AKUT

Das Gesicht eines Wildschweins als Nahaufnahme

Die Wildschweine vom Dodererwald

Manfred Sax

Pandemie und Klimawandel halfen mit: Die Wildschweine sind überall, so viele wie noch nie. In einem biedermeierlichen, von blühenden Literati bewohnten Anwesen unweit des Matzner Waldes nordöstlich von Wien erhitzt ihr Erscheinen die von Heimito von Doderer beseelten Gemüter. Der WIENER wittert Lunte.

Text: Manfred Sax / Foto Header: Peter M. Mayr

Von drausz, vom Walde kommen sie her. Anrainer kennen diesen als Matzner Wald, der bei Wanderern sehr beliebt ist, es gibt dort auch einen Blick auf die Karpaten. Seit wenigen Jahren sticht unter den Wanderern eine Gruppe Literati hervor, deren unausgesprochener literarischer Alpha ein aus­ge­sprochener Heimito-von-Doderer-Fan ist, was die Gruppe zerebral befruchtete, insbesondere seine charmante Muse, die unweit des Waldes ein Anwesen besitzt, wo sich die Gruppe dann einfindet, um für etwaige, im Walde gefundene Inspirationen die passenden Worte zu finden. Man kann es einen literarischen Kreis nennen, wo halt viel gedoderert wird, in beruhigend biedermeierlichem, also verblüffend weltfremdem Ambiente, wo das „ß“ noch in „muß“ zu finden ist, als käme es von Muße, nicht von müssen. Beim Thema Doderer selbst geht es nie um seine antisemitischen Jahre. Was zählt, ist seine „sprudelnde Mühelosigkeit der Sprachschöpfung“. Allerhand.

Unlängst befand sich eine Do­de­rer-Biografie im literarischen Kreis­lauf, und die charmante Muse tat kund: „Doderer haute (Dorothea, Anm.) Zeemann – ohne sie noch zu kennen – nach dem Theater auf den Hintern und als sie erschreckbost sich wendete, fragte er, ob sie mit ihm in die Brionibar gehe, damit er sich gebyhrend entschuldigen könne.“ Darauf eine Holde namens Isolde: „Also ich wär mitgegangen.“ Die Muse retour: „Sowieso, ich auch.“ Und so weiter. Anzunehmen, dass es da weniger um Sex ging, sondern eher die Abteilung „I wanna fuck your brains out“ dominierte. Nicht wirklich aktuelle Gegenwart. Allein, bisweilen dringt die kalte reale Welt auch in die entlegensten Winkel der Weltfremde. Und dann passieren die unerhörtesten Dinge.

Sie kamen in der Rauschzeit, die ist von November bis Jänner. In dieser brünstigen Zeit also geriet eine Rotte Wildschweine aus dem Matzner Wald in eine Lichtung, wahrscheinlich öfter, sicher aber am 22. Jänner dieses Jahres. Denn es begab sich, dass auch der o.a. literarische Alpha, der gern Spaziergänge „gegen die Uhrenvernunft“ unternimmt, dortselbst unterwegs war – und ein paar Fotos von diesen Wildschweinen machte und sie gesichtsbücherte. Alsbald geschah das Unerhörte: Nach etlichen Kommentaren zwischen Lob („Du bist dem großen Hauer vom Rüssel gesprungen, du Held!“) und Unbehagen („Wo ist mein Gewehr?“) pendelten die Likes sich auf 230 ein. Das irritierte die charmante Muse: „Unfassbar! 200+ Likes fyr 1 paar deppade schwarze Flecken (Wildschweine) auf weiß (Schnee). Wer von uns hat das? I ned, du ned. Und dann fyr sowat!“ Man kann sie verstehen. Kein Doderer-Sager hatte je diese Wirkung, nicht mal ihr Nacktfoto in der Badewanne erreichte die Wildschweinwerte. Was ist da los?

Ein altes Foto von Heimito von Doderer, der nach oben blickt
Foto: Barbara NIggl-Radloff, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Versuch einer Mediation. Ganz einfach: Der Zeitgeist ist los. Die Wildschweine sind überall. Jeder Landbewohner Niederösterreichs kann davon erzählen. Sie sind hier und jetzt. Über Doderer, der nun ja doch bereits 55 Jahre six foot under ist, reden nur die Heimit(o)isten. Wildschweine sind die großen Nutznießer des Klimawandels, der winterliche Permafrost ist hier nicht mehr, was er war, das freut die wühlenden Allesfresser. Wildschweine genossen auch die Pandemie, weniger Autos torpedierten den Wildwechsel, es wurde weniger gejagt, im Jagdjahr 2020/21 gab es nur 34.500 Abschüsse von Schwarzwild, ein Rückgang von 27%.(1) Und weil es nun mehr Wildschweine gibt, als der Wald nährt, kommen sie auf die Felder.

Das Unbehagen ist nicht auf die Literati beschränkt. Die Landwirtschaft befürchtet Flurschäden, die Afrikanische Schweinepest ist mittlerweile bereits in Norditalien. Die Wissenschaft deponiert, dass das Wühlen der Wildschweine im Boden jährlich fünf Millionen Tonnen Kohlendioxid freisetzt, vergleichbar mit den Abgasen von einer Million PKWs.(2) Die Wildschweine bringen alte Probleme, man kann verstehen, dass Kaiserin Maria Theresia im Herbst 1740 das Wildschwein für vogelfrei erklärte. Es war bald ausgerottet.

Nun sind sie wieder da, was also tun? Man könnte beispielsweise die Wälder mit mehr Wölfen besiedeln, die sind verrückt nach Wildschweinen, nur wird das die Literati vom ­Dodererwald beim Spaziergang nicht sonderlich besänftigen. Weiters ist von ausgedehnteren Waldspaziergängen im Frühling abzuraten, da kommen die Frischlinge, da sind ihre Mütter, die Bachen, besonders störrisch. In der Weltfremde bleibt eigentlich nur ein bewusstes Erwecken des inneren Obelix. Und ein aktueller Blick ins Gesichtsbuch zeigt, dass der ­literarische Kreis offenbar bereits auf halbem Weg dorthin ist. Der Alpha döst am Sofa und philosophiert was von „transzendentaler Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen“, eine Dodera enthüllt allgemeines Warten auf einen „Schweinsbraten, der friedlich im Rohr brutzelt“, sowie Erdäpfelknödel, die „im Limbus zwischen Werden und Vergehen simmern“, während der Krautsalat „tapfer vor sich hin lauwarmt“. Was auch die charmante Muse tröstlich stimmt, nur nennt sie das „Ver­söhn­lich­keits­schauer“. Doderers oben erwähnte sprudelnde Mühelosigkeit der Sprachschöpfung scheint wieder intakt. Und eine im Kreis spendet gar ein Gedicht: „Ob Escher, Bach und Gödel / auch gerne aßen Knödel / zum Braten von der Sau? / Ich weiß es nicht genau.“

Alles ist gut.