AKUT

Babyboomer vs. Millennial: In Stahlgewittern – Manfred Klimeks Ansage

Geboren. Gewachsen. Erwachsen. In Stahlgewittern? Das nun nicht. Aber im Tränengasnebel. Sollen wir euch, den Millennials, unseren Kindern, wieder die Kastanien aus dem Feuer holen? Oder nur die Kartoffeln?

Text: Manfred Klimek

1.
Das kleine Wir-sind-Wir

Zuerst werden die Zwillen von den Dächern geholt. Der feuchte, scharfe Strahl des neuen Mercedes-Wasserwerfers fegt über die Häuserdächer, an diesem grauen, traurigen, wunderschönen Morgen des Erwachsenwerdens im September 1982. Die Zwillenschützen kriegen den Strahl direkt auf den Körper ab, die Klügeren haben sich hinter Schornsteine gerettet – hier in Berlin-Schöneberg, Westberlin-Schöneberg, Winterfeldstraße 20, die bis zur 28 besetzt war. Von uns.

Wir waren die Guten. Wir hatten Wohnraum okkupiert. In Berlin, wo es wenig Wohnraum gab – damals, acht Jahre vor der Öffnung der Mauer. Wir waren die Guten, selbst die Zwillenschützen auf den Dächern waren die Guten, ­deren Geschoße die Beamten, die Bullen, schwer verletzten. Wir ­waren die Guten, da unten, da auf der Straße, da war der Staat, die Bösen. Und wir, die Guten, wir waren viele. Deutsche aus dem ­gesamten Bundesgebiet, Österreicher aus den drei größten Städten des Landes und Schweizer aus Zürich und Basel – Letztere vom AJZ-Aufstand ein Jahr davor ­besonders gewaltbereit gemacht.

Wir waren die Guten, waren wir nicht. Aber wir waren kein Werkzeug, niemandem unterworfen, in keinem Auftrag außer unserem eigenen unterwegs. Wir waren die Guten, einer von uns ist an diesem Tag gestorben, mindestens 50 wurden schwer verletzt. Wir waren die Guten in diesem Bürgerkrieg, in diesen Irrsinn aus Holz, Hartgummi und Tränengas, der sich schon seit Monaten hinzog, der sich über ganz Westberlin erhob; wir, die Guten im Flammenmeer der durch Mollies in Brand gesetzten Bullenwannen. Wir ­waren die Guten, obwohl und weil man uns an diesem Tag aus den Häusern holte. Wir waren die ­Guten, weil Kreuzberg und ­Schöneberg ohne unser radikales, anarchis­tisches Tun heute so aussehen würden, wie der damals für die Häuserspekulation abgewrackte Stadtteil Wedding aussieht.

Wir waren die Guten, weil wir das Recht, unser Recht, auf unserer Seite wussten. Wir waren die ­Guten, wir, die Babyboomer-­Generation. Und wir wollten eines nicht sein: angepasste Spießer.

Wir, die Gewaltbereiten, die taten statt schwätzten, wir konnten uns auf die Solidarität aller Gleichaltrigen verlassen, auch auf jene der von uns als enthirnt eingestuften Masse Gleichaltriger, die aus Angst nicht mitmachte. Selbst die war auf unserer Seite. Weil uns die Nazis hassten, und wir sie. Weil das 68er-Pack uns verachtete, das uns politisch nicht vereinnahmen konnte. Wir hörten Clash, Joy Division, Fehlfarben und Jam. Und keinen Genesis-Pink-Floyd-Supergruppen-­Dreck. Wir waren die Guten, weil wir viele waren. Wir waren die ­Babyboomer, jene, die keinen Ausbildungsplatz kriegten, weil zu wenige Lehrstellen für zu viele Kinder da waren – also studierten die meisten von uns, ich nicht. Wir waren die Guten, jene, die sich die Welt nahmen, weil wir sicher waren, dass die Welt, die wir uns nahmen, nicht ­lange stehen würde. Reagan und Thatcher, die greisen Sowjets vor Gorbatschow, die Nato-Nachrüstung, Pershing II, Mutlangen, selbst die neuen Grünen, in Österreich erst 1984 nach Hainburg präsent, der Aufbruch fern aller Verzweiflung, das Aufbegehren fern der Realität: Dies alles machte nur Sinn in der Gewissheit, dass der Atomkrieg ­unausweichlich ist. Und mit ihm auch unser aller Tod. Du hast keine Zukunft, also hol sie dir!

„Wir hätten uns das nicht gefallen lassen: die Generation Praktikum, das Ausgebeutetwerden, das Ewig- bei-den-­Eltern-­wohnen-Müssen, das Ewig-von-den-Eltern-finanziell-unterstützt-werden-Müssen“

Mein Rat an die Millennials, die Generation meines Sohnes, der nächstes Jahr dreißig wird, ein Alter, in dem man nicht mehr mit verkehrt aufgesetztem Baseballcap durch die Gegend läuft: Get a Life! Denn wir hätten uns das nicht gefallen lassen: die Generation Praktikum, das Ausgesteuert­werden, das Ausgebeutetwerden, das Ewig-bei-den-Eltern-wohnen-Müssen, das Ewig-von-den-Eltern-finanziell-unterstützt-werden-­Müssen, das Immer-freundlich-sein-Müssen, das Überwacht­werden, das Ruinieren der Perspektiven, das Zerstören der Zukunft durch Zerstören der Politik, das auf das Ökonomische alleine ­Ausgerichtete, das Käufliche, das alles Verzeihende, die Ablenkung – diesen gesamten, großen Dreck, diese Scheiße!

Wir hätten was angezündet. Burn warehouse burn, kill pussycat kill. Und wir stellen uns gerade die Frage, liebe Millennianer, in unseren späten Sportwägen, in unseren Eigenheimen, in all unserem Angeschafften, von dem wir ­wissen, dass wir kein Recht drauf haben; wir, die Babyboomer, stellen uns die Frage: Liebe Millennials, sollen wir das für euch übernehmen? Das Anzünden? Denn ihr bringt das eh nicht mehr, ihr Luschen. Oder?

Ja, klar: Hier fehlen die Gegenworte. Die Selbstbeschmutzung jener, die sich vorher schon im Dreck wälzten; die Selbstbezichtigung ­jener, die ihre Werte verrieten, sich nach dem Aufruhr den Lohn der Angst abholten. Etwa der wildeste aller Revoluzzer, der die Gewalt zu Ende dachte, aber sie zu seinem Besten nie zu Ende führte. Er wurde Börsenmakler. Zu Zeiten, als man für dieses Geschäft lediglich die Intelligenz einer Blattlaus besitzen musste, um Menschen seiner und älterer Generationen abzuzocken. Er wurde unverschämt reich. Er wurde unerträglich zynisch.

Er wurde, wie viele von uns Guten, ein bigottes, als Arschloch gestyltes Arschloch; einer der sich am endlos siegenden System bediente, das nach dem Untergang des Kommunismus seinen plündernden Siegeszug begann. Der ­Finanzcrash von 2008, der nur Vorbote eines viel größeren kommenden Finanzcrashs war, ist das Werk von uns Babyboomern, die wir kein Korrektiv unserer Obszönität kannten. Wir müssen, wenn wir was anzünden, all unseren Dreck anzünden, weil alles Hinterlassene nur Dreck ist. Feuer kann auch befreien.

Generation Millennial: Schauspieler Johannes Nussbaum fotografiert von Hilde Van Mas

2.
Das kleine Ich-bin-Ich

Zuerst werden die rausgebracht, die umfallen. Draußen, im Eingangsbereich bei den Türstehern, kriegen sie Wasser ins Gesicht. ­Tafelwasser. Aus einer Plastik­flasche. Die Flasche krächzt, wenn sie leer wird. Sie landet in einem Recyclingcontainer.

Doch nur wenige fallen um, die Mädchen fallen um und die Schwulen fallen um – die Schwulen, die die Mädchen unter den Schwulen sind. Der Rest steht. Er steht schon seit einem Tag und länger; nein, er tanzt, tanzt die Nacht durch, tanzt auf Koks, Speed, MDMA und all dem anderem Zeug, das keiner analysiert, das da ist, als wäre es immer dagewesen, hier im Berghain in Berlin, im August 2018 – und draußen ist es heiß.

Das ist Leistung. Unbezahlt. Das Stunden-Tanzen, das Durchstehen, das Weitermachen, das Sich-dem- Rhythmus-Ergeben, das Individuum-unter-vielen-Individuen-Sein, deren Individualität sich kaum, und wenn dann nur oberflächlich unterscheidet. Das ist Revolution heutzutage; Revolution als Alltag-Ausblenden, als Abschied vom Heute, wo ein Abschied vom Gestern besser anstünde, denn das Gestern ist nicht überwunden. Lieber überwindet man das Bequeme, das, was sich aussitzen lässt, anstatt die richtige Überwindung anzugehen.

Ungerecht? Ja, ist denn die Welt nicht voller Ungerechtigkeiten? Und ja, ihr steht auch dagegen auf, wie wir, geht auf die Straße, besetzt diese, bleibt auf dieser sitzen, macht unzählige Selfies, von euch, von der Gruppe, wie ihr da sitzt, im Mai 2016 in Paris, Unschuldige, Großäugige, die auf die Medien warten und warten, wie einen die Medien wahrnehmen, und wenn einen die Medien nicht so wahrnehmen, wie man wahrgenommen werden will, dann ist das die größte Ungerechtigkeit, und nicht das Sitzenbleiben. Und wenn die Öffentlichkeit euch zwar Komplimente für euer Engagement ausspricht, in dem Mahnenden aber die Defizite eurer Sprechblasen anprangert, dann redet ihr auf einmal nicht mehr, schweigt wütend und ergeht euch zuerst in Bezichtigungen, dann in Selbstbezichtigungen, dann im Vergehen. Nicht dass wir uns nicht auch gehasst hätten, für dies und das; nicht dass wir keine ­Fraktionen gebildet haben, keine I-Punkt-Reiter wurden. Aber so gehasst haben wir uns nicht. Und nach Hause gegangen sind wir mit blauen Flecken. Und nicht mit einem veganen Softdrink in der Hand.

„Also müssen wir die Kastanien aus dem Feuer holen. Wir, die Guten. Wir, die euch erzogen und zu dem gemacht haben, was ihr seid: Memmen.“

Nicht dass wir keine Ausreden gehabt hätten, damals im Tränengas, aber wir hatten Pop, und der war nicht diversifiziert, nicht segmentiert und filetiert. Nicht dass sich Popper und Mods und andere Narren nicht zum Teil des Gesamten gemacht hätten, um anderen Teilen des Gesamten die Fresse zu polieren. Aber am Ende waren wir, die Teile des Gesamten, das Gesamte der Genera­tion, das Wir. Wir waren das große Wir-sind-Wir. Ihr seid das kleine Ich-bin-Ich, das vor kleinen und mittelgroßen Bildschirmen auf die Gnade des Kapitalismus wartet, darauf, so viel abzubekommen, dass man damit vielleicht eine Familie gründen kann. Und euer Versagen darf man nicht mal zynisch brandmarken, denn dann ruft ihr Trigger-­Warning und sucht Safe Spaces auf. Miserabler waren Miserable nie.

Also müssen wir die Kastanien aus dem Feuer holen. Wir, die Guten. Wir, die euch erzogen und zu dem gemacht haben, was ihr seid: Memmen. Wir, die Guten, die wir wollen, dass es euch immer so gut geht wie in eurer Kindheit, wohl wissend, dass der erreichte Wohlstand obszön und nicht zu halten ist. Wir also, die Babyboomer, liebe Millennials. Wir sind die Guten. Wir werden uns im Sterben für euch verzehren. Den eines ist gewiss, die Generation X nach euch wird noch viel opportunistischer sein.

 

Manfred Klimek – Selbstporträt, Foto: (c) Manfred Klimek

Manfred Klimek, 56, ist seit über 30 Jahren als Fotograf, Autor und ­Kolumnist für den WIENER tätig, publiziert mit Ecken, Kanten und über Wein in Medien wie Der Spiegel, Brand eins, Welt am Sonntag, Die Zeit oder Schluck, dessen Chefredakteur er ist.

Millennial vs. Babyboomer: „Ihr wart die Guten, wir sind es jetzt. Wenn ihr uns nur lassen würdet“ – Sandro Nicolussis Antwort an Manfred Klimek – hier lang!