Er hatte den schönsten Be­ruf unter der Sonne gelernt: er war Melker. So was ist pures Glück, denn Kühe sind ange­nehme Lebewesen, und Zitzen ohnehin göttlich. Vor nun schon einigen Jahrzehnten holte die Ob-der-Ennser-Landwirtschaft zu einem Schicksalsschlag aus: sie stellte von Vieh auf Getrei­de um. Damals war er noch der Hans. Als er seine kuhlose Zu­kunft mit Fassung und Würde trug, wurde er zum „Herrn Hans“. Sein Auftreten war so gepflegt, daß ihn das Lokal ,,Stauder“ als Barmann beschäf­tigte. Zur Sperrstunde sagte er immer ganz sanft: ,,Huschhusch, in die Betten.“ – Er avancierte bald zum Gaudium für die Gä­ste. In Enns ist Stil etwas Lusti­ges. Man spendierte ihm Drinks, und zwar so lange, bis er umfiel. Er fiel immer häufiger um, bis er am 17. 1. ’87 nicht mehr auf­stand. Sein Begräbnis war 14 Leuten ein Beisein wert und ei­nem Franziskanermönch ein Ge­bet. 


Ohne „Huschhusch“ sind die Zeiten nicht mehr ganz so wie früher. Es fehlt der Szene die Seele. Auch die Auftritte von ,,Johnny Zieh“ werden selten. Es geht bergab mit ihm. Vor zwei Monaten brach er sich ein Bein, kam ins Krankenhaus, und kaum war er wieder frei, brach er das andere Bein. Auch „Tiger-Tanga“, eine stolze alte Dame, die sommers gern im Tanga spazierengeht, ist stör­risch, seitdem ein Ennser Spaßvogel sie nackt foto­grafierte. Das Foto wurde Teil der Dia-Show einer Linzer Dis­co. 

DER „HURENSENGEL“

DER „HURENSENGEL“, Alter unbestimmt, beim Most-Mantler. All seine Liebe gehörte einem Hund. Der ist jetzt tot. Das brach des Hurensengels Herz. Nicht mal schimpfen freut ihn noch. 

Und der „Hurensengel“, ein Mann mit einem Gesicht wie ein alter Holzzaun, ist gebro­chen. Jahrelang war er poeti­scher Muskel der Stadt, wenn er mit Moped, Anhänger und  daraufsitzendem Hund vorfuhr. Der Hund war sein alles. Der Hund bekam Fleisch. Der „Hu­rensengel“ gab sich mit Knack­wurst zufrieden. Jetzt ist sein ein und alles tot, und der adre­nalinhältige Aufschrei „Hu­rensengel!“ will nicht mehr von des Mannes Lippen. 

VITUS !!!!!

„VITUS“ LOIS, 50, beim Most-Mantler. Er war der Star der Ennser Laienbühne und gleicht optisch dem Ennser Landesymbol „Vitus Mostdipf“ aufs Haar.

Fast könnte man um den Outcast- Nachwuchs bangen, wäre nicht die Industrie auf Ra­tionalisierungstrip. Vor kurzem wurde die Ennser Zuckerfabrik „Sugana“ geschlossen, und in der VOEST werden die näch­sten paar hundert Entlassungen vorbereitet. ,,Vitus“ ist ein frischgebac­kener Ex-VOESTler. Er wollte zuerst nicht gehen, da steckte man ihn zu den Hochöfen, worauf er aufgab. Vitus ist 50 und gleicht „Vitus Mostdipf“, dem Landessymbol der Ob-­der-Ennser, aufs Haar. Er braucht nur zu einem Schmalz­brot zu greifen, um Teile der Umgebung zum Kichern zu bringen. Vitus hätte Chancen zum Star der Szene, wäre er nicht als „Lois“ schon seit Jah­ren der Star der Ennser Laien­bühne gewesen. Seine Spezia­lität waren Schwänke der Lö­winger-Art. Er brauchte nur auf der Bühne erscheinen. Der Rest bestand aus Warten, bis sich das Publikum beruhigte. Er hat nicht Frau noch Kind noch Hund. Seine Liebe gehört der kalten Fleischplatte und dem Most. Vor kurzem machte er einen Fehler. Er ließ sich im Spital routinemäßig durchsuchen. Seither lassen sie ihn nicht mehr raus. 

Zur Zeit steht Enns im Zeichen der Vergäng­lichkeit. Arbeitsplätze wackeln. Am Industrie­hafen legt gerade noch ein Schiff pro Jahr an. Um das zu symbolisieren, wird dem Papst für die ,,Stunde der Begegnung“ ein rostiges Kreuz gefertigt. Und auf den Dächern der Stadt übt die Anti-Terror-Truppe „Kobra“ probeliegen, um des Papstes Vergänglichkeit zu verhindern. Gewisse Dinge bleiben auch gleich: am Stadtplatz herrscht die „Lex Brunner“. Wenn das Wetter schön ist und ein Parkplatz frei, erweitert der Brunner seinen Garten. Dort­selbst kreisen launige Scherze: ,,Am liebsten wär‘ i in Süd­afrika. Da dürfen die Schwar­zen nicht wählen“, wird da der rote Bürgermeister zitiert. Und ein Mann in Tracht sitzt vor ei­ner Torte, verscheucht eine Wespe und kommt ins Sinnie­ren: ,,I mag kane Wepsen . . . i mag kane Goissn … und Ju­den mag i scho goa net.“

ENNSER ANEKDOTEN

Enns ist also eine Kleinstadt wie viele in Österreich und reizte kaum zum Besuch wär‘ da nicht diese „Bladern“ von Ori­ginalen, die bei guter Lage den Alltag in ein Fest verwandeln können. Dann boxt „Lipperl“ mit seinem Schatten, der „Hupferte“ probt mit der „Aigner-Res „‚ ein ungestümes „Romeo und Julia“. Eine jetzt hochgeschlossene „Tiger-Tan­ga“ nähert sich auf Zehenspit­zen und schiebt dem „Hup­fertn“ verstohlen eine Zwan­ziger-Note in die Tasche. Ein anonymer Bauer fährt mit Traktor und verkehrt zur Fahrtrichtung am Anhänger sitzender Frau vor. Er ver­schwindet in einem Geschäft, während die Frau starr sitzen­bleibt. Nach zehn Minuten kommt er wieder raus, besteigt den Traktor und fährt weiter. Die Stadt Enns ist um eine Anekdote reicher. _________________________________