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Ein seltsamer Bruder

Es gibt Brüder, die hast du nicht, weil sie demselben Schoß entsprungen sondern in denselben Schoß geraten sind. Was tun mit so einem Verwandten?

Text: Manfred Sax / Fotos: Oliver Gast

Manchmal kommen sie hoch, wie Phantome, immer unerwartet, kaum je willkommen. Neulich hatte ich Kaffee mit einer Ehemaligen, als der Smalltalk plötzlich noch smaller wurde. „Hey, ich hab B.  getroffen“, hob sie an. „Es wird dich freuen zu hören, dass er schlecht drauf ist und Depressionen hat.“ – „Warum soll mich das freuen?“, sagte ich, „der ist doch mit seinem winzigen Dings eh genug gestraft.“ – „Was?“, lachte sie, „ausgerechnet an das kannst du dich erinnern?“

Ja, ausgerechnet. Hat mit Öko­nomie zu tun. B. ist nur einer von vielen. Deren genaue Zahl man niemals wissen kann, man weiß nur, was man weiß. Das reicht. Denn im Lauf der Jahrzehnte kann es sich läppern. Es kann dir unzählige Typen erwachsen, zu denen du dich beziehst, ohne zu wollen, ohne sie notwendigerweise zu kennen. So was wie Brüder, wenn auch nicht ganz. Sie sind nicht demselben Schoß entsprungen, sie sind lediglich in denselben Schoß geraten. Per se nicht etwas, das bei Kenntnisnahme deine Brust mit jäher geschwisterlicher Zuneigung ­anschwellen lässt. Aber: so what?

Foto: Oliver Gast, Model: Marion Mandl, Hair & Make Up: Manja Mietho

Die meisten dieser Brüder sind harmlose Fälle. Sie sind, zum Beispiel, Produkte ihrer Zeit. In den 60s hast du sie dir eingetreten, weil Sommer der Liebe war. Du magst in den 70s in einer der Wohngemeinschaften gelebt haben, wo jede(r) plötzlich Chlamydien hatte, dann kanntest du auch deine Brüder. In den 80s wurde der Sex dann ­verdinglicht, er kam in Portiönchen daher, die „Quickie“ oder „One Night Stand“ hießen; das schuf auch wieder diese seltsamen Verwandten. Und so weiter. Und heute, in Generation Tinder, stecken sie mit dir bei den Rechtsgewischten. Generell harmlos. Aber manche sind toxisch. Bruder B., zum ­Beispiel, war toxisch.

B. war in den Schoß meiner oben erwähnten Ehemaligen geraten, ­natürlich nicht gleichzeitig, er kam nach mir. Tatsächlich musste ich gehen, als er kam, das ist das Toxische. Zum Glück bin ich nicht nachtragend, es verging kein Jahrzehnt, schon hab ich mit der Ehemaligen wieder geredet. Selbstverständlich gibt es auch das andere Toxische; dass dein prospektiver Bruder gegangen wird, weil du jetzt kommst. Oder dass du gehst, weil da eine andere ist (mit anderer Vergangenheit). Ehrlich gesagt: Das ist wesentlich angenehmer, wenn auch kaum je das, was man unter brüderlich versteht.

Der gemeinsame Nenner bedeutet nicht, der andere Mann sei so wer wie du. Tatsächlich ist er immer deine Antithese. Er hat(te) etwas, das dir fehlt(e). Und umgekehrt.

Unterm Strich bleibt: Im Lauf eines Lebens häuft sich für jeden Mann die Zahl der Männer mit ­gemeinsamem Nenner. Sie leben ihr Leben, zumeist außerhalb deines Radars. Und die toxischen darunter haben dich immerhin was gelehrt. Etwa, dass der gemeinsame Nenner nicht bedeutet, der andere Mann sei so wer wie du, weil: dieselbe Frau im Nenner. Tatsächlich ist er immer deine Antithese. Er hat(te) etwas, das dir fehlt(e). Und umgekehrt. Das ist die Natur des Biests. Heute sagt man „upgrading“ dazu. Und was den Rest deines Lebens anbelangt, brauchst du jedenfalls diese toxischen Brüder wie ein Loch im Kopf. Nenne es Psychohygiene. Sie haben nichts, womit sie dein Leben bereichern könnten, aber sie können jederzeit nerven.

Nur, wie eingangs erwähnt: Manchmal kommen sie hoch, wie Phantome. Manchmal gehst du aus und triffst die nächste Verflossene, und es braucht nur zwei Drinks, dann fällt es ihr wieder ein: „Also, eins muss ich sagen; aus allen meinen Lovers ist was geworden …“, dann verstummt sie und blickt dich quasi vorwurfsvoll an, und das „außer dir“ hängt irgendwo unausgesprochen, aber gedankenschwer im Raum. Also wirklich: Wer braucht solche Memories? Dann schon lieber das kleine Dings von B. Und jetzt hat er also Depressionen. Allerhand.