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„Wie ich einmal einen Tag lang tat, was ich sonst nicht tue“ – Heidi Lists Kolumne im WIENER #W430

Unsere Kolumnistin Heidi List freute sich über den nächtlichen Schweißausbruch vom Entzug ihrer Gewohnheit. Wie lief ihr ungewöhnlicher Tag ab?

Die Kinder haben beschlossen, mit mir ein Gespräch zu führen. Sie haben auf den Zigarettenpackungen gelesen, dass Rauchen tötet, weiters impotent macht, Föten umbringt und gruselige Zungen erzeugt. Der 6-Jährige hätte andererseits gerne gesehen, wie ich mit einem Loch im Körper aussehe, das war auch irgendwo auf einer Packung. Ich stammelte mein „Eh“ daher. Und dass es nur eine Gewohnheit sei. Dann, ließ ich mir sagen, dann sei es ja überhaupt lächerlich. Und ich würde ihnen schließlich auch keine Gewohnheit erlauben, die tötet, ­wobei der Kleinere noch einmal auf eine Gewohnheit, die so schöne Löcher in den Körper macht, hinwies.  Also las ich ein paar Artikel über Gewohnheiten. Nicht über Süchte. Und erfuhr, dass sie immer gleich funktionieren: Auslöser, Routine­tätigkeit, Belohnung = Gewohnheit. Das konnte man auf alles anwenden. Also machte ich einen Test: Einen Tag lang tun, was ich sonst nicht tue.

Es begann damit, dass ich allein aufwachte. Die Kinder übernach­teten woanders. Ich stand auf und machte mir keinen Kaffee. Das Wasser war erfrischend. Ich wollte Kaffee. Ich duschte nicht (denn das kann man auch am Abend, habe ich gehört). Dafür putzte ich mir die Zähne brav mit Zahnseide und ­allem. Während ich wartete, bis das Zahnfleischbluten aufgehört hatte, schaute ich nicht ins Handy. Ich zog ein Kleid an. Ich ging eine ­Runde spazieren, also einmal ums Haus halt. Unglaublich, wer da ­alles unterwegs ist um die Zeit, in Laufschuhen. Ich rauchte keine.

Danach ging ich an meinem Auto vorbei zur Straßenbahn. Ich setzte mich zu jemandem, obwohl andere Bänke ganz frei waren. Ich begann mit dem uninteressantesten Sitznachbarn ein Gespräch und ließ mich von ihm ignorieren, weil er mich uninteressant fand. Im Büro grüßte ich fröhlich und fragte jede Person, wie denn der Tag so gewesen sei bis jetzt. Ich bemerkte die Scheibenwischergesten hinter meinem Rücken. Danach rauchte ich keine.

Im Konferenzzimmer setzte ich mich auf einen anderen Platz als sonst, was zu einem Sitzplatzchaos führte und angenehme 5 Minuten Meetingaufschub brachte. Ich ließ bei der Besprechung lächelnd alle ausreden und erfuhr, wie schon vermutet, mehr, als ich wollte. Dann nahm ich Kritik nicht persönlich, was mich kurz aus dem Konzept brachte. Um doch zu meinem ­Drama zu kommen, erschlug ich die Gelse nicht und sah ihr beim Stechen zu. Während die anderen rauchen gingen, sortierte ich das Gesagte im Geiste nach Verwert­barem. Danach kratzte ich meinen juckenden Gelsenstich auf, als kleinen Ausreißer in die Gewohnheit.

„Dann aß ich sofort zu Mittag. Das war doppelt neu, weil ich nie zu Mittag esse und diesmal sogar nicht zu Mittag.“

Dann aß ich sofort zu Mittag. Das war doppelt neu, weil ich nie zu Mittag esse, und diesmal sogar nicht zu Mittag. Später arbeitete ich möglichst lustvoll, indem ich Sachen wie „Yeah!“ oder „Super gemacht!“ oder „ Ich ruf den Oasch jetzt gern an!“ in mich hineinjauchzte. Dazwischen rauchte ich keine und stellte fest, dass sich mit der Zeit so etwas wie Watte im Kopf einstellte. Vom Gewohnheitsentzug. Ich rief den Kinderbetreuer nicht an, um zu fragen, ob er an dies oder jenes gedacht hatte. Das fiel mir sehr leicht, man musste sich nur vorstellen, wie man ihn haut, falls er an dieses oder jenes nicht gedacht gehabt hat.

Ich blieb nicht sitzen bis zum letzten Drücker, sondern ging pünktlich (und immer noch freundlich). Ich nahm mir ein Taxi, das ich mir nicht leisten konnte, und ließ mich bis zu meinem Nahversorgergeschäft bei der Wohnung bringen. Von dort ging ich in ein anderes Geschäft, weil Abenteuer. Dort ­hatten sie die Hälfte nicht, was nichts machte, weil ich wollte nichts Übliches. Ich kaufte Käse, vertrage ich nicht, von dem wird mir immer schlecht. Weiters glutenfreie Nudeln und wahnsinnig viel Gemüse. Für die Kinder: nichts. Ich blieb ruhig, als der Kassiererin wie immer ausgerechnet bei mir die Thermopapierrolle ausging. „Ha ha, macht doch nichts“ sagte ich sehr sympathisch. Ich trat nicht einmal geheim gegen die Kassa, unten, am Boden.

Daheim ging ich zum Post­kasten, öffnete die erwartete SVA-­Benachrichtigung sofort, dachte mir „Interessant!“ und rauchte dann keine. Ein Nachbar kam des Weges und erzählte mir, wie schön es gewesen war, bevor die vielen neuen Parteien, darunter wir, ein­gezogen seien. Ich freute mich für ihn, dass er früher eine so schöne Zeit gehabt hatte.

Die Kinder kamen nach Hause. Ich gab ihnen Gemüse und bot ihnen kein Butterbrot als Alternative an. Ich ertrug ihren Hass mit Freude über ihre Gesundheit. Dann spielte ich lachend mehrere Gesellschaftsspiele und genoss ihre Gesellschaft trotz meiner Müdigkeit mit der Watte im Kopf. Der Fern­seher blieb aus. Ich konsumierte keine sozialen Medien und ich sah aus dem Fenster wegen des Wetters. Ganz zum Schluss sah ich mir freudig einen sogenannten „Schasfilm“ auf Youtube an, diesmal „Die 10 lustigsten Fußballtore der Welt“.

Schwindelig vor Ödnis ging ich ­duschen und mit den Kindern ins Bett. Ich las ein wenig in Elias ­Canettis „Die Blendung“, was ich mir eigentlich seit der Matura erfolgreich verwehrt hatte. Beim ­Einschlafen dachte ich absichtlich nicht daran, dass ich mehr Geld haben und/oder mehr reisen sollte. Um drei Uhr früh wachte ich auf und freute mich über den Schweißausbruch vom Entzug meiner Gewohnheit.

Am nächsten Morgen duschte ich und soff einen Liter Kaffee. Dann setzte ich mich ins Auto und holte mir Tschick beim üblichen Automaten. Marke wie immer. Amen.

Fotos – Header: (c) Pamela Russmann