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Auf der Nostalgiewelle – Altwaren fürs Herz

Jahrzehntelang zogen sie unbeachtet an uns vorbei, plötzlich lieben wir sie: All die unscheinbaren Gegenstände von klein bis groß, die uns anscheinend nur ob der Tatsache, dass sie nun „vintage“ sind, ans Herz wachsen. Kommunikationsexperte Christian Mikunda erklärt ein Phänomen, das wir alle kennen, aber noch selten hinterfragten.

Text: Franz J. Sauer

Jahrzehntelang kam die Musik ­daheim von Schallplatten und Musikkassetten. Dann eroberte ­die CD den Markt und alle wollten nur mehr kratz- und krachfrei Musik hören. Zu Tausenden wurden gutsortierte Plattensammlungen durch Silberscheiben ersetzt und auf den Müll gebracht. Bloß Nostalgiker und Disc Jockeys ­behielten die sperrigen Tonträger nebst unpraktischer Abspielgeräte. Und verwehrten sich hartnäckig den Segnungen von Compact Disc und mp3. Bis sich das Blatt wendete und das Vinyl im großen Stil zurückkam. Seit mehreren Jahren nun schon lässt sich der Schallplattenboom in satten Verkaufszahlen messen, die CD hat längst ausgedient. Und selbst die frühesten CD-Early-Adopters aus den Spätachtzigern schwören heute wieder auf den „warmen, woh­lig-knarzigen Sound“ von Vinyl. In Sachen Reputation hat sich der Schallplattenspieler nebst Auflage vom einstigen Gebrauchsgegenstand zum edlen Luxusgut gemausert – die Masse hört am Handy.

Einst Massenprodukt, dann Ballast, heute wieder Zeichen für guten Musikgeschmack und ebensolches -verständnis: die gute alte Schallplatte. Foto: Franz J. Sauer

Die „Seiko 5“ entstand Ende der Sechzigerjahre und wurde als typische Gebrauchsuhr konstruiert. Ruhiges, klares Design ohne Schnörkel, Tages- und Datumsanzeige, ein verlässliches Automatikwerk. Kaufpreis: um die 100 Dollar. Welchen Hit das japanische Unternehmen mit dem unscheinbaren Zeitmesser gelandet hatte, wurde erst klar, als man die Seiko 5 1980 auslaufen ließ. Ein Aufschrei ging durch die Händlergemeinde, illegale Uhren-Fixler spezialisierten sich auf ein Modell, dessen Fälschung oft mehr kostete als das Original, weil die Nachfrage einfach nicht abriss. Zwei Jahre später reagierte man bei Seiko, nahm die „5er“ wieder ins Programm und prolongierte somit eine Erfolgsstory bis heute. Aktuell liefert die Seiko 5 sogar die ­Basis-Baureihe für einige Derivate von Taucheruhr bis Sportchrono.

Der Peugeot 405 war, wiewohl von Pininfarina gezeichnet, kein großer Wurf. Er folgte dem ebenso farblosen 305 nach, ersetzte aber bald auch den charmanten 505. So ließ er nicht nur die Kompakt-, sondern auch die obere Mittelklasse von Peugeot zum emotionslosen Fortbewegungsmittel schmelzen. Die Verkaufszahlen entwickelten sich zwar prächtig, Automobilisten rümpften aber durchwegs die Nase. Und als die Modellreihe 1995 abgelöst wurde (der noch hässlichere 406 kam heraus), krähte kein Hahn nach der brav gezeichneten Limousine und ihrer ebenso farblosen Kombiversion.

Die schörkellose Seiko 5 entfaltete ihr Kultpotenzial erst, als man ihre Produktion einstellte und sie ob der nicht abebben­den Nachfrage von Fälschern teurer als das Original gefixelt wurde. Erst dann korrigierte Seiko den Fehler, und die 5er blieb bis heute. Foto: (c) Stefan Gergely

Gut 20 Jahre nach seiner ersten Niederkunft, also im Jahr 2007, sticht mir beim Vorbeischlurfen ein unauffälliger, aber glänzend polierter 405 in Graubeige ins Auge. Er steht an der Kreuzung Johannesgasse/Seilerstätte, badet in einem besonders schönen Früh-Frühlings-Licht, und mit einem Mal gefällt mir die schnörkellose Karosserie, entdecke ich Besonderheiten an gewöhnlichen Details wie den schnöden Stoffsitzen. Und finde mich keine zehn Minuten später auf der Online-Autobörse meines Vertrauens wieder, wo ich das aktuelle Angebot an guterhaltenen Viernullfünfern im Umland von Wien scanne. Schlüsselerlebnisse wie dieses gab es auch irgendwann beim Fiat Panda, beim VW Passat II, beim letzten Ford Scorpio (Kosename „Glubschi“). Mercedesse, BMWs oder Exoten à la Saab und Volvo hatte ich stets auf dem Radar ­gehabt, aber die „Außenseiter“ stachen stets unerwartet ins Herz. Freilich allesamt erst, als sie ein gewisses Alter erreichten.

Dr. Christian Mikunda, Kommunikationsprofi, Vordenker der Erlebniswirtschaft und Begründer der Strategischen Dramaturgie, kennt die Symptomatik. „Der einstmals unauffällige Peugeot startet in Ihrer Wahrnehmung ein sogenanntes Brain Script. Das ist eine Art Drehbuch eines Erlebnisses längst vergangener Tage, das Sie irgendwo tief im Unterbewusstsein gespeichert hatten und mit dem Sie irgendetwas Wohliges, Angenehmes assoziieren. Durch eine Aktion, eine Handlung, einen Geruch, einen bestimmten Klang oder eben ein gewisses Produkt wird jener Plot aufgerufen und beginnt von selbst zu laufen. Die positiven Vibes, die das Brain Script vermittelt, färben so natürlich auch auf das Objekt ab, das sie getriggert hat. Und plötzlich empfinden Sie Zuneigung für etwas, das ihnen bislang nicht mal aufgefallen war.“

Einst Gebrauchsgegenstand und Arbeitsgerät für Plattenaufleger, heute High-Fidelity-Luxusgut und Fetishtool für DJs: der legendäre Plattenspieler 1210 von Technics. Foto: (c) Franz J. Sauer

So könnte man mit wenigen Worten die gesamte Retro- und Vintagewelle in Mode, Mobilar, Automobilität und Kultur herleiten, Phänomene über Phänomene sozusagen. Aber ganz so einfach bleibt es freilich nicht. Denn der Mensch, vor allem der geschäftlich gewitzte, kann und möchte diese plötzliche Faszination für bestimmte Dinge natürlich gezielt herbeiführen. „Und das nennt man dann Priming.“ Zufällig handelt Mikundas jüngstes Buch von Hypnoästhetik, die ebenfalls viel mit Priming zu tun hat. Und die sich Shopbetreiber und deren Visual Merchandiser zunutze machen, um uns auf das von ihnen angepriesene Produkt möglichst unauffällig, also über geschickt gelegte Umwege, dafür dann aber umso eindrucksvoller hinzuweisen. „Weshalb liegt in einem edlen, britischen Laden eine hölzerne Beinprothese aus dem Ersten Weltkrieg? Was haben zwei schwere Mühlsteine in einem noblen Herrenmoden-Geschäft zu suchen? Und warum betrete ich einen modischen Brillenladen durch ein Schiffswrack und gelange, noch bevor ich die erste Sonnenbrille sehe, zu einer Installation aus knallroten Fächern?

Foto: (c) Econ-Verlag

Das Zauberwort heißt in diesen Fällen „Art Priming“ und bezeichnet die manipulative Vorinszenierung der eigentlichen Produktpräsentation. Mit allerlei aufwendigem Brimborium werden in unserem Hirn, und dort möglichst im Department für verschüttgegangene Erinnerungen, jene Brain Scripts gestartet. „Ist der Film erst mal am Laufen, erreicht mich die eigentliche Produktpräsentation in einer ganz anderen Aufnahmebereitschaft.“ Was in weiterer Folge die Kreditkarte glühen lässt. Aber wer „primt“ uns auf einen alten Peugeot 405? Auf eine un­spektakuläre Seiko 5? Oder gar auf so unnützen Ballast wie einen kleinen, metallenen Bleistiftspitzer, der mir plötzlich in einem Wiener Innenstadtladen in die Finger fällt?

Ich treffe Christian Mikunda in einem Store namens „Manufactum“. Der schicke Laden in der City, der vom selbstgebackenen Bobo-Brot bis zur sündhaft teuren Barbourjacke so ziemlich alles feilbietet, was man sicherlich niemals dringend braucht, ist von A bis Z ein perfektes Beispiel für Priming. „Wogegen man sich ­übrigens auch nicht wehren kann, auch wenn man weiß, was hier abläuft.“ Mikunda selbst ertappte sich einst dabei, hier einen feschen kleinen Erdspaten zu kaufen, der da vermeintlich zufällig im richtigen Moment auf dem richtigen Tischchen lag. Und nun daheim auf seinem Schreibtisch ruht, weil die Mikundas gar keinen Garten haben. „Trotzdem wollte ich ihn unbedingt haben. Weil er irgendeinen angenehmen Storyplot ins Laufen brachte, der mich ihn ­haben wollen ließ.“

Selbstredend habe ich mir längst ein paar Peugeots aus dem Internet angesehen. Hab mich erstmals im Leben hinters Steuer eines 405ers gezwängt. Und mich beim Darüber-verzückt-Sein ertappt, wie ergonomisch all die Plastiktaster für Heckscheibenheizung, Alarmblinker und sonstige automobile Banalitäten angeordnet sind. Selbst der Geruch zauberte mir ein Grinsen ins Gesicht. Und zum Kaufabschluss kam es bloß nur nicht, weil die Autos alle kein Schiebedach hatten.

Was haben zwei Mühlsteine in einem noblen Herrenmoden-Geschäft zu suchen? Und wer „primt“ uns auf einen alten Peugeot 405?

Ich kaufe nämlich keine Autos ohne Loch im Dach und mit meinem frischen Wissen über Priming und Konsorten gehe ich dieser Macke erstmals neugierig auf den Grund. Tatsächlich finde ich schnell das entsprechende Brain Script in den Tiefen meines Denkapparates. Irgendwann als Teenager saß ich im Sommer am elterlichen Balkon und beobachtete meinen Vater, wie er seinen blauen Volvo schwungvoll in unsere Gasse bog. Wenn er nicht zu müde wäre, hatte er mir versprochen, würden wir heute noch Tennis spielen gehen. Sakko und Krawatte hatte er bereits abgelegt, überhaupt wirkte er entspannt und happy, wie er da so seine rechte Hand auf dem Beifahrersitz ablegte und seine Linke lässig aus dem Fenster spitzte. Seinen Gesichtsausdruck schließlich, jenes feine, breite Lächeln, das er nur dann aufsetzte, wenn er seine verhasste Firma für ein paar Tage aus dem Geist streichen konnte, erkannte ich durch das weit geöffnete Schiebedach. Ein Anblick der mich in diesem Moment elektrisierte. Von da an stand das Feature Schiebedach in meiner Wahrnehmung für Freiheit, Loslösung, ­Entspannung, Fröhlichkeit.

„Brain Scripts können auch bloß ein Verweis auf eine bestimmte Zeit sein“, stellt Mikunda klar, womit auch die Peugeot-Sache einen Sinn ergibt. Ich hatte eine gute Zeit, als dieser Wagen an ­jeder Ecke parkte. Jetzt freilich spielt auch das Phänomen der Verknappung eine Rolle, da man heute weit weniger 405er-Peugeots auf unseren Straßen sieht als etwa noch vor 15 Jahren.

Zwar von Pinin­farina gezeichnet, aber doch recht fad betrat der müde Peugeot 405 anno 1987 die Automobilbühne. 30 Jahre später wächst er mir plötzlich ans Herz … Foto: (c) Peugeot

Freilich kann man auch anders primen oder „geprimet werden“. Film- und Fernseh-Content empfiehlt sich hier vorzüglich. Durch die Serie „Die Brücke“ wurde etwa der mir sonst ebenfalls nicht besonders zusagende Peugeot 407 Break ein sympathischer Geselle. Sonny Crocket lehrte uns nachhaltig, wie cool T-Shirts unter Sakkos und Espandrillos zu Anzughosen passen. Erst als Samuel Jackson alias John Shaft eine polierte Glatze mit Vollbart kombinierte, wurde das auch in meinem Badezimmerspiegel salonfähig. Und ohne die rasenden Zigarettenschachteln von Marlboro, John Player Special und Camel in der sonntäglichen Grand-Prix-Übertragung hätten wir alle um einiges weniger genussvoll gepofelt.

„Dabei sprechen wir eher von ‚Seeding‘, also von Priming, das in die Zukunft gerichtet ist. Was übrigens auch ins Negative ausschlagen kann.“ Dann nämlich, wenn etwas eigentlich Negatives umgedreht, also zu etwas Erstrebenswertem „geprimt“ wird. So ist der oft zitierte Nachahmeffekt bei Selbstmorden weithin bekannt. Und jeder, der dem Spritzen von Heroin trotz aller bekannter, scheußlicher Nebeneffekte nicht komplett abgeneigt ist, wird nach der einschlägigen Szene im Tarantino Kultfilm „Pulp Fiction“ garantiert zum Fixer.

All das Wissen über Priming, Seeding und die getriggerten Brain Scripts soll uns übrigens nicht zu sehr verhirnen, wenn wir das nächste Mal einen perfekt durchgestylten Flagship Store irgendeiner Supermarke betreten. Oder aber plötzlich liebevolle Gefühle für irgendeine unspektakuläre Rostlaube aus längst vergangenen Tagen empfinden. Für mich blieb beruhigend, dass sogar ein Vollprofi wie Mikunda den bewusst gelegten Honigspuren für uns Konsum-Insekten kaum ­widerstehen kann, wenn’s drauf ankommt: Ich musste ihn auch diesmal von der gutsortierten Gartenwerkzeug-Abteilung im „Manufactum“ wegzerren …

Dr. Christian Mikunda, Foto: (c) mikunda.com

Dr. Christian Mikunda

gilt als Begründer der Strategischen Dramaturgie. Er berät Autofirmen, TV-Anstalten, Museen und den Einzelhandel, entwickelt Brandlands und Shopping Malls. Als Vortragender ist er weltweit gefragt, als Dozent lehrte er in Wien, Salzburg und München. Sein jüngstes Buch „Hypnoästhetik“ erschien ­im Econ-Verlag. mikunda.com