GENUSS

Der große Durst

Roland Graf

Betrunkene beobachten ist die urbane Version des „birdwatching“. Und wie man beim Vogelzählen schnell merkt, wenn sich im Habitat was ändert, zeigt auch die Dichte (!) der Illuminierten, dass es neue Nahrung gibt. Das Biotop Branntweiner funktioniert wieder, seit die Lokale geöffnet haben. Sichtbar wurde das etwa am Teppich aus billigstem Salzgebäck – knallorange Färbung, vor der Gastroenterologen warnen – als Hinterlassenschaft eines schon früh aktiven Feierbiests am Waggon-Boden. Immerhin genoss der Alkofix die Fahrt. So sehr, dass er sie doppelt wiederholte: Erst bei der vorletzten Station der U3 kam eroffenbar drauf, dass Simmering nicht Ottakring ist. Unser Einträge im Beobachtungstagebuch: Nunc est bibendum!

Doch es gibt auch verlässlichere Berichte zum exzessiven Trinkverhalten als die Augenzeugen-Evidenz von Kolumnisten. Der Kaffee-Report von „de Longhi“ etwa listet bis zur Nachkomma-Stelle auf, dass sich die Nation coronal dem Espresso mehr hingegeben hat als zuvor. Plus acht Prozent meldet man beim Heimkonsum. Koffein gegen Kinder-Wahnsinn und Homeschooling?

Vielleicht, aber die Details sind bemerkenswert – es wurde nämlich auch in die Qualität investiert. Siebträger-Maschinen legten um 13% zu.

Genau genommen, sind die beliebtesten Tassenwärmer/Seelentröster im Lande zwar der Verlängerte und der Cappuccino (wer bitte trinkt den?), aber sei’s drum: Starke 414 Euro werden pro Kopf und Jahr in Kaffee investiert. Und die erstaunlichste Erkenntnis brachten die Jungen – sie entdecken offenbar Kaffee als Wachmacher. Allerding kippen sie auch in jeden vierten Kaffee Milch-Ersatz. Da liegt die Soja-Latte hoch!

Und auch die Winzer, mit denen man endlich wieder live verkosten kann, berichten von einem Rettungsanker namens Heimkonsum. Auch wenn der die Mengen in der Gastro (fehlender Tourismus!) nicht kompensieren konnte, trank der Österreicher brav. Hilft ja schließlich auch der Landwirtschaft, wie eine alte Bier-Reklame lautete.

Wer also noch eine Bestätigung brauchte, dass nach Monaten des Ausnahmezustandes wieder alles im Lot ist in der Nation: Offenbar hat uns der Lockdown nicht ausgehungert. Aber mächtig durstig gemacht. Trankeln ist die neue Normalität. Wie es schon die alte war. Prost!


Roland Graf
Der bekennende (und in der heimischen Gastroszene Bunthund-bekannte) Genussmensch ist unermüdlich auf der Suche nach dem guten ­Geschmack.