AKUT

Horcht’s was euch der Papa sagt…

… und dann vergesst es schnell wieder, ja? Ein Essay über Erbängste, Unzulänglichkeiten und was man am besten liegenlässt.

STORY: FRANZ J. SAUER / ART: Ronald Konkolits

I. Mein Vater starb, als ich 15 war. Ein Schock, einer der sich anschlich, nicht gleich zu kapieren war, nicht zu greifen, in all seinem Umfang. Alle, von Lehrer bis Freunde, von Verwandten bis Nachbarn, rieten mir, ich möge auf den großen Zusammenbruch gefasst sein. Denn der komme noch, ganz bestimmt. Ich hatte ihn also stets auf dem Schirm, den großen Klescher. Den Zusammenklapp, wie auch immer er aussehen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Ich blieb cool, was mich selber überraschte. Sei wohl hart im Nehmen, dachte ich mir. Und außerdem war ich sowieso zu sehr mit Erwachsenwerden beschäftigt, was durch die Sachzwänge turbogleich beschleunigt wurde.

Meine Mutter überlebte meinen Vater um ein sattes Vierteljahrhundert und replatzierte ihn auch nie. Sie betrachtete ihr Beziehungsleben als mit 55 Jahren beendet und zelebrierte den daraus resultierenden Kummer mit der Grandezza einer Opernsängerin, die sie ja auch war. Es konnte mächtig nerven, wenn sie all ihre unverbrauchte Fürsorge-Energie einzig und allein auf mich laserte. Das Ende ihres Lebens gestaltete sich krankheitsbedingt leider ziemlich unfein: schlimm verzweigte Krebsmetastasen in den Bronchien sowie ein leichter Schlaganfall machten die letzten drei Monate ihres Lebens zu einer Zeit, die sie sich und auch mir gerne erspart hätte. Das endgültige Verkommen zum Pflegefall, wovor sie sich stets am meisten fürchtete, verhinderte ihr Körper, indem er rechtzeitig sein Funktionieren einstellte.

Mit knapp 40 Jahren hatte ich also beide Eltern verloren, was mein Leben im Einklang mit anderen privaten Gegebenheiten doch gehörig auf den Kopf stellte. Dementsprechend kaputt fühlte ich mich nach ihrem Begräbnis, gelinde gesagt ausgebrannt. Und um die klar am Horizont erkennbare Abwärtsspirale rechtzeitig einzubremsen, begab ich mich in Psychotherapie.

Schon nach ein paar Sitzungen wies mich der Therapeut allerdings darauf hin, dass ich gar nicht die schlimmen letzten Monate mit meiner Mutter aufzuarbeiten hätte, dafür hatte ich nämlich schon die Zeit ihrer Krankheit recht effektiv genutzt. Die Krise, das Schwere, das Dunkle, das ich gut spürbar mit mir herumschleppte und das gerade irgendwie zu eskalieren drohte, wäre viel mehr jenes Paket, das mir mein Vater bei seinem frühen Tod mitgegeben hatte. Und das ich nun bereits seit 24 Jahren mit mir herumgeschleppt hatte, ohne es mitzukriegen.

Da war er nun also doch, der längst vergessene „Zusammenbruch“, halt mit ein bissel Verspätung. Also begann ich, mein Leben akribisch auf Spurenelemente meines Vaters abzusuchen. Und wurde verblüffend schnell fündig. Zum Beispiel hatte meine latente Abneigung gegen fixe Angestelltenverhältnisse, die ich bisher als Problem mit Subordination und/oder Obrigkeiten verortet hatte, plötzlich eine klare Ursache. Seit ich denken konnte hatte mein Vater seine ständige Angst davor artikuliert, seinen „Posten“ zu verlieren. Tatsächlich wurde er, als ich 13 war, gekündigt, sechs Wochen später hatte er Krebs, zwei Jahre später war er tot. Gekündigt werden heißt also sterben, brannte sich auf meiner Festplatte ein. Und wie wird man sicherlich nie gekündigt? Indem man sich nirgendwo anstellen lässt.

Plötzlich konnte ich die Herkunft meiner Vorliebe für gewisse Dinge, etwa bestimmte Musikstücke und -interpreten, bestimmte Filme, bestimmte Bücher, aber auch Orte, Pflanzen, Reiseziele, die ich seit jeher ganz besonders gemocht hatte, verorten. Friedrich Gulda, Hans Hotter, Joe Zawinul und Herbert von Karajan, Städte wie Salzburg, Rom oder Dubrovnik, die Wotrubakirche am Maurer Georgenberg, Filme wie „Blow Up“, „Wen die Götter lieben“ oder „Der dritte Mann“, Gewitter, Sonnenuntergänge, der Blick von irgendwo hoch über Wien auf die Stadt – alles Sachen, die auch mein Vater geliebt hat, was ich anscheinend unreflektiert übernommen hatte. Und damit haben wir erst die angenehmen Inhalte des von ihm am Totenbett überreichten, imaginären Rucksackes thematisiert.

Was er mir ebenfalls wohlverpackt mit auf den Weg gab, war ein Haufen Ängste, Zweifel und Unzulänglichkeiten, die er an sich selbst gehasst hatte. Dazu gehört die Sache mit dem Jobverlust ebenso wie die etwas tiefer vergrabene Furcht davor, irgendwann unter der Brücke zu landen (den bei ihm damit gekoppelten und diesbezüglich ganz nützlichen Geiz hat er sich allerdings mit ins Grab genommen). Eine fast körperliche Angst vor Krieg und Luftangriffen, obwohl ich derlei nie selbst erleben musste, bekam ich ebenso implantiert wie eine fast schon panische Abneigung gegen Schusswaffen aller Art. Und die krass im Gegensatz zu den Vorgaben meines Sternzeichens (Jungfrau) stehenden Features Unpünktlichkeit und Sammelleidenschaft mit leichtem Hang zum Messietum hab ich wohl auch nicht von meiner Mutter geerbt. Langer Schreibe kurzer Sinn: Dafür, dass mein Leben bald doppelt so lange ohne meinen Vater stattfindet als mit ihm, hat sich sein energetischer Nachlass ziemlich raumgreifend in meinem Dasein breitgemacht.

II. So was Schlimmes wie den frühen Tod des geliebten Vaters solle meinen geliebten Töchtern also niemals widerfahren. Womit ich einen ziemlichen Stress damit aufreiße, mindestens so lange auf der Erde verweilen zu müssen, bis die beiden erwachsen oder zumindest alt genug sind, um meinen Abgang zu verkraften. Wer dahinter Narzissmus ortet, mag Recht haben, ich weiß es nicht. Jedenfalls ist meine Abneigung gegenüber Menschen, die mir Böses wollen, zu rechtschaffener Aggression gereift – weil solche Leute ja neuerdings nicht mehr primär meine Feinde, sondern die Feinde meiner Kinder sind. Und was mit solchen zu geschehen hat, brauchen wir hier nicht extra zu erörtern.

Solche Ansichten treiben einen einerseits recht brav zu Vorsorgeuntersuchungen und ähnlichen Events, jedenfalls viel braver, als man so was nur wegen seiner selbst erledigte. Andererseits sorgt es nachgerade für Unbehagen, wenn man beim geliebten Nachwuchs feststellt, wie er unhinterfragt Vorlieben vom Papa, etwa für Urlaubsorte, Gesprächsthemen oder Eissorten übernimmt. Umso energischer versuche ich, die Individualität meiner großen Tochter unbedingt und allenorts, und sei es nur bei der Sortenauswahl in unserer gemeinsamen (es ist übrigens dieselbe wie bei Vatern und mir …) Lieblingseisdiele, zu fördern. So freue ich mich völlig übertrieben über Eigenheiten oder Hobbys, die sie eindeutig von ihrer Mutter übernimmt, und versuche diese mit ganz viel Verve zu unterstützen. So richtig glücklich bin ich, wenn sie etwas, was ich gern mag, völlig ablehnt. Also Pink Floyd, Eric Clapton, Dire Straits oder Sting „eher fad“ findet, weder meine Begeisterung für Pho-Suppen, noch jene für Rindszunge teilt und ein Papa-Wochenende auch mal sausen lässt, weil sie lieber eine Freundin trifft, um mit ihr TikTok-Videos zu drehen.

III. Merken Sie es? Ich baue exakt den gleichen Scheiß wie mein alter Herr, bloß dass ich nicht die Fairness besitze, wie er damit zu warten, bis ich abbankle. In der Angst davor, Ängste weiterzugeben, schnüre ich das Packerl, das ich meinen Mädels dereinst von über dem Jordan zuwerfen werde, gleich so fest, dass sie es garantiert nie aufkriegen ohne fremde Hilfe.

Gut, dafür sind die beiden zwei, also doppelt so viele wie ich damals. Und zusammengeschweißt wie Pech und Schwefel, trotz neun Jahren Altersunterschied. Wenn ich Glück habe, ignorieren sie mein Packerl. Lassen es ungeöffnet vor sich auf den Boden krachen. Steigen drüber, gehen einfach weiter. Und zimmern sich ihr eigenes Universum aus Ängsten, Fürchten, Befürchtungen und Unsicherheiten, so wie das jeder gesunde Mensch mit Gefühl und Gewissen irgendwann tun muss, während sie herzhaft darüber lachen, wovor sich ihr alter Herr so alles fürchten wollte. Damit schaffen sie dann nämlich eines, zu dem ich bislang nicht im Stande war: durch die eigenen Ängste durchzugehen, liegenzulassen, was weggehört. Und keinen Gedanken daran zu verschwenden, was sein könnte, wo es doch viel wichtiger ist, darauf zu reagieren, was sein wird.

Überhaupt scheint mir die kommende Generation, jene also, die jetzt im Teenageralter ankommt, mit weitaus geschärfteren Sinnen in die Zukunft zu blicken, als wir das je für nötig hielten. Anders hätten sich wichtige Dinge wie #FridaysforFuture oder aber das gesunde Frauenverständnis heutiger Jungs, dem man immer öfter begegnet, kaum entwickelt. Macht nur, Mädels. Ihr werdet schon das Richtige tun. Hoffentlich kann ich noch lange dabei zuschauen.