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Perestroika oder 30 Jahre Fall der Berliner Mauer

Ein Herbst im Zeichen der Mauer: Im November feiert Deutschland den Fall des Betons zwischen Ost und West sowie jeder veritable Pink-Floyd-Fan das 40-jährige Jubiläum des Konzeptalbums „The Wall“. Weil ­Mauern dazu da sind, um abgerissen zu werden. Allerdings ist Brexit-­Boris diesbezüglich comfortably numb.

Foto: Getty Images

Es hatte alles mit dem Russen zu tun, den in den 80er-Jahren alle liebten. Österreichs damaliger Bundeskanzler Franz Vranitzky hielt ihn für „sympathisch“, Deutschlands Außenpolitiker Hans-Dietrich Genscher wollte ihn und seine „neue Politik mit aller Konsequenz beim Wort nehmen“. Nicht einmal Wolf Biermann, DDR-Export der ersten Stunde, konnte über ihn ätzen: „Gemessen an allen seinen Vorgängern, diesen verdorbenen Greisen, duftet er wie der junge Frühling.“

Er, der mittlerweile 88 Jahresringe hat, hieß Michail Gorbatschow, saß im März 1985 erstmals auf dem Sofa des Generalsekretärs der Sowjetrepublik, mit 54 Jahren der jüngste Russenboss seit Stalin. Besonderes Merkmal: ein Blutschwamm auf der Stirn, der von einer „Aura der Auserwähltheit“ zeugte, wie es hieß. Vor allem hatte er noch alle Wodkagläser im Schrank und fiel nicht, wie seine Vorgänger, gleich tot um, wenn im Politbüro mal eine Wanze hustete. Dem Westen schmiss er zwei Brocken hin – Glasnost und Perestroika (Transparenz/Umgestaltung) –, gewürzt mit starken Sprüchen: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“ etwa, und: „Wir werden euch des Feindes berauben.“ Außerdem träumte er davon, „das Jahr 2000 in einer kernwaffenfreien Welt zu erleben“. Plötzlich war der US-Präsident, damals Ronald Reagan, der böse Bube. Und „Gorbis“ Genossen im Osten bekamen die Dialektik des Bruderkusses zu spüren. Wo immer Gorbatschow einen Oberkommunisten umarmte, gab es später volkseigenen Zores. Die Länder des Warschauer Pakts konnten ihre Staatsform fortan selbst bestimmen. Und es begab sich, dass Michail Gorbatschow den DDR-Vorsitzenden Erich Honecker küsste, den maßgeblichen Organisator der am 13. August 1961 errichteten Berliner Mauer. Aber Gorbis Kuss hielt kein Beton stand. Am Abend des 9. November 1989 wurde die Mauer im Zug der politischen Wende geöffnet. Dass die Luft der Westwelt nicht immer hält, was sie verspricht, bejammert heute so mancher Ossi. Aber das ist eine andere Story.

Inzwischen, in Großbritannien, wird wieder emsig gemauert. Am 31. 10., also ominös passend zu Halloween, sollte Brexit passieren, als dieser Text verfasst wurde. Beharrte Britanniens (bei Blattschluss noch amtierender) Prime Minister Boris Johnson. Mittlerweile wurde die Chose auf 2020 verschoben. Man möge verzeihen, dass der Anlass hier nicht weiter gewürdigt wird, dem verantwortlichen Akut-Redakteur, einem Wahlbriten, wird schon bei Erwähnung des Wortes übel. Stattdessen sei auf das legendäre Pink-Floyd-Album „The Wall“ hingewiesen, das am 30. November den 40. Geburtstag feiert. In diesem Sinne: „Break down the walls / Scream and shout / Till the lights go out.“ Möge der letzte Auslandsbrite, der England verlässt, das Licht ausschalten.

Termin: 30 Jahre Fall der Berliner Mauer: 9. 11. 2019; 40 Jahre „The Wall“ by Pink Floyd: 30. 11. 2019.