AKUT

Der Weg des Drachenfliegers

Michael Kreissl erzählt die authentische Geschichte des 23-jährigen Tschechen Ivo Zdarski, der mit einem selbstgebastelten Motorflugzeug aus der CSSR nach Österreich flüchtete und am Flughafen Wien/Schwechat landete. (Aus der Ausgabe September 1984 des WIENER)

Kuba, 1972. Der zwölfjährige Ivo Zdarski schwimmt hinaus in die Karibik, um ein letztes Mal in diesem blauschimmernden Meer zu tauchen, das er so sehr liebt. Im Haus seiner Eltern, auf einem Strand in der Nähe von Havanna, werden bereits die Koffer gepackt. Für das tschechische Technikerehepaar Dr. Josef und Frau Dr. Zdenka Zdarski geht der einjährige Aufenthalt als Entwicklungshelfer im sozialistischen Bruderland zu Ende.

Kuba ist für den Zwölfjährigen ein lichtdurchflutetes Paradies, die ferne Heimat erscheint ihm dagegen wie der düsterste Flecken dieser Erde. Ivo weiß, dass auf dem gegenüberliegenden Ufer, nur wenige Seemeilen von hier entfernt, ein anderes Land liegt: Amerika. Er hat viel von Amerika gehört, nicht immer nur Gutes, aber selbst das Schlechte klang um vieles aufregender und interessanter als alles, was er von der Tschechoslowakei weiß. Er würde gerne hinüberschwimmen. Aber das ist natürlich nur eine dumme, nächtliche Idee. Da draußen im Meer gibt es Haifische, er selbst ist einmal beim Tauchen einem begegnet.

Ivo muss zurück zu den Eltern und mit ihnen und seinem kleinen Bruder Petr zurück in die Tschechoslowakei. Doch irgendwann, das schwört er sich, wird er wieder hinausgehen, in die Welt des Lichts.

Prag, 1980. Der Oberst von der Svazarm hat das Sündenregister des Ivo Zdarski, Student an der Technischen Universität, vor sich liegen und schüttelt den Kopf. Die Svazarm – Union für die Zusammenarbeit mit der Armee – ist eine paramilitärische Organisation, in der für die Vaterlandsverteidigung brauchbare Sportarten gepflegt werden. Doch Ivo interessiert sich weder für die Vaterlandsverteidigung noch für die Zusammenarbeit mit der Armee. Er ist nur wegen des Drachenfliegens in diesen Verein gekommen.

Auf einen Berg zu klettern und dann wie ein Vogel hinunterzusegeln, ist für Ivo eine Art von Selbstbestätigung, eine Möglichkeit, seinen Mut und seine Unabhängigkeit von all den kleinlichen Problemen, denen man am Erdboden nicht entkommen kann, zu demonstrieren. Das mit der Unabhängigkeit hat nur einen Haken: In der Svazarm haben die kleinen Chefs das Sagen. Die kleinen Chefs, das sind die Leute, denen Vater Staat und Mutter Partei ein klitzekleines Stückchen Autorität übertragen haben, die die kleinen Chefs dann mit stolzgeschwellter Brust ausüben dürfen. Die Tschechoslowakei ist voll von kleinen Chefs.

Ivo will die Vorwürfe des Obersts gar nicht abstreiten. Er hat sich mit dem Hängegleiter von einem Auto anschleppen lassen, obwohl das verboten ist. Und er ist auch gefährliche Kurven geflogen. Aber schließlich ist es sein Leben, das er dabei riskiert hat. Sollen sie ihn doch rausschmeißen aus der Svazarm, er kann auch ohne die kleinen Chefs Drachenfliegen.

Prag, Herbst 1983. „Bude válka. Nebude! Nebude! Nebude! Der Krieg kommt! Er kommt nicht! Er kommt nicht! Er kommt nicht!“ schreit der Sänger der Gruppe „Amputation“ durch das verrauchte Prager Kellerlokal. „Kdy bude? Kdy bude? Kdy bude? Wann kommt er, wann kommt er, wann kommt er?“

„Amputation“ ist keine dieser adretten Tanzcombos, die auf Parteijugendfesten auftreten dürfen. Abschaum, Rowdies, dekadente Elemente würden die Musikkritiker von Rude Pravo toben. Dabei passt diese Musik ganz gut zu Prag. In der Lovosicka 657, Siedlung Prosek III, dort wo „Amputation“-Schlagzeuger und -Texter Ivo Zdarski wohnt, sieht es aus wie in der Szenerie des Punker-Kultfilms „Jubilee“. Mauerrisse lassen erkennen, wo die Fertigteile zu siebenstöckigen Gemeindebauten zusammengefügt wurden, sämtliche Gegensprechanlagen wurden herausgerissen und die Glastüren im Erdgeschoss sind längst zerbrochen.

„Nebude! Nebude! Nebude! To nás ale ubude! Er kommt nicht! Er kommt nicht! Er kommt nicht! Und wir werden immer mehr!“ Ivo hämmert die Hard-Rock-Rhythmen nicht auf ein chromblitzendes Schlagwerk, sondern auf eine Ansammlung von verrosteten Töpfen und Farbtiegeln, die er mit Fellen bespannt hat. Die Hi-hats sind alte Kreissägeblätter, die Fußtrommel wurde früher als Boiler verwendet und der kyrillischen Aufschrift einer anderen Trommel kann man entnehmen, dass sie einmal der Luftfilter eines Sowjettanks war. „Tak bude! Tak bude! Tak bude! Er kommt doch! Er kommt doch! Er kommt doch!“ Plötzlich geht das Licht aus und das Endzeitschlagwerk, das den Krieg eintrommelt, sprüht Funken. Ivo hat die Sticks und die Trommeln mit elektrischen Kontakten versehen. Der monotone Lärm, der suggestive Text und das bei jedem Schlag in der Dunkelheit aufblitzende Schlagzeug hypnotisieren das Publikum. „Tak bude! To nás ale pribude! Pribude! Pribude! Er kommt doch! Und dann werden wir wieder weniger sein! Weniger! Weniger!“

Samstag, 19. Mai 1984. Ob er mit aufs Land fahren will, in die Datscha in den Bergen nahe der polnischen Grenze, wollen die Eltern von Ivo wissen. „Vielleicht komme ich mit dem Flugzeug nach“, antwortet er.

Mit dem Flugzeug, seufzt seine Mutter. Diese wackligen Dinger, in denen er sich noch einmal den Hals brechen wird, nennt er Flugzeug. Was haben sie eigentlich falsch gemacht mit dem Buben? Er könnte längst Ingenieur sein und dass er auch einen anständigen Posten bekommt, dafür würden die Eltern, verdiente Parteimitglieder, schon sorgen.

Ivos Eltern haben genauso reagiert wie die meisten Eltern dieser Welt: Sie haben dem Bummelstudenten das Taschengeld entzogen. Doch damit haben sie nur erreicht, dass Ivo sein Hobby zum Beruf gemacht hat.

Acht Hängegleiter hat Ivo in den letzten Jahren gebaut und immer, wenn er einen neuen fertig hatte, hat er den alten verkauft. Jetzt ist bereits sein zweites Ultraleichtflugzeug fertig. „Vetrelec“ – das ist der tschechische Name des Science-Fiction-Monsters „Alien“ – hat er den Motordrachen getauft.

Für dieses Ultraleichtflugzeug hat er sogar einen speziellen Propeller aus Fiberglas konstruiert, den er auch selbst herstellt. 40 Stück von diesen Propellern hat er inzwischen gebaut und die meisten davon für je 1000 Kronen an Flugenthusiasten mit geringerer technischer Begabung verkauft. So kommt es, dass die Eltern, die ihm das Taschengeld gestrichen hatten, sich gelegentlich von ihrem Sohn Geld ausborgen.

Ivo findet die Idee, den Eltern nachzufliegen, gar nicht so schlecht. Er schleppt sein in Einzelteile zerlegtes Fluggerät auf den Parkplatz der Neubausiedlung Prosek III, baut den Vetrelec zusammen und startet.

Ivo fliegt zunächst entlang der Hauptstraße, die nach Hradec Kralove führt. Dann muss er versuchen, dem großen Militärflugplatz bei Hradec Kralove auszuweichen. Doch anscheinend ist er nicht weit genug nach Norden geflogen, denn plötzlich wird er von einem Militärhubschrauber eskortiert. Er muss das Militärsperrgebiet jetzt so schnell wie möglich überfliegen, unbemerkt landen, seine Ultraleichtmaschine zerlegen und im Wald verstecken. Endlich ist der Hubschrauber verschwunden. Aber die diensthabenden Offiziere der Luftwaffenbasis sind inzwischen nervös geworden und geben den beiden in Alarmbereitschaft stehenden Abfangjägern den Startbefehl. Ivo sieht die Kondensstreifen der MiG-Jäger erst, nachdem er in der Nähe eines kleinen Dorfes gelandet ist. Er will hier Benzin kaufen und dann weiterfliegen. Doch ein Streifenwagen der Polizei kommt ihm zuvor.

Die Amtshandlung, die mit Ivos Flucht endet, hat begonnen. Freitag, 3. August. Der Postbote bringt einen Einschreibbrief für den Genossen Ivan Zdarski. Schon die Anschrift empfindet Ivo als Provokation: Er ist weder Parteimitglied noch Russe. Absender der unerwünschten Morgenpost ist das Vojenske Oddeleni pro Zastupci Cinnost, die Heeresabteilung für Strafsachen. Ein Sachbearbeiter namens Pavel Veleba teilt ihm mit, dass das Überfliegen eines Militärsperrgebiets eine heikle Angelegenheit sei und dass Ivo durch seinen illegalen Flug den Einsatz von Militärmaschinen notwendig gemacht habe. Dieser Einsatz habe 20.450 Kronen gekostet und die zuständigen Behörden hätten nun entschieden, dass Ivo diese 20.450 Kronen bezahlen müsse.

20.450 Kronen – das Zehnfache eines tschechischen Durchschnittsgehalts. Der aufgestaute Groll der letzten Jahre bricht in Ivo durch. Er wird die Strafe nicht zahlen. Er wird in den Westen fliehen, und zwar sofort. Die Gelegenheit ist günstig. Vor ein paar Tagen haben ihm die Militärbehörden seinen beschlagnahmten Vetrelec zurückgestellt. Ein bürokratischer Irrtum offenbar, denn eigentlich sind Ultraleichtflugzeuge in der CSSR verboten. Aber die Tschechoslowakei ist eben ein besonders schlampiger Polizeistaat. Die Eltern können ihn nicht an der Flucht hindern, seine Mutter ist in der Datscha, sein Vater auf einer Dienstreise in der Sowjetunion. Die Freunde, die ihn zu einem Wochenendausflug eingeladen haben, kann er telefonisch abwimmeln.

Er verbringt den ganzen Tag damit, den Vetrelec in Schuss zu bringen. Um 18 Uhr packt er den zerlegten Flügel, der jetzt wie ein mit Segeltuch umwickelter Mast aussieht, auf den Dachträger des Skodas seiner Eltern. Das Fahrgestell kommt auf die hintere Sitzbank, den Motor stemmt er in den Kofferraum. Im Chaos des Wochenendverkehrs verlässt er Prag. Vielleicht wird er diese Stadt nie mehr wiedersehen. Doch dieser Gedanke heitert ihn eher auf. Gegen 21 Uhr hält er auf einem Parkplatz in der Nähe von Brünn, isst ein paar Brote, die er mitgenommen hat, und wartet. Es ist noch zu früh, um das Flugzeug auf dem ausgewählten Startplatz in der Nähe von Bratislava zusammenzubauen.

Erst um 23 Uhr setzt er die Fahrt fort. Entlang der Autobahn stehen heute unerwartet viele Polizisten, sie sind mit Scorpio-Maschinenpistolen, die nicht zur üblichen Ausstattung der Verkehrspolizei gehören, bewaffnet. Offenbar wird jemand gesucht und Ivo muss fürchten, in eine Routinekontrolle zu geraten. Um den Kontrollen zu entgehen, fährt er knapp hinter einem großen Reisebus. Busse werden bei Verkehrskontrollen selten angehalten, denn wenn die Polizei jemand sucht, gibt sie den Busfahrern ohnehin Personenbeschreibungen. Und wenn Ivo hinter den Bus bleibt, sehen die Polizisten seinen Skoda erst, wenn es zu spät ist, um ihn noch anzuhalten.

Gegen 0.15 Uhr erreicht Ivo Zdarski die Autobahnabfahrt von Lozorno, etwa 20 km nördlich von Bratislava. Er fährt auf die Landstraße, schaltet die Scheinwerfer ab und biegt gleich nach der ersten Kurve in einen Feldweg ein. Nach ein paar hundert Metern parkt er den Skoda hinter einer Baumgruppe.

Zuerst muss er jetzt das Gelände erkunden. Etwa zehn Meter vor ihm steht ein Wachtturm, einer von der Sorte, die entlang der Grenze errichtet wurden. Doch Ivo ist jetzt zwölf Kilometer von der Staatsgrenze entfernt. Vorsichtig klettert er die Leiter hinauf: Der Turm ist verschlossen. Erst im österreichischen Flüchtlingslager wird er von einem anderen Tschechen erfahren, dass sein Startplatz am Rande eines militärischen Sperrgebietes liegt.

Aus dem nahegelegenen Wald dringen verdächtige Geräusche. Ivo wartet eine Zeit lang, bis er sicher ist, dass sie nur von Tieren stammen können, die durchs Unterholz streifen. Nach einem letzten Rundgang macht er sich um ein Uhr an die Arbeit.

Im schwachen Lichtkegel einer Taschenlampe beginnt Ivo, die Aluminiumrohre zu einem Flugzeug zusammenzusetzen. Sein Vetrelec ist eine Art Dreirad, von dessen Schwerpunkt ein aus zwei Röhren geformter Mast in die Höhe ragt. Auf der Mastspitze sitzt ein Gelenk, auf dem der Flügel befestigt wird. Der Flügel selbst besteht aus einem mit Segeltuch bespannten Aluminiumskelett, vom vorderen Teil der Flügelmitte weisen zwei Alu-Stangen nach unten, zum Fahrersitz. Diese Stangen muss Ivo während des Fluges in der Hand halten. Mit ihnen kann er die Flügelstellung verändern und so das Flugzeug steuern. Der Motor ist am Heck angebracht und treibt einen von Ivo konstruierten Druckpropeller aus Fiberglas an. Den 26-PS-Motor des DDR-Kleinwagens „Trabant“ hat er aus gekauften Ersatzteilen zusammengebaut. Es ist ein Zwei-Zylinder-Zweitakt-Motor, der mit einem Benzin-Öl-Gemisch betrieben wird. Über dem Motor befinden sich der 18-Liter-Tank einer alten Jawa.

Immer wieder werfen die aufgeblendeten Scheinwerfer der wenigen Autos, die um diese Zeit noch unterwegs sind, gespenstische Schatten auf den Startplatz. Doch Ivo hat keine Angst. Eigentlich hat er nie Angst, wenn er gerade im Begriff ist, etwas sehr Gefährliches zu tun. Die Angst kommt immer erst, wenn alles vorbei ist.

Ivo ist auf alles vorbereitet. Wenn ihn ein nächtlicher Spaziergänger hier aufstöbern sollte, wird er die Pistole, die er unter dem Sitz des Skodas versteckt hält, hervorholen, dem ungebetenen Gast den Lauf zwischen die Rippen drücken, ihn mit den vorbereiteten Seilen an einen Baum fesseln und zuletzt noch zwei Taschentücher als Knebel in den Mund stecken. Natürlich ist es nur eine Luftdruckpistole, aber das braucht ja niemand zu wissen.

Um zwei Uhr hat er den Vetrelec zusammengebaut. Er muss jetzt alle Funktionen des Flugzeuges überprüfen. Punkt für Punkt geht er die Checkliste durch, die Zündkerzen sind in Ordnung, alle Schrauben sind fest angezogen, das Luftloch im Tankdeckel ist nicht verstopft und der Tank ist gefüllt. Mit den 18 Litern Benzin-Öl-Gemisch im Verhältnis von 40 zu eins kann er dreihundert Kilometer weit fliegen. Er hätte also auch direkt von Prag aus starten können. Doch Ivo hat keine Lust, sich zu verirren. Im Polizeimuseum von Prag steht ein ähnlich abenteuerliches Fluggerät wie seines, ein Tragschrauber, mit dem ein waghalsiger Pilot in den Westen fliegen wollte. Der Arme war bereits über österreichischem Gebiet, kam dann aber vom Kurs ab und landete in der Tschechoslowakei. Die ersten Menschen, die er traf, begrüßte er voll Freude auf Deutsch – die Antworten waren Tschechisch. Jetzt sitzt er für zwanzig Jahre im Gefängnis und sein Tragschrauber dient der Polizei als abschreckendes Beispiel.

Ivo hat in sein Ultraleichtflugzeug alle notwendigen Instrumente eingebaut: Kompass, Geschwindigkeitsmesser, Höhenmesser und ein Variometer, das die Steig- bzw. Sinkgeschwindigkeit misst. Zur Kontrolle, falls der Bordkompass versehentlich mit einer magnetisierten Schraube im Armaturenkasten befestigt sein sollte und von dieser gestört wird, hat Ivo noch einen Taschenkompass mitgenommen. Und er hat auch gelernt, nach den Sternen zu navigieren. Er weiß, dass er nach Westen fliegt, wenn der Große Wagen genau rechts von ihm am Himmel erscheint.

Es ist bald drei Uhr nachts. Jetzt kommt für Ivo der große Augenblick, jetzt muss er sich selbst beweisen, jetzt wird es sich zeigen, ob es nicht doch besser gewesen wäre, eine langfristige Ratenzahlung für die 20.450 Kronen auszuhandeln. Noch kann er zurück. Doch Ivo denkt gar nicht daran. Er wirft den Motor an, indem er den Propeller ein paar Mal um die eigene Achse dreht. Der Zweitakter springt perfekt an und läuft so rund, wie ein Trabant-Motor eben rund laufen kann. Die Bremse – ein Zapfen an der Unterseite des Fluggeräts, der sich schräg ins Erdreich bohrt – hält den Vetrelec davon ab, bei Standgas davonzurollen. Ivo setzt jetzt seinen Mopedhelm auf und schnallt sich an. Hinter seinem Sitz hat er etwas Werkzeug und seinen Schlafsack verstaut – als Flüchtling hat man es sicher nicht leicht, er ist darauf vorbereitet, die ersten Monate hinter einem Gebüsch oder am Straßenrand zu übernachten.

Verhungern wird er im Westen auch nicht, in seiner Brusttasche stecken 400 Schweizer Franken, 450 französische Francs und 100 Deutsche Mark – Devisen, die er in den letzten Jahren auf dem Schwarzmarkt gekauft und für diese Gelegenheit aufbewahrt hat. Um 3 Uhr und drei Minuten klappt er den Bremszapfen nach oben und gibt Gas. Die Motordrehzahl schnellt hinauf, zwanzig, dreißig Meter weit rollt der Vetrelec über die Wiese, Ivo kippt den Flügel leicht nach hinten, um mehr Auftrieb zu bekommen – und hebt ab. Ein Routinestart, er ist schließlich kein Anfänger, etwa 200 Flugstunden hat er schon auf dem Vetrelec absolviert. In fünfzig Metern Höhe überquert er die Autobahn, die von einem einzelnen Auto erhellt wird. Sonst ist alles dunkel um ihn, in der Nacht wird die Straßenbeleuchtung in der CSSR abgeschaltet.

Er muss noch höher hinauf, um sicher zu sein, dass er keine Hochspannungsleitungen streift. 100 Meter zeigt der Höhenmesser. Er weiß, dass er fast direkt über eine Radarstation fliegen muss, aber er weiß nicht, ob das Radar tief fliegende Objekte mit nur geringem Metallanteil aufspüren kann. Ein Unsicherheitsfaktor, gewiss, aber selbst wenn sie ihn entdecken, müssen sie ihn erst einmal runterholen. Auf dem nächsten Militärflugplatz warten sicher wieder ein paar MiGs auf den Befehl zum Alarmstart, aber Überschalljäger sind nicht unbedingt die geeignete Waffe, um einen Motordrachen abzuknallen. Die Raketen, die gefährlichsten Waffen der Jäger, sind gegen den Vetrelec machtlos. Ihre hitzesuchenden Infrarotzielgeräte orientieren sich am Düsenstrahl von Feindflugzeugen. Der Trabantmotor hat nur einen kleinen Auspuff und erzeugt kaum mehr als 200 Grad Hitze. Das weiß Ivo, aber er weiß auch, dass die MiGs noch eine 55-mm-Maschinenkanone haben. Deshalb wird er, sobald er Düsengeräusche hört, Zick-Zack fliegen. Der Vetrelec ist sehr wendig, er schafft Kurven mit nur 20 Metern Radius. Die schnell fliegenden Abfangjäger werden ihn also kaum ins Visier bekommen. Die größte Gefahr droht ihm, wenn ein Flugzeug dicht an ihm vorbeifliegt. Die Druckwelle könnte die Aluminiumstäbe wie Zündhölzer knicken, und durch die Turbulenzen würde er unweigerlich ins Trudeln kommen. Aber es sind keine Düsengeräusche zu hören.

Er steigt jetzt bis auf 450 Meter Höhe. Die tschechischen Grenzwächter verfügen über Leuchtpistolen, mit denen sie bis in eine Höhe von 200 Metern schießen können. Dort explodiert dann die Leuchtpatrone und erhellt den Himmel.

Um drei Uhr und neun Minuten erreicht Ivo Zdarski die Höchstgeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern. Er kann jetzt das Gas etwas zurücknehmen. Wenige Flugminuten trennen ihn noch von der Grenze. Der Bordkompass zeigt Westkurs, der Taschenkompass auch. Und der Große Wagen liegt genau rechts von ihm. Wahrscheinlich fliegt er jetzt bereits über die Wachttürme der tschechischen Grenzposten und über die tödlichen Minenfelder, durch die hindurchzugehen um vieles gefährlicher ist als der Luftweg, den er gewählt hat. Aber die Posten in den Wachttürmen haben Nachtzielgeräte! Ivo wollte noch eine 7-mm-Panzerplatte, die er auf dem Schrotthaufen vor einer russischen Kaserne gefunden hat, unter seinem Sitz anbringen. Doch der Brief, der ihm die 20.450 Kronen Geldstrafe verhieß, hat seine Flucht beschleunigt. Er hatte keine Zeit mehr, seinen Vetrelec zur fliegenden Festung umzubauen und wenn jetzt ein Grenzposten auf die absurde Idee kommt, mit einem Nachtzielgerät den Himmel abzusuchen, ist Ivo schutzlos den Kugeln preisgegeben. Aber Ivo beruhigt sich mit dem vagen Wissen, dass es gar nicht so leicht ist, mit einem Gewehr gezielte Schüsse in die Luft abzugeben.

3 Uhr 12: Aus vierhundert Meter Höhe sieht Ivo Zdarski einen Fluss, der sich mäanderartig dahinschlängelt. Das muss die March sein, das Land am anderen Ufer demnach Österreich. Aber es ist noch zu früh, nach seinen Berechnungen dürfte er erst in zwei Minuten die Grenze überfliegen. Ist er vom Kurs abgekommen? Bordkompass: Westen, Taschenkompass: Westen, Großer Wagen: rechts. Der Ostwind! Jetzt erst fällt ihm auf, dass er seit seinem Start mit Rückenwind fliegt. Der Ostwind hat ihn schneller als erwartet in den Westen getragen. Endlich kommt einmal etwas Gutes aus dem Osten! Und dieser Ort da drüben, diese Stadt, in der die Lichter auch jetzt, um 3 Uhr 12 noch so hell leuchten, das muss Marchegg sein.

In der Tschechoslowakei ist in der Nacht alles dunkel, er ist oft genug durch die tschechische Finsternis geflogen, um das zu wissen. Aber jetzt hat er die Lichter des Westens erreicht! Ivo wird übermütig, er nimmt seine Taschenlampe – die große, nicht die kleine, mit der er das Flugzeug zusammengebaut hat – und blinkt zurück in das Dunkel der tschechischen Grenze. Sie sollen ihn nur sehen, jetzt leuchtet er ihnen frech ins Gesicht, den kleinen Chefs in ihren Wachttürmen; jetzt, wo ihm die Lichter des Westens zu Füßen liegen, vergisst er, dass die Kugeln von drüben ihn immer noch treffen könnten.

Es ist eine wunderschöne klare Nacht. Unterstützt von einer sanften Brise aus dem Osten, schiebt der brav arbeitende Trabantmotor den überglücklichen Piloten Ivo Zdarski immer weiter nach Westen. Er geht jetzt auf 200 Höhenmeter hinunter, hoch genug, um die tödlichen Hochspannungsleitungen zu vermeiden und nicht so hoch, dass er den Flugverkehr stört. In jedem Ort, den er überfliegt, brennen noch Lichter. Und da vorn, dieses Lichtermeer, das muss Wien sein.

Um 3 Uhr 55 kreist Ivo Zdarski über Floridsdorf. Benzin hat er genügend im Tank und darum leistet er sich einen kleinen Rundflug über der Stadt. Er geht etwas hinunter, um die Leuchtreklamen zu lesen – kein Zweifel: sie sind in deutscher Sprache. Er greift in die Tasche, um das letzte Stückchen Schokolade hervorzukramen. Zwei Tafeln hat er auf seinem Flug verschlungen. Jetzt sucht er einen Landeplatz. Wenn er den Bremszapfen herunterklappt, kommt der Vetrelec mit einer Landestrecke von zehn Metern aus. Aber es ist noch zu dunkel und Ivo fürchtet, beim Landeanflug in eine Stromleitung zu geraten. Er hat keine Lust, die neugewonnene Freiheit bei einer Blindfluglandung aufs Spiel zu setzen. Also dreht er nach Südwest ab. Der Fluss, den er überfliegt, muss die Donau sein. Aber was ist das für ein Lichtermeer, auf das er jetzt zusteuert?

Eine Unzahl von kleinen und großen Türmen kann er erkennen, und alle sind mit einer Vielzahl von Lichtern geschmückt. Dieses Licht ist das schönste, das er je gesehen hat, abgesehen vielleicht von der Sonne der Karibik. Am nächsten Tag wird er erkennen, dass er über die Raffinerie Schwechat gekreist ist, aber jetzt, in dieser wunderbaren Nacht, ist er sicher, dass er in die Welt des Lichts eingetreten ist.

Wenig später sieht Ivo die Rollbahnbeleuchtung des Schwechater Flughafens. Auf einem Flughafengelände gibt es erstens keine Hochspannungsdrähte, und zweitens – findet er – ist der internationale Flughafen von Wien auch der angemessene Landeplatz für seinen internationalen Flug. Das erste Gebäude – es muss ein Hangar sein – trägt die Aufschrift AUA.

Von unten winken ihm die Arbeiter von der Frühschicht zu. „Der Trottel soll mit seiner Kiste aus dem Luftraum des Flughafens verschwinden“, wollen sie ihm deuten. Ivo dreht zwei Schleifen und setzt dann zu einer Bilderbuchlandung an. Er klappt die Bremse nicht herunter, hier auf dem Beton vor dem Hangar hat er ohnehin genügend Platz. Sobald der Vetrelec langsamer wird, bremst er mit dem ausgestreckten Fuß ab. Die Leute, die aus dem Hangar auf ihn zukommen, sehen nicht gerade freundlich aus. Aber Ivo hat ja nicht erwartet, dass man ihn mit offenen Armen empfangen wird. Er hat den Schlafsack und etwas Westgeld, er wird sich schon durchschlagen.

Er löst den Gurt, nimmt den Helm herunter, zückt seinen Pass und fragt den ersten, der auf ihn zukommt: „Do you speak English?“ – „Yes.“ – „I am from Czechoslovakia and I would like to ask for asylum. Here is my passport.“ Und plötzlich verändern sich die Mienen der Männer, die ärgerlichen Blicke verschwinden, der Mann will den Pass nicht nehmen und schüttelt ihm stattdessen die Hand. Sekunden später ist Ivo umringt von Monteuren in weißen Overalls mit roter AUA-Aufschrift (er weiß noch immer nicht, was das heißt), die ihm die Hand schütteln wollen, ihm lachend auf die Schulter klopfen und „Welcome to Austria“ rufen.

Wie im Triumphzug führen sie ihn zur Polizeistation des Flughafens, wo Ivo endlich seinen Pass loswird. Auch die Polizisten sind unheimlich freundlich – Ivo kommt das wirklich unheimlich vor –, sie bieten ihm Kaffee und belegte Brote an. Und bis die Leute von der Einwanderungsbehörde ihn abholen, darf er sich in eine Zelle schlafen legen – die Zellentür bleibt selbstverständlich offen.

Als Ivo die Augen wieder öffnet, sieht er Gitter. Der Tragschrauber im Polizeimuseum von Prag! Zwanzig Jahre Gefängnis! Wo ist er gelandet? Eine Sekunde lang hat Ivo Zdarski fürchterliche Angst. Doch dann sieht er die offene Zellentür, in der ein freundlich lächelnder Beamter steht. Und jetzt weiß er, dass er es wirklich geschafft hat. Er tritt vor die Tür seiner Zelle und das Sonnenlicht blendet ihn.