AKUT

Archiv 2000 – Das sexte Element

Christian Jandrisits

WAS DIE PILLE IN VIER JAHRZEHNTEN FÜR DIE FRAU GETAN HAT, MUSSTE
DER MANN AM EIGENEN LEIB AUSBADEN. SEXUELLE BEFREIUNG FÜR
SIE, KONTROLLVERLUST FÜR IHN. LUST UND LIEBE FÜR SIE. FRUST UND
HIEBE FÜR IHN. SIE DURFTE DIE WELT IN NEUEM LICHT SEHEN. ER LEBTE
IM SCHATTEN VON ERICA JONGS „ALLWETTER-MÖSE“ BIS JETZT.

Ein Blick in die Zukunft, ca. 2020. Der Mann von morgen wird erst mit 25 das elterliche Heim verlassen, weil das Leben teuer ist und die Zukunft unsicher. In Sachen Sex setzt er auf Chemie. Die Droge seiner Wahl wird eine Kombination aus Viagra und der Pille für den Mann sein. Geburtenkontrolle und Vaterschaftsnachweis werden zum Kinderspiel. Die Folgen: Der Mensch wird sein inneres Kaninchen rauslassen. So sieht es der Biologe Robin Baker in seinem Buch „Sex in the Future“: „Wenn Sex nicht im Zeichen der Reproduktion geschieht“, sagt er, „verfällt der Mensch seiner inneren Promiskuität.“

Faksimile – Archiv 2000 – Das sexte Element

Mit Romantik hat die Vision vom Sex in der Zukunft nichts gemein. Um 2050, meint Baker, werden Babys nur noch im Reagenzglas geboren. Selbst die monogame Frau pflegt eine Art Infernal: Sie hat einen Lebensmenschen, einen Liebhaber sowie für den Nachwuchs einen Samenspender der Güteklasse 1A. Die Idee der Familie wird verschwinden: „Männer und Frauen werden sich daran gewöhnen, dass Kinder, Partner, Co-Eltern und Betreuer sich in der Gesellschaft verteilen.“ Der karriereorientierte Samenspender wird real. Gebärmütter gibt es zu vermieten. Junge Männer werden sich die Samenleiter durchtrennen lassen, zuvor ihre Spermien jedoch auf einer Samenbank lagern und dann bei Bedarf für die künstliche Befruchtung gebrauchen.

Der letzte Satz stammt vom 77-jährigen Wahlamerikaner Carl Djerassi (siehe auch Interview auf Seite 92), einer maximal kompetenten Quelle. Der geborene Wiener ist nicht nur Autor viel beachteter „Science-in-Fiction“-Romane, sondern war vor nunmehr einem knappen halben Jahrhundert ein wesentlicher Weichensteller für obigen Trend. Als Chemiker des Pharmaunternehmens Syntex synthetisierte Djerassi 1951 ein steroidales, orales Kontrazeptivum, das als Ausgangsstoff für die Anti-Baby-Pille verwendet und am 1. Juni 1960 in der Endfertigung des Chicagoer Pharmakonzerns C.D. Searle unter dem Markennamen „Enovid 10“ weltweit erstmals verkauft wurde.

Das 20. Jahrhundert, in der öffentlichen Debatte zusehends im Schlafzimmer heimisch, hatte seinen Katalysator. Die Pille ist bis heute das global meistverwendete Verhütungsmittel. Die Pille ist ein Produkt der Moderne. Insbesondere für die Frau war sie der chemische Stoff, aus dem die Emanzipation gezimmert war. Der Schutz vor ungewollter Schwangerschaft machte den Wunsch nach mehr Unabhängigkeit möglich: Die Frau, bislang als „Stück Natur vom Primitivgeoutet“, hatte nun Kontrolle über Geburten. Beruflich und politisch hatte sie damit plötzlich eine Basis für die Chance der Gleichstellung. Die Idee der Pille, 1921 erstmals vom österreichischen Hormonforscher Ludwig Haberlandt geäußert, stand in diesem Kontext.

Als Djerassi 30 Jahre später den Faden wieder aufnahm, erlag der Zeitgeist gerade den ersten Zuckungen einer Sexualisierung: Der selbsternannte Sexologe Alfred Kinsey hatte einer schockierten Welt mit seinem notorischen Report (1949) soeben enthüllt, dass die eheliche Pflicht, generell die einzig sanktionierte sexuelle Praktik, nur eine von zumindest 57 Varianten war. Ein weiteres Naturereignis ereignete sich 1956 ebenfalls in den USA. „Als Elvis Presley in der Tommy-Dorsey-Show seinen Pelvis zur Musik bewegte“, schrieb der Kulturkritiker Michael Ventura, „verloren alle amerikanischen Eltern in einer einzigen Nacht ihre Kinder.“ Als Elvis im „Heartbreak Hotel“ abstieg, verloren die Girls ihre rigide Doris-Day-Haftigkeit. Elvis war der Erste einer neuen Asskicker-Generation, die „Was steht zur Auswahl?“ sagte, wenn sie gefragt wurde, wogegen sie rebelliere.

TO BE CONTINUED…