AKUT

Keine Angst

Jakob Stantejsky

In gewisser Weise war Hansi Lang ein Prophet, wenn er diesen Satz auf diverse Wiener Wände sprühte. Denn Souveränität gegenüber der Angst ist die bestimmende Eigenschaft von Männlichkeit im 21. Jahrhundert.

Text: Franz J. Sauer / Foto Header: Conny de Beauclair, Foto: Matthias Horx

Da sitze ich also, einen Tag vor Abgabe. Hab ein Glas Weißwein neben mir stehen und nun all die wunderbaren Zeitreisen redigiert, ach, was heißt redigiert – inhaliert habe ich, was die Herren Schrage, Wollinger, Sax und Wieser da über Zeiten zu erzählen wussten, die ich teils schon ganz gut mitbekam, teils von viel weiter unten erlebte. Man war halt nicht immer zwei Meter lang. Sondern auch mal ein kleiner Bub, der den väterlichen WIENER mit den bösen Stories (und den heißen Mädels) irgendwie großformatiger in Erinnerung hatte. Man wollte so sein, wie er war, der WIENER, wenn man dann mal groß sein würde. Der WIENER wusste nämlich immer Rat. Oder fast immer.

Tatsächlich gab es Themen, die der WIENER wohl als einer der ersten anfasste, obwohl er keinen Rat gegen oder für sie wusste. AIDS war so eine Sache. Das Waldsterben eine andere (erinnert sich da heut noch wer dran?). Prognosen, wie und wann und warum die Welt untergehen würde, gab es immer wieder zuhauf. Aber der WIENER wusste sie immer in gewitzten Formulierungen unterzubringen. So nach dem Motto: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Fast hätte man meinen können, den coolen Hunden beim WIENER wäre es wurscht, ob sie elendiglich verrecken, Hauptsache es gibt ’ne Pointe. Was speziell beim Thema Atomkrieg immer wieder kläglich scheiterte. Man spürte, wie selbst den härtesten Kerlen in der Lehárgasse vor der finalen, kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West gruselte. Dabei fürchtete man sich weniger davor, beim Erstschlag ausgelöscht zu werden, als denselben zu überleben. In einer Welt, die zwangsläufig nicht mehr als lebenswert im Sinne des WIENER anzusehen wäre. Im Bunker etwa. Oder auf für ewig verstrahltem Gebiet. Ganz ohne Cocktails, Mode, Sex und Autos. Da würde man doch lieber gleich sterben, wenn der erste Pilz aufgeht.

Auch ich hatte damals Angst vorm Atomkrieg und seinem Danach. Ich erinnere mich sogar dunkel daran, wie ein Satz im WIENER diese Angst rechtschaffen auf die Spitze trieb. Sinngemäß stand da, es wäre nicht die Frage ob, sondern wann es zur atomaren Auseinandersetzung zwischen den Großmächten kommen würde. Die Gefahr war damit real, fast spürbar. Und wenn sich sogar der WIENER fürchtet, dann sollte der kleine Franzi auch langsam in Panik geraten.

Moden kamen und gingen, ganze Technologien, einst hochgejazzt und bejubelt, sind längst verschwunden. Der WIENER wusste diesbezüglich immer frühzeitig Bescheid. Bloß gegen den Weltuntergang hat er bis heute kein Rezept gefunden. Zwar kamen Gorbatschow und der Mauerfall, wurde Deutschland eins und der Warschauer Pakt zerfiel. Wurde das Wald­sterben abgesagt und sogar das Ozonloch wuchs wieder zu. Putin wurde zum Helden der Stabilität ernannt (ernsthaft, anno 2004 lieferte ihm der WIENER eine regelrechte Hommage) und Obama bekam den Friedensnobelpreis. Wir haben überlebt, der WIENER auch, unglaublich eigentlich. Aber würde das wirklich auch die nächsten 40 Jahre so weitergehen, wie vollmundig auf dem Cover dieser Jubelnummer angekündigt?

Vorgestern mittag. Ich habe gerade das Cover freigegeben und habe dabei ein schlechtes Gefühl. Ich meine, würden wir diesmal nicht etwas übertreiben mit unserem Zukunftswissen? Wer kann schon ahnen, was in 40 Jahren sein wird? Beziehungsweise ob das Leben dann nicht jenem nach dem Atomschlag gleicht, nur halt nicht durch diesen, sondern den Klimawandel hervorgerufen? Ein Experte musste her. Und da wird man recht schnell fündig im Zukunftsinstitut des Matthias Horx.

„Ernsthaft, Sie interessieren sich für die Zukunft? Eigentlich interessiert sich dafür kein Schwein. Zukunft ist ja im Grunde immer ziemlich komplex, sie hat ja auch mit einem selbst zu tun, mit den eigenen Erwartungen und Projektionen und Handlungen. Deshalb bevorzugen die Menschen das Schicksal.“

Eine Einleitung, die einem Angst machen könnte. Aber Horx legt sogleich nach, und das weitaus wissenschaftlicher: „Zukunft ist heute ja eher ein Angstbegriff. All die Untergangsfantasien, das sind großteils Wahrnehmungsfehler, die durch Hysterisierungen in medialen Umwelten entstehen. Wir sind ja die Nachfahren der Überängstlichen, und ja, es ist gut, dass unsere Urahnen schnell zu laufen begannen, wenn es im Gebüsch raschelte. Heute leben wir aber in unserem Teil des Planeten in einer relativ sicheren Umgebung, die Angst hat ihre Funktion eingebüßt, wühlt aber immer noch in uns herum. Also schreien wir mit Wonne Alarm, es gibt ja so etwas wie eine ‚apokalyptische Komfortabilität‘, ein Untergangsgefühl, in dem man sich einrichten kann. Dabei verlieren wir positive Entwicklungen und Möglichkeiten aus dem Blick. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist ja auf vielen Ebenen wirklich besser geworden, man kann heute als Frau anders leben, als Mann anders leben, man hat viel mehr Optionen für das Lebensglück. Aber bedeutet uns das etwas? Können wir den Fortschritt würdigen? Denken wir an die Global-Warming-Problematik: Wir haben heute Technologien zur Verfügung, um ohne CO2 Energie zu erzeugen, auch in großen Mengen. Ich fahre seit vielen Jahren Elektroauto und komme überall ohne Probleme hin – aber die Leute erzählen mir immer nur, dass das ‚eigentlich‘ unmöglich ist. Wir haben immer bessere Technologien, mit denen wir Materialkreisläufe schließen können. In Europa und den USA sind die CO2-Ausstöße bereits gesunken, selbst China schließt jetzt im großen Maßstab Kohlekraftwerke. Liest man das irgendwo, nimmt man wahr, was sich verbessert? Statt diese positiven Entwicklungen zu verstärken, verstricken wir uns lieber in ein Untergangsszenario, in dem es vor allem darum geht, wer schuld ist. In 50 Jahren werden wir eine Greenconomy haben, die auf erneuerbaren Energien und Wasserstoff beruht. Natürlich werden wir weiterhin Auto fahren, aber halt mit E-Antrieb oder Brennstoffzelle. Aber das menschliche Gehirn kann diese wahrnehmbare Entwicklung unter medialem Dauer-Angst-Feuer nicht richtig fühlen, weil es eben auf Angst geeicht ist. Das kann man auf alle Bereiche weiterziehen. Migration etwa, die Furcht vorm Flüchtling. Menschen sind immer schon gewandert, aus unterschiedlichen Gründen, ganz Amerika beruht auf Migration.Und daraus sind ja viele Erfolgsgeschichten geworden.“

Ziemlich viel Info in ziemlich kurzer Zeit, kaum zu verarbeiten, so schnell. Bloß ein Wort hab ich mir gemerkt: Angst, mal wieder. Also legen wir mal die neuen Erkenntnisse auf Lager und fragen wir weiter. Etwa: Werden Frauen und Männer weiterhin aufeinander einhauen, und so viel Angst voreinander haben wie in den letzten Monaten?

„Wenn wir die Zukunft verstehen wollen, müssen wir neben dem Wandel auch die evolutionären Konstanten verstehen. Zwischen Mann und Frau hat sich viel geändert, aber das Mann-Frau-Spiel ist auch von archaischen Mustern geprägt. Männer waren Hunderttausende von Jahren Jäger, Frauen Hüterinnen des Feuers und der Vorräte. Männer- und Frauenrollen haben sich natürlich mehr ausdifferenziert, aber gleichzeitig sind auch die Extreme stärker geworden. Es gibt nach wie vor bizarre Machos und fürchterliche Diven, vielleicht mehr denn je. Es gibt eine bizarre Übersteigerung von Weiblichkeit UND peinlicher Männlichkeit. Ibiza ist sozusagen überall. Und gleichzeitig existieren eine Menge Gender-Zwischentöne, in denen die Rollenmuster sich mischen, wo alles androgyn, aber auch fad wird. Dieses Hin und Her von Aufbrüchen und Retros führt aber irgendwann auf eine neue Stufe, wir nennen das die ‚futuristische Schleife‘. Ich glaube, wir werden in den nächsten Jahren wieder so etwas sehen wie eine ‚Neue Würde der Differenz‘. Wir lernen wieder, die Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen zu würdigten – aber eben nicht mehr in den Maßstäben der Ungleichheit und Hierarchie. Männer werden endlich aufhören, sich vor starken Frauen zu fürchten, und Frauen werden aufhören, ständig an Männern herumzubasteln. Das wäre dann eine neue Freiheit der Differenz, die auch sicher mehr Freude machen würde als das heutige Gewürge.“

Furcht also, der kleine Bruder der bösen Schwester Angst. Da war sie wieder. Die Konstante, die sich durch diesen Text zieht. Langsam reicht’s mir mit Angst und Furcht. Angst ist ein ungutes Gefühl, schafft körperliches Ungemach, lässt einen unruhig schlafen und weich scheißen. Und jetzt meint der Zukunftsforscher, dass wir sie gar nicht mehr brauchen, rein evolutionär betrachtet?
„Bravo. Sie haben gerade den neuesten Trend freigelegt, merken Sie es? In einer überreizten Mediengesellschaft, in der alles nur noch am Bildschirm oder durch überreizte Hirne flimmert, ist Gelassenheit der große Trend, ein Gegentrend, der ein seelisches Bedürfnis wiedergibt. Achtsamkeit ist das Thema unserer Tage. Wie können wir in dieser Gesellschaft, die ja ständig in Schnappatmung ist, wieder ruhig atmen lernen? Wie können wir die Wirklichkeit hinter den ganzen Bildschirmen erkennen, auf die wir ständig starren? Die größte Herausforderung der nächsten zehn Jahre ist es, mit der virtuellen Welt umgehen zu lernen, in der sich ständig Schein und Sein, Wirklichkeit und Konstruktion vertauschen. Dazu brauchen wir neue geistige, mentale Techniken. Es geht darum, ‚Om-line‘ zu sein, die richtige Balance zwischen Virtuellem und Realem zu finden. Übrigens – die virtuelle Welt ist ja auch nix Neues. Man denke an magische Welten, in denen unsere Vorfahren immer schon gelebt haben, an Hexen, die Kirche. Ein barocker Klappaltar ist auch nichts anderes als ein Fenster in eine andere Welt.“

Fassen wir also zusammen, was der Nicht-Wissenschafter unter all dem versteht. Erstens: Die Welt wird nicht untergehen. Auf den Punkt gebracht: Weil sie auch bis jetzt noch nie untergegangen ist. Hey, schon wieder eine Konstante! Und zweitens: Jene Eigenschaft, die im 21. Jahrhundert Männlichkeit am deutlichsten definiert, ist die Souveränität im Umgang mit Ängsten. Ich muss gestehen, so einfach war es noch nie, den Jungs von morgen zu sagen, wie sie sich Coolness erarbeiten können: Wollt Ihr cool sein, müsst ihr cool bleiben. Und zwar in echt, nicht in eurer virtuellen Selbstwahrnehmung. Ich gebe zu, dieser Stehsatz ist wohl einfach, aber keineswegs banal.

Nachdem der Weltuntergang nun also auch die nächsten 40 Jahre ausbleibt, zumindest wenn nichts gänzlich Unvorhersehbares geschieht, dann kann man sich
nun ja wohl auch trauen, die Frage aufzuwerfen, wie der Wiener in 40 Jahren aussehen wird. Also, der Bewohner der Großstadt ist hier jetzt gemeint. Zunächst wird ihm gehörig was fehlen, wenn er sich nicht mehr mit Wonne in Weltuntergangskoketterie versenken kann. Was bleibt als Ausweg? Schlag nach bei Falco: Dekadenz.

„Die wird der Wiener mit Wonne ausbauen“, schaltet sich wieder Matthias Horx ein, ein Wahl-Wiener übrigens, schon seit 20 Jahren. „Wien wird in 40 Jahren eine noch globalisiertere Gesellschaft sein, die versucht, sich in ihrer Tradition wiederzufinden. Und dann wird sich hier im Herzen Europas hoffentlich wieder ein Kraftzentrum entwickeln, in kultureller, in innovativer Hinsicht. Wien hat einst viele Innovationen der Moderne hervorgebracht, schon in ganz früheren Tagen, spätestens um 1900 – Kunst, Musik, Architektur – die Voraussetzungen wären da, schon
allein wegen der geografischen Lage in Europa, aber auch wegen der vielfältigen Geschichte der Stadt als kulturelles Zentrum eines multikulturellen Raums. Bleibt bloß zu hoffen, dass der virtuelle Raum nicht zu vielen Menschen den Boden unter den Füßen wegzieht, von ihnen Besitz ergreift, sodass für die urbane Realität nichts übrig bleibt.“

Es ist nun schon nach Mitternacht. Der Abgabetag ist da. Der Weißwein wird weniger und ich fühle mich seit dem Telefonat mit Matthias Horx besser. Mit schlauer Expertise untermauert arbeitet es sich gleich viel besser an der eigenen Souveränität. Und jetzt könnte ich noch ein bisschen fernsehen …

Da poppt ein Banner auf, direkt im Browser, wo ich den Streamingdienst anklicke: „Die 12 besten postapokalyptischen Endzeitfilme zurzeit (sic!) auf Netflix. Klimawandel, Atomkrieg oder Pandemie: Diese Filme machen aus dem Weltuntergang eine spannende Geschichte.“

Früher hat das immer der WIENER gemacht.

Matthias Horx
64, stammt aus Düsseldorf und studierte Soziologie in Frankfurt. Bis 1992 arbeitete er als Journalist, gründete etwa das legendäre TEMPO mit. 1993 eröffnete er in Hamburg das Trendbüro, 1998 folgte das Zukunftsinstitut mit Sitz in Frankfurt und Zweigstelle in Wien, wohin Horx vor 20 Jahren übersiedelte. Sein neuestes Buch, „Future Love, die Zukunft von Liebe, Sex und Familie“ ist bei „Random House“ erschienen.