AKUT

Istanbul – Napoleons Welthauptstadt

Diese Geschichte beginnt wie alle Geschichten auf der Rückbank eines türkischen Taxis. Im Stau. Als Fortsetzung von einer, die noch nicht geschrieben wurde, aber gleich fertig notiert ist. Vorausgesetzt, meine Gedanken flackern weiter so über die Seiten.

Text: Konstantin Arnold / Fotos: Konstantin Arnold

Angezündet von religiösen Monumenten und dem reinleuchtenden Licht vorbeirauschender Straßenlaternen, Parfümwerbung, die verschleierten Frauen Freiheit verspricht und Ampeln, am dramatischsten ist Rot. Die Ampelphasen und das Rot sind aber nicht das Problem, sondern, dass sie keiner beachtet. Zwei Stunden schon, weit nach Rushhour, und das ist nur die Fahrt zum Flughafen. Einen Unfall hatten wir auch schon und einen Streit, mit einem anderen Taxifahrer, der auch einen Unfall hatte. Die Polizei schlichtete das mit Maschinengewehren. Noch nicht mal über die Brücke sind wir gekommen, die große, schöne Bosporus-Brücke, die Asien und Europa zusammenhält, im Tauziehen über alle Unterschiede hinweg, 1560 Meter lang, die erste Brücke Istanbuls, zwei Kontinente groß, 15 oder 25 Millionen Einwohner, so richtig weiß das in Istanbul keiner, auch nicht mein Mann im Taxi. Aber 15 oder 25 Mal mehr, als noch im frühen 20. Jahrhundert, sollen es sein. Die Stadt ist sehr europäisch oder sehr asiatisch oder beides. Ein Grenzbereich und der Beweis dafür, wie wunderschön Vermischung ist. Die Menschen scheinen ihre eigenen Systeme bei sich zu haben, die sie immer mit sich rumtragen, egal wo sie sind. Das muss durch die vielen Nationalitäten kommen, die immer wieder neue Systeme mitbringen und so das Istanbulianische schaffen, das so was ist, wie das Wienerische oder das Beirutische. Es ist europäisches Licht und europäische Temperatur und europäisches Laub das auf asiatische Gebäude fällt, in denen viele verschiedene Nationen in Eintracht leben und sich wundern, warum das der Rest der Welt nicht kann. Kalte Moscheen, die unter Mischlaub leuchten und sich über Lautsprecher miteinander verständigen. Ihre Worte fliegen im Wind. Die Sonne scheint auf gemalte Schriften, Gold auf grünem Grund. Jeder muss irgendwo hin, ist ganz fest davon überzeugt. Die Stadt wuselt, sieht benutzt aus, ist voller Menschen, die Schuppen und Drüsen und Geschlechtsteile und Klingeltöne haben, genau wie ich und der Taxifahrer.

Ihm wäre das zu voll, aber im Taxi geht’s immer noch, solange es sich nur staut und nicht steht und einheimische Musik läuft. In Deutschland gäbe es keine einheimische Musik, sagt er, nur in Portugal und Italien und der Türkei. Er erklärt ein bisschen. Istanbul wäre nicht die Türkei, genauso wie Berlin nicht Deutschland wäre. Nicht verwechseln, Hauptstadt Ankara, Döner eine Erfindung von uns Deutschen. Nicht von uns Deutschen, sondern von Kadir Nurman. Als erster Mensch soll er in den 70er Jahren in Berlin Fleisch in einen Fladen gesteckt haben. Hier und dort soll sich das Schicksal von Weltreligionen entschieden haben. Und hier. Und dort. Vor allem dort, wo jetzt die Mall steht, hat es zehntausende dahingerafft. Osmanen gegen Griechen gegen Byzantiner. Istanbul kann sichs leisten. Man kann die Geschichte spüren, überall, da können auch Malls und Parkplätze nichts dran ändern. Die einst reichste und größte, heute immer hin noch älteste Stadt der Welt, herrschte von hier bis Österreich nach Afrika. An Istanbul musste die Welt vorbei und wenn die Welt ein Land gewesen wäre, so Napoleon Bonaparte, Istanbul wäre seine Hauptstadt. Hat mich aber alles nie interessiert. Ich kannte die Türkei ja schon. Aus Berlin und aus Köln. Jetzt flog ich zum ersten Mal hin. Für eine türkische Hochzeit und um mit meinen Vorurteilen abzurechnen. Wurde auch Zeit.

Eine türkische Hochzeit ist etwas Wundervolles. Bis auf die Trauung vielleicht und den Kitsch. Getraut wird in der Türkei am Fließband, die Stühle für die Gäste stehen wie im Kino oder am Fließband, nur pflegeleichter, lassen sich abwischen, sind direkt bereit für das nächste glückliche Brautpaar und den schönsten Tag in ihrem Leben. Heiraten ist in der Türkei ziemlich inn. Es gibt so viel Brautmode wie Bäckereien. Liegt wahrscheinlich daran, dass erst nach der Hochzeit nackt geliebt werden darf. Die Tage, zu zweit, auf dem Beifahrersitz, endlich gezählt. Aber das Beste an der Hochzeit ist die Party. Nur schade, dass um Acht schon der Wein alle ist. Vorurteil eins, Alkohol wäre in der Türkei nicht wirklich erwünscht, stimmt nicht. Sie trinken nur nicht so viel Wein wie ich und der Wein schmeckt nicht. Dafür trinken sie Raki, einen nach dem anderen. Anisschnaps, sowas wie Pastis, trinkt man genauso, nur ist es in der Türkei wichtig, mit wem man ihn trinkt. Ich trinke meinem mit einem zwei Meter großen Osmanen oder Perser oder Byzantiner, nur zwei Meter großer Araber soll ich nicht zu ihm sagen. Er zeigt mir auch, wie man türkisch tanzt, Daumen nach unten, Arme ausgebreitet um die Frau herum gelegt, ohne sie zu berühren. Die Arme dienen der Frau als Bühne und die schnipsenden, nach unten zeigenden Daumen feuern sie an. Die Geschlechter scheinen sich zu verstehen, haben im Tanzen erkannt, was einander obliegt. Es ist wundervoll. Männer bewundern und Frauen lassen sich von ihnen bewundern. Mädchen, junge Frauen, Frauen, alte Frauen, sehr alte Frauen. Es sind die gleichen sehr alten Frauen, die in Deutschland nur noch in der Ecke sitzen würden, oder es sind andere. Sie tanzen seit acht. Für die zu alten Frauen gibt es einen Livestream von der Tanzfläche, der auf einer großen Leinwand im Saal übertragen wird.

Vorurteil zwei: In der Türkei existiert nur eine Demoversion des Lebens, bei der die guten Sachen noch nicht richtig freigespielt sind, ist falsch. Frauen sitzen allein in den Cafés im Schatten der Lichter, verschleiert im Staub der Welt und ihrer Zeit, sitzen in Jeans zusammen vor großen Wasserpfeife, können Sonne und Blicke auf der Haut spüren und eine türkische oder persische oder erotische Dunkelheit von sich ausgehen lassen. Tür aufhalten, Jacke geben, Wein einschenken, das ganze Programm. Von Istanbul bis Izmir sehe ich wenig verschleierte junge Frauen und die, die ich sehe, sehen sehr schön aus. Ich frage mich, ob sie das so wollen oder ihre Eltern oder ihre Männer oder die Männer von anderen. Vielleicht geben sich diese Frauen auch nur mutlos der Tatsache hin, dass Männer genitalgesteuerte Perverse sind, die eben Kriege führen, ewige Weicheier, die sich die Haare transplantieren lassen. Kostet in der Türkei die Hälfte, von dem, was es kosten sollte. Sieht, frisch nach der Transplantation, übrigens fürchterlich aus. Erst dachte ich, diese Männer hätten eine schlimme Krankheit und gerade eine Gehirnoperation, bei vollem Bewusstsein, hinter sich gebracht. Dann sah ich ihre Stirnbänder, auf denen fröhliche Logos Werbung für die Klinik machten, aus der sie gerade kamen. Solche freundlichen Logos passten nicht zu Gehirnoperation, bei vollem Bewusstsein und ich fragte eine Frau mit Nasenschiene, die neben mir bei einem Tee saß, was diese Männer haben. Sie klärte mich auf und ich fand, dass diese Männer nun noch grauenhafter aussahen. Ich fragte mich, wo sie wohl ihre Nasenschiene herhatte, wollte aber nicht fragen, dachte an ehrliche häusliche Gewalt, irgendein Mistkerl, hatte schon die ein oder andere mit der gleichen Schiene gesehen, fragte dann trotzdem. Sie stammte von einem Schönheitschirurgen. Vorurteil drei: Türken mögen gefälschtes, stimmt. Die Läden sind voll davon und die Ladenbesitzer prügeln dich mit ihren Worten in die Läden. Parfümladen an Kofferladen an Gewürzladen an Tuchladen an Fleischerei für Innereienladen an was weiß ich, was das für ein Laden war. Es muss nach tausend Dingen riechen, so wie es in Büchern über den Orient und Okzident, mit seinen Bazaren, nach tausend Dingen riecht. Ich aber bin krank, Nasennebenhöhlen, Istanbul riecht nach nichts. Sehe nur Fisch und Dreck und Dreck, der nicht mehr weggeht. Überall wird gewerkelt. Überall hängt Mustafa Kemal Atatürk. Man zieht mich irgendwo rein, dreht mir Menthol an, plötzlich macht alles wieder Sinn, die Welt dringt in mich ein, man kocht mir Tee, dreht mir ein teures Tuch an, bezahlt mein Taxi, bietet mir seine Töchter. Man muss das alles ganz schnell nochmal lesen, damit es Sinn macht. Ich kaufte natürlich und natürlich hat man mich betrogen, abgezogen, aber mit einer Leidenschaft, die mir das Gefühl gab, für einen Moment ein ganz besonderer Mensch zu sein. Ich drehte um, wollte wütend das Tuch zurückgeben, war fest davon überzeugt, und man bot mir noch mehr Menthol, noch mehr Töchter, noch ein Gratistuch an.

Die Menschen sitzen vor ewigen Tees, bis in die letzte dunkle Gasse dieses gewaltigen Organs hinein. Man fühlt sich sicher. Die Türkei und ist ein toller Ort, um im Urlaub erkältet zu sein. Überall gibt es Tee. Es ist nicht die Hektik, die ich aus anderen muslimischen Ländern kenne und ich kenne nicht viele Marokko, Palästina, Indonesien. Nicht die gleiche Nervosität, die Schreie oder Schüsse. Die Straßenhunde sind wohlgenährt, haben keine offenen Wunden. Wir sitzen auf weißen Plastikstühlen vor dem Bordstein. Das Neonlicht fällt aufs Trottoir, staubig und romantisch und kalt. Trinkgeld wollen sie nicht haben. Nicht einmal, als ich mein Portemonnaie auf der weißen Plastikbestuhlung vergesse und sie mir nachrennen, durch all die dunkeln Gassen dieses gewaltigen Organs, solang, bis die mich finden, völlig außer Atem, glücklich, nein kein Trinkgeld, nicht dafür. Lektion Vier: Türkische Gastfreundschaft ist wie ein Gedicht mit vielen Strophen und immer gutem Ausgang. Nur der Käse schmeckt nach Mundgeruch. Auf einen Tisch im Restaurant kommen zehn Kellner, nach dem Saufen isst man Suppe. Sobald man nach einer Prise Salz oder noch einem Glas Wein aussieht, springen alle auf einen zu. Nur einmal kommt das Essen im Restaurant per Lieferservice an. War aber schon spät.

Paart sich die Gastfreundschaft auf offener Straße mit den Sternen einer Luxusunterbringung, ist es kaum noch auszuhalten. Wir wohnen im Four Seasons Sultanahmet, direkt neben der Hagia Sofia, so nah, dass es kaum noch Sinn macht, sie zu besichtigen. Die Menschen, die dort arbeiten, haben Charakter und Meinungen, Würde ohne Arroganz, lesen einem alle Wünsche von den Augen ab, selbst die, die man für sich behalten will. Die Bleistifte sind gespitzt, sogar der richtige Härtegrad und immer so hingelegt, wie man sie liegen sehen will. Tags fahren wir mit dem Motorboot, legen irgendwo an, wie James Bond und Claudine Auger, sind aber nur wir, merken die auch bald. Nachts spazieren wir am Bosporus. Sorglos und verliebt und frei zwischen den Welten umher. Rechts liegt das Meer, dann sie, dann ich und dann kommt die Straße. Der Mond scheint voll und groß und gelb auf uns herab, scheint immer hinter uns her, leuchtet von Asien bis nach Europa. Wir laufen die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgengrauen, weil wir die Nacht nicht einfach so dem Tag unserer Abreise überlassen wollen.

Lektion Fünf: In dieser Nacht das mit Abendland und Morgenland verstanden. Mir gefallen die geistigen Feste. Sie gefallen mir gegen die Aufgeregtheit meiner Generation, die strikten Zeiten ihrer Gebete gegen Karrieregeilheit und immer längeres Arbeiten. Die Gesellschaftlichkeit ihres Tees gegen innere Leere und die Größe ihrer Familien gegen die wachsende westliche Kälte. Die vielen Brautmoden stehen der Heuchelei von Vielfickerei gegenüber und steife Traditionen bremst die Geschwindigkeit der Zeit und ihre ewig wechselnden Trends. Am besten aber gefielen mir die einfachen Ansichten meines Taxifahrers. Sie brachten die falsche, aufgeblasene Toleranz zum Platzen. Lange schon keine Straßenlaterne mehr. Seine Trugschlüsse gefielen mir besser, als jede mir bekannte Wahrheit. Nur Lektion Sechs: Türkische Taxifahrer sind genau die gleichen Halunken wie in überall, oder es sind andere. 70€ wollte er haben. Wegen der Stoßstangen, dem Stau, der Touristenführung und den Maschinengewehren.

Wir regelten das und irgendwann hatte ich gar keine Vorurteile für die ganzen Lektionen übrig, von denen sich Leute, die viele schlimme Erdoganüberschriften lesen, so wie ich, ein Scheibchen abschneiden können. Die Welt in Weltreligionen zu unterteilen ist eh aus der Mode, heute tauschen alle ihre Geschlechtskrankheiten miteinander aus, über Götter und Ländergrenzen hinweg. Der weltoffenste Mensch, den ich während unserer Istanbul-Reise traf, war ein muslimischer Vorbeter, der spießigste, ein deutscher Hippie, der intoleranteste ein Atheist, die schönste Frau war verschleiert, der verrückteste ein Typ, der auf der Rollbahn noch kurz Beten musste und der schlechteste Mensch war ein guter Christ. Er saß auf dem Rückflug neben mir und sprach von neu zu schreibenden Bibelstellen und Homosexuellen, als wäre das Wort schwer auszusprechen, redete von Allah und dem Papst, davon, dass jeder so kann, wie er will, aber. Er war das einzige Arschloch, dass ich in Istanbul traf, oder über Istanbul. Wir waren schon abgehoben. Unter uns leuchtete die Stadt. Osmanische oder Persische oder muslimische Städte sehen bei Nacht leuchtend wach aus. Viel wacher, als unsere.