Essen

Neu im Käseregal – Die ärgsten Stinker

Ab Herbst sind die Käseregale wieder gefüllt, nicht nur mit bravem Gouda, auch mit polarisierenden Delikatessen. Also gibt der WIENER den Schnüffler: Wo gibt’s die ärgsten Käse?

Text: Roland Graf

Lak-ta-tion-s-pha-se. Wie die Sonderschüler stehen wir am Naschmarkt und sprechen nach. Christian Pöhl erklärt geduldig, warum der Herbst die Käsesaison startet. Das erste Jahresdrittel brauchen die Tiere eben Milch, um den Nachwuchs zu säugen. Erst dann kann gekäst werden. Und nach einer Reifephase kommen dann eben die neuen Alpkäse. „Der Vacherin Mont d’Or darf erst ab dem 11. September verkauft werden“, präzisiert Pöhl für den Käselaien, der gleich die nächste Frage hat: „Und warum kosten wir dann einen Vacherin?“ Weil der von der Ziege stammt. Und den gibt es von März bis November in Pöhls Delikatessenladen. Der Geruch allerdings erinnert weniger an Ziegen, mehr an Waldboden: Intensive Pilzdüfte entströmen dem halbflüssigen Teig des „Cabri ariègeois“, kaum dass der Deckel aus Rotschmierkultur entfernt worden ist. Ein bisserl was hat das Hantieren des Käsegurus vom Öffnen eines Sarkophags. Die wilden Düfte strömen selbst an unserer Open-Air-­Kosttheke unverkennbar.

Vorratsschrank mit Mega-Kasein: Regal bei „Jümi“. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Doch Pöhl selbst schneidet ­bereits am nächsten Stinker. Umwickelt mit etwas, das wie Bast wirkt (Riedgras ist es tatsächlich), sieht die graue Masse aus, als würde sie nur von diesen Fäden zusammengehalten. Tatsächlich sind sie ein Qualitätsmerkmal, bei der Industrie werden keine Gräser mehr eingesetzt. Dabei gaben sie dem „Petit Livarot“ seinen Spitznamen. Wie das Képi, die militärische Kopfbedeckung, wirkte der Käse auf seine Zeitgenossen, die ihm sogar Rangabzeichen gaben. Fünf Streifen hatte der Oberst, daher nannte man den Livarot auch „Colonel“. Geschmacklich kommt der Oberst jedenfalls schnell zur Sache – sein erdiges Aroma und die leichte Säure sind angenehmer als der intensive ­Geruch.

No Sixpack! Beim alten Vacherin zählt das „Baucherl“. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Doch da geht noch mehr. Einmal die Marktseite gewechselt und schon schnippelt Thomas Kurzmann an einem Epoisses. ­Genauer gesagt nimmt der „Käseland“-Mitarbeiter einen Teelöffel zur Hand. Denn ob der Aggregatzustand dieses Käses fest oder flüssig ist, kann vermutliche nur eine Physikerkommission klären. Vier Wochen lagert er bereits hier, der Duft lässt ein Mehrfaches ­dieser Zeit vermuten. Doch im Geschmack bringt der Franzose eine milde Art und überraschend hohe Säure mit. „Turboreifung“, lacht Kurzmann, die hohen Temperaturen setzen dem Käse zu. Während er also wie Methusalem aussieht (und wie dessen Rucksack riecht), steht er sozusagen noch voll im jugendlichen Saft.

Kein Schmutz – Rotwein-Trebern-Kas im „Käseland“. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Denn die Rohmilchkäse sind die ersten Wochen noch lebendig – wenn man sich die Bakterienflora auch nicht als kuscheliges Kätzchen vorstellen sollte. Pasteurisierte Käse hingegen sind „sicher“, aber in den Augen der Käse-­Community fad. Musterschüler Deutschland hat solche Käse, die EU stellt es ihren Mitgliedern frei, ob sie rohe Milch verarbeiten ­wollen oder nicht. Österreich und Frankreich erlauben die alther­gebrachte Käserei, die Schweiz sowieso. Und dann kommen noch die Schimmelkulturen zum Einsatz, sowie diverse „Waschungen“ der Käse. Von der Salzlake über Wein oder Schnaps bis hin zu eigenen Kräutermischungen reicht das Arsenal der Reifungen, die hier studiert werden können.

Stadien des ­blauen „Hirnis“. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Womit das Gespräch mit ­Kurzmann schnell auf den Affineur kommt, jenen Berufszweig, der die Käse anderer Erzeuger nachreift. Sind sie aus seiner Sicht am Punkt, gehen sie in den Verkauf. Deren berühmtester heißt Bernard Antony und ist Elsässer. Der Maître hat auch hierzulande seine Kunden und soll im Herbst angeblich ­wieder nach Wien kommen.

Auch Clemens Castan und Veit Watzal bereiten sich auf die Herbstsaison vor. In ihrem „Jümi“-Geschäft in der Lange Gasse gibt es zwei Käseschränke, einer davon sieht aus wie das Nachtkasterl von Igor, dem tumben Gehilfen Dr. Frankensteins. Denn hier lagern die Hirne. ­Genauer gesagt die blauen „Hirnis“, wie die Schweizer Käse aus der Nähe von Bern nennen. „Das ist sicher schon zwei Wochen da“, ­erläutert Castan angesichts eines Schrumpfhirns in Schwarz mit lustigem Schimmelbesatz. Den Namen hat der Frischkäse mit der Blauschimmelkultur von seiner charakteristischen Form. Wie Adern schimmert es an der Oberfläche des „Hirnis“. Und den alten Käse anzuschneiden kostet ein wenig Überwindung. Dass Käse durch einen Verrottungsprozess reift, weiß man zwar. Doch ihn gleich auf dem Teller zu haben, ist eine andere Sache.

Mächtige Laibe bei „Der Schweizer“. Foto: (c) Maximilian Lottmann

Es gibt einen anderen Käse, der ebenso intensiv schmeckt, dabei aber deutlich mehr der Lexikonabbildung eines Käselaibs gleicht. „Cironé uralt“ macht aber klar, dass auch hier die Aromen schon ein wenig intensiver ausfallen. Der leicht salzige Schweizer trocknet den Gaumen aus mit ­seiner Würze. Dennoch will man mehr davon – und sei es nur, um die Bekanntschaft mit dem Hirni aufzuschieben. Immerhin hätte Clemens Castan auch das passende Getränk dazu: Der unfiltrierte Süßwein aus Frankreich heißt „Monstrum“.

Berühmt geworden ist „Jümi“, das in den Filialen (neben Wien auch London) fast ausschließlich eigene Käse verkauft, aber nicht mit Monstern. Es war die Belper Knolle, die für Furore sorgte. ­Dieser Golfball aus Milcheiweiß, Knoblauch, Salz und Pfeffer wird mit einem Trüffelhobel geschabt. Spitzenköche verwenden ihn gerne für Suppen oder Risottos. Von den Käse-Hirnen ist derlei hohe ­Akzeptanz noch nicht bekannt.
Andrzej Koch kennt die makab­ren Kreationen von „Jümi“, er ist nicht nur Schweizer, auch sein Geschäft in der Wollzeile heißt so. Beliefert wird es unter anderem von Willi Schmid ­(offiziell ganz helvetisch „Städtlichäsi“). Das reibt uns Mitarbeiter Orfeo Ritterband buchstäblich unter die Nase. Denn die „Fichtenrinde“ ist vielleicht Wiens größter Stinkekäse jenseits der Olmützer Quargeln. Ammoniak, ein bisserl wie an der Herrentoilette, dazu Selleriepürée – nichts davon reizt zum Kosten, doch die beiden Schweizer sind unerbittlich. Na gut, schließlich wollten wir es so. Beim Käse dürfte es sich um den unehelichen Sohn eines Christbaums und eines Topfenknödels handeln. Flaumig und cremig ist der Teig, aber immer und immer grätscht da eine herbe Note dazwischen. Wer auch die Scheiben am Toast bisher für Käse hielt, sollte mal die „Bergfichte“ kosten.

Showdown beim Pöhl: Herr Graf und das reife Schaf.Foto: (c) Maximilian Lottmann

Und sich vor allem Zeit lassen. Denn der reifste Stinker wird ein Kaugummiball undefinierbaren Geschmacks, wenn er zu kalt auf den Tisch kommt. Mindestens eine Stunde vorher sollte er aus dem Kühlschrank kommen. Dann zeigen die Käse ihr Innenleben, zu erkennen an einem leichten Wölben des Anschnitts. „Ein schönes Baucherl“ nennt das ein Kenner wie Christian Pöhl fast zärtlich, der erst dann den Startschuss zum Zugreifen gibt. Man sollte es nicht für möglich halten, aber wir freuen uns auf den nächsten „Bauch“-Stich. Nase zu und durch!

Fichten und Obristen: Die Lieblingskäse des WIENER

Bergfichte (CH): Der mit Fichtenrinde gereifte Käse von Willi Schmid teilt die Leute. Ein zarter Pissoirduft begleitet einen intensiv-herben Ausnahmekäse. derschweizer.eu
Blauer Hirni uralt (CH): Erinnerungen an ­Horrorfilme (oder „Futurama“) werden wach, die alten „Hirne“ schrumpfen zu den inte­ressantesten Formen. 26 Euro (Stück à 450 Gramm), jumi.lu
Cabri ariègeois (FR): Der Ziegenmilch-­Vacherin riecht nach Steinpilzen und lässt sich herrlich löffeln. Geil zu Erdäpfeln! 26 Euro (Stück à 450 Gramm), poehlamnaschmarkt.at
Cironé uralt (CH): Eine Art Schweizer Parmesan mit noch mehr Finesse (und weniger Salz) stellt dieser über zwei Jahre alte Hartkäse dar. 4,80 Euro (100 Gramm), jumi.lu
Epoisses (FR): Nur wenn er rinnt, läuft was mit ihm. Der Tresterbrand, mit dem er ­ge­waschen wird, sorgt für herbe Duftnoten. 3,99 Euro (100 Gramm), kaeseland.com
Petit Livarot (FR): Intensiv und leicht säuerlich gibt sich der „Colonel“, einer der Rotschmier-Klassiker dieser Welt. 9,90 Euro (250-Gramm-Laib), poehlamnaschmarkt.at

Schmelz-Punkte: Wo es noch Top-Käse gibt

Drei „Käseverrückte“ temperieren sogar jene Exemplare vor, die sie in ihrer Bar servieren. Einmal „stinkat und rot“ gefällig? So bestellt man hier, über die Gasse gibt es etliche österreichische Entdeckungen. WIENER-Tipp: Vorarlberger „Gebsenkäse“, den Anton Sutterlüty in Wien reift. Edelschimmel Käsebar, edelschimmel.at

Die Käse-Klassiker Frankreichs residieren nobel im Palais Ferstel. In der „Epicerie fine“, dem Shop-Teil des Restaurants „Beaulieu“, warten Camembert, Bleu d’Auvergne, Brie de Meaux und Co. WIENER-Tipp: Der in der Asche gereifte Ziegenkäse Selles-sur-Cher. Beaulieu, beaulieu-wien.at

Beim beliebten „Meierei“-Frühstück am Wien-Fluss geht das Käselager vielleicht unter. Doch die „Steirereck“-Pionierleistungen, vor allem auch bei der Beschreibung der 130 vorrätigen Käse, ist immer noch vorbildlich. WIENER-Tipp: „Schwarzes Schaf“ von Familie Nuart aus Kärnten. Meierei im Stadtpark, steirereck.at/meierei