AKUT

CROSSDRESSER

Christian Jandrisits

Ja, die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile sehe ich in Wien im Schnitt einmal die Woche ein menschliches Wesen, das von Natur aus ein Spatzi hat, einen Mann also, wenn man das noch so sagen kann …

Text: Kurt Molzer ist eine der heißesten Aktien unter den deutschsprachigen Journalisten. Er war Chefreporter bei „Bild“ und „Bunte“, Chefredakteur von „Pent­house“ und ist auch den Lesern von „RAMP“ kein Unbekannter. Für den WIENER lässt der gebürtige und nun auch wieder hier lebende und arbeitende Buchautor seine Hochzeiten als „GQ“-­Kolumnist wieder aufleben. Allerdings in leicht veränderter Form.

Vor ziemlich genau vier Jahren traf mich beinahe der Schlag. Ich hatte im Internet auf „Willhaben“ die Indoor-Holzrutsche meiner Tochter zum Verkauf angeboten. Ein Mann rief mich an. Er hätte die Rutsche gern für seinen Sohn. Wir einigten uns auf den Preis. Der Interessent meinte, er könne schon in einer Stunde bei mir sein. Okay, fein, passt. Und dann war er da. Oder besser gesagt: ES war da. Ein bärtiger Riese im luftigen, blumigen und knielangen Sommerkleid! Aus dem tiefen Ausschnitt, also da, wo normalerweise ein Dekollete das Auge des Betrachters ergötzt, quoll grotesk, ja abstoßend geradezu, dichtes, schwarzes Brusthaar. An den Füßen hatte er die flachen Turnschuhe mit den drei Streifen. Der Kerl war Mitte dreißig. Er stand nicht allein vor meiner Wohnungstür. An der Hand hielt er seinen etwa vierjährigen Sohn. Mir blieb vor Schreck der Mund offen. Ich brachte zur Begrüßung keinen Ton heraus. Aber nach ein paar Sekunden – ich konnte mich beim besten Willen nicht zurückhalten – musste ich lachen. Das wirkte ansteckend auf den Kleinen, der nun ebenfalls lachte. Und dann sagte dieser Bub: „Der Papa hat aber eh ein Spatzi.“

Ein Versuch als Crossdresser …

Der Papa im Sommerkleid fand das alles überhaupt nicht lustig. Mit versteinerter Miene meinte er: „Ich würde jetzt gern die Rutsche mitnehmen.“ Ich entschuldigte mich bei ihm: „Sorry, wirklich, es war nur so….überraschend.“ Gern hätte ich ihn aber auch gefragt: „War ich heute der Erste, der über Sie gelacht hat?“ Dann trat ich zur Seite und ließ ihn eintreten mit seinem Sohn. Ich hatte die Rutsche vorher schon auseinandergenommen. Die unhandlichen Teile lagen im Vorzimmer zum Abtransport bereit. Weil er sie allein nicht auf einmal tragen konnte, bot ich meine Hilfe an. Er lehnte unfreundlich ab (das habe er nicht nötig), gab mir das Geld und fing an, nacheinander alles auf dem Gang abzulegen. Als er fertig war, sagte er zum Abschied: „Die Zeiten haben sich geändert. Auch Sie werden das irgendwann kapieren.“

Ja, die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile sehe ich in Wien im Schnitt einmal die Woche ein menschliches Wesen, das von Natur aus ein Spatzi hat, einen Mann also, wenn man das noch so sagen kann, in Frauenbekleidung durch die Straßen gehen. Hauptsächlich handelt es sich dabei um jüngere Männer, gern mit Bart, längeren Haaren, lackierten Fingernägeln, aber nicht nur. Brad Pitt erschien bei einer Filmpremiere in Berlin ja auch schon im Rock. Diese Männer nennen sich Crossdresser. Die meisten von ihnen sind angeblich heterosexuell, und sie protestieren mit ihrem Outfit, was man so hört, gegen Geschlechterstereotype. Was heißt das? Sollen wir die Geschlechter abschaffen? Wollen uns die Crossdresser sagen, dass man mit Spatzi genausogut eine Frau sein kann? Verstehen tu ich’s nicht. Aber ein Spatzi hat der Kurti auch, und neugierig ist er obendrein. Deshalb wollte er unbedingt wissen, wie sich das so anfühlt, wenn man als Mann mit einem Kleidchen oder einem Rock unter die Menschen geht. Kurti machte sich also zum Crossdresser. 

Das Gewand von meiner Freundin ist mir zu eng. Aber die Sachen meiner 74-jährigen Mutter passen. Sie gab mir einen langen, bunten und geblümten Rock und eine Bluse, deren Vorderseite acht Tulpen zieren. Beim Friseur hatte ich mir am Tag zuvor einen weiblich anmutenden Pagenkopf machen lassen. Mutter tat mir noch eine Spange ins Haar. Ich kam mir vor wie der lächerlichste Transvestit der ganzen Stadt. Meine Eltern (die bei meinem Anblick vor Lachen nicht mehr konnten) wohnen im dritten Bezirk, beim Rennweg. Von dort startete ich. Aber als ich im Stiegenhaus ganz unten angelangt war und die Eingangstür öffnen wollte, verließ mich der Mut. Keine zehn Ochsen hätten mich auf die Straße gebracht. Ich dachte mir: Lieber im Kugelhagel von Sarajevo (den ich während des bosnischen Bürgerkriegs im Winter 1993 als Reporter erlebte) um mein Leben rennen, als in diesem Aufzug durch Wien. Ich ging die Treppen wieder hinauf, läutete und bat meinen Vater, mir einen doppelten Cognac einzuschenken. Ich kippte das Zeug hinunter. Es war elf  Uhr am Vormittag. Auf denn, zweiter Versuch! Aber erneut konnte ich mich nicht dazu überwinden, unten die Eingangstür zu öffnen und auf die Straße zu treten. Ich fragte mich: Wie schaffen das die echten Crossdresser? Wie müssen die drauf sein? Ich ging wieder zurück und verlangte einen zweiten doppelten Cognac. Der tat echt gut. Ich ließ ihn ein wenig wirken und fühlte mich nun schon etwas lockerer, befreiter. Los, Abmarsch! Aber nach zehn Metern auf der Straße ließen mich die entsetzten Blicke des Briefträgers wiederum die Flucht nach hinten antreten. Ich sagte mir: Noch ein dritter und letzter Doppelter von dem „Remy Martin“, und wenn ich’s dann immer noch nicht pack, bin ich die feigste Pussy von hier bis Bagdad und lass es bleiben und sauf mich erst recht nieder. Cognac Nr. 3 also. Meine Mutter sah mich besorgt an. Ich holte, nachdem ich das Glas geleert hatte, tief Luft und atmete eine Fahne aus. Entschlossen verließ ich die Wohnung, eilte mit schaukelnden Eiern und wallendem Rock die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss blieb ich stehen. Ich schloss die Augen und wollte an etwas denken, das noch viel schrecklicher ist als der Kugelhagel in Sarajevo. Ich stellte mir vor, dass ich irgendwo in Amerika unschuldig in der Todeszelle hock und in einer halben ­Stunde die letale Injektion krieg. Das half endgültig. Besser als Crossdresser über den Rennweg als unschuldig in den USA die Giftspritze verpasst zu bekommen. Ach, geht’s mir gut mit meinem Rockerl. 

… soiche wie du san des beste Beischpü, dass de Wöd dodal vatrottlt!

Mental derart gestärkt, trat ich ins Freie. Ich näherte mich der nigerianischen Botschaft. Vier afrikanische Männer standen davor. Sie hielten Formulare in Klarsichthüllen in ihren Händen. Einer, der aussah wie Idi Amin Dada, machte die anderen auf mich aufmerksam. Alle starrten sie mich ungläubig an. Weil der Cognac aber seine Wirkung tat, ging ich selbstbewusst auf die Gruppe zu. Sie fingen an zu lachen. Idi Amin Dada wollte mich verarschen. Er pfiff mir entgegen wie einer Frau, die er geil findet und in der er liebend gern seinen tropischen Kolben versenken würde. Aber von mir kriegt er den Schwarzen Peter, weil ich hab ein Spatzi, und das ist nicht einmal so klein. „Was ist los mit dir, warum pfeifst du?“, fragte ich ihn. Er machte ganz große Augen und hörte auf zu lachen. Die anderen lachten umso mehr. Er sagte nichts. „Sprichst du Deutsch?“, wollte ich wissen. – „Ja, ja.“ – „Gefalle ich dir?“ – „Nein, nein“, schüttelte er sofort den Kopf, „nicht gefallen.“ – „Aber du stehst doch auf Männer?“ Leichte Panik in seinem Gesicht: „Nein, nein, nix Männer, nix Männer!“ – „Gut, dann belästige mich nicht mehr. Ich bin ein ganz normaler Mann“, sagte ich und machte mir die Haarspange fester. Ein anderer unterbrach sein Gelächter und mischte sich ein: „Ganz normal?“ – „Die Zeiten ­haben sich geändert, my friend, das schreib dir hinter die Ohren, und ­irgendwann werden das sogar eure Elefanten und Hyänen und Paviane kapiert haben“, antwortete ich und setzte meinen Weg fort. 

Weil ich zum Schwarzenbergplatz wollte und von dort weiter in die Stadt hinein, stieg ich in eine Garnitur der Straßenbahnlinie 71. Jetzt wurde es richtig arg. Ich nahm auf einer Vierer-Sitzgruppe Platz. Eine Familie aus Deutschland saß da schon, Touristen offenbar, das vielleicht 12-jährige Mädchen neben mir, die Eltern auf der anderen Seite, der Vater hatte den kleineren Sohn auf dem Schoß. Nebenan, auf zwei einander gegenüberliegenden Sitzen, saß ein älteres Paar. Der deutsche Vater und die deutsche Mutter glotzten mich an, als hätte ich Lepra im Gesicht. Der Bub wendete den Blick von mir ab und schmiegte sich ganz eng an seinen ­Vater. Die Mutter musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu ­lachen. „Warum schauen Sie mich so an und verkneifen sich das Lachen?“, fragte ich. „Alles gut“, sagte die Frau verlegen. Der ältere Mann daneben sagte halblaut zu seiner Alten: „Des is a Perversa. Dass se der ned schaumd, no dazua vua de Kinda, a so a Perversling, des derf ned woa sei.“ Ich ergriff das Wort: „Unterstehen Sie sich! Ich bin ein ganz normaler Mann, der Frauenkleidung trägt. Ich protestiere damit gegen die von den Mitgliedern unserer Gesellschaft selbst konstruierte Geschlechtszugehörigkeit.“ – „Gä, hoits zaum, Perversa! Soiche wie du san des beste Beischpü, dass de Wöd dodal vatrottlt.“ Ich überschlug meine Beine, strich meinen Rock glatt und sagte: „Halt’s selber zamm, reaktionärer Scheißprolo schiacha.“ – „Gusch, du Schwuchtl!“

„Gut, dann belästige mich nicht mehr. Ich bin ein ganz normaler Mann“, sagte ich und machte mir die Haarspange fester.

Gott sei Dank waren es nur zwei Stationen. Ich stieg aus, überquerte den Ring und ging in die Seilerstätte, wo mein Freund Michael Macho seit Jahrzehnten ein sehr exklusives englisches Herrenmodengeschäft betreibt: „Macho Style“. Bei meinem Eintritt bekam er einen Lachkrampf. Sein Hund Ferdinand, eine herzensgute Dobermann-Bracken-Mischung, kam nicht wie sonst schwanzwedelnd auf mich zu. Das Tier legte die Ohren an und beäugte mich misstrauisch. Ich ging auf Michls Lachen nicht ein und blieb ernst. „Ich weiß, wegen deiner Tweed-Sakkos ist schon Michel Piccoli extra nach Wien gekommen“, sagte ich, „nur ist Piccoli tot. Du bist der klassischen Mode verpflichtet, schon klar. Ich aber bin ein moderner, ganz normaler Mann. Hast du denn als ein die Schauspielkunst liebender Mensch nicht mitbekommen, dass nicht nur Brad Pitt, sondern auch der Jedermann-Darsteller Lars Eidinger im Rock ins Rampenlicht getreten ist?“ Als der Michl sich ein wenig gefangen hatte, meinte er: „Mein lieber Freund, du bist aus zwei Gründen falsch bei mir. Erstens: Mein Damenmodengeschäft befindet sich am Neuen Markt. Zweitens: Ich glaube, du bist in Wahrheit auf der Suche nach Dr. Freud, aber der hat in der Berggasse ordiniert und ist seit 83 Jahren tot.“ Eine Woche später rief Michl mich an: „Ich muss mit meinem Hund zum Psychiater, der ist total verstört, seitdem Frau Molzer zu mir ins Geschäft gekommen ist.“

Von Herrn Macho ging ich über
die Himmelpfortgasse, die Kärntner Straße und den Graben ins „Schwarze Kameel“. Trotz Cognac und intensiver Gedanken an die Todesspritze waren die abschätzigen Blicke der Menschen eine Qual. Manchmal wollte ich einfach nur im Erdboden versinken. Im „Schwarzen Kameel“ trifft man die ersten paarungswilligen ­Damen schon um die Mittagszeit. Ich hielt ein wenig Ausschau und setzte mich dann im großen Schanigarten an einen ganz bestimmten Tisch – am Nebentisch nämlich zwei Modelle so Ende 40. Ich bestellte mir ein Bier und den Damen – ganz alte (eher peinliche) Schule – heimlich zwei Gläser Prosecco. Aus jahrzehntelanger Aufreißer-­Erfahrung weiß ich ­jedoch: Wenn eine Frau wirklich auf dich steht, ist gar nichts peinlich. Sie wird immer sagen: „Gern, Prinz, nimm mich mit auf dein Märchenschloss.“ Nur: Stehen Frauen auf einen Typen im Rock, wenn er nicht gerade Brad Pitt heißt? Der Kellner stellte ihnen den Prosecco auf den Tisch und sagte: „Von dem, äh, Herrn da.“ Die zwei Blondinen hatten vorher schon getuschelt über mich. Die etwas weniger Hübsche überwand sich und brachte ein gequältes „Danke“ über die Lippen. Ich prostete ihnen zu und beugte mich ­hinüber: „Dürfte ich mich zu Ihnen setzen?“ Beide gingen in Abwehrhaltung. „Nein, kein ­Bedarf“, sagte die Hübschere. „Kein ­Bedarf, was meinen Sie?“, wurde ich lästig. „Ge­sprächs­bedarf, und überhaupt.“ Es war Zeit, mich zu outen. Ich sagte ihnen, dass ich ein ganz normaler Mann sei und mich nur für den ­WIENER so zurechtgemacht hätte, ein Feldversuch quasi. Große Erheiterung und Erleichterung! Die we­niger Hübsche: „Gott sei Dank! Ich hab nämlich schon gedacht, Sie sind total abnormal.“ Wir unterhielten uns gut. Im Laufe des Gesprächs stellte ich dann beiden eine Frage: „Könnten Sie sich vorstellen, mit einem Mann zusammen zu sein, der Frauenkleider trägt?“ Die weniger Hübsche machte nur ein angewidertes Gesicht. Die Hübsche sagte: „Geh bitte, heast, lieber werd ich eine Lesbe.“