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Archiv 2002 – Der letzte Lebemann

Christian Jandrisits

Er ist eine der beständigsten Legenden unserer Zeit. Er ist einer der mächtigsten Männer im Wirtschaftsleben. Und er war einer der charismatischsten Playboys dieser Welt. Eine Hommage an den Fiat-Boss Gianni Agnelli.

Anfangs war Fiat nur ein Vehikel. Als der 1921 geborene Gianni Agnelli nach dem Zweiten Weltkrieg das Dolce Vita entdeckte, gab ihm die Fabbrica Italiana di Automobili Torino nur die Mittel zum persönlichen Zweck, in seiner neuen Welt ein Player zu sein. Diese Welt hatte mit dem Kriegsmaschinenproduzenten Fiat, der dem Duce Mussolini das Rückgrat stärkte, ebenso wenig am Hut wie mit dem Wirtschaftsimperium Fiat, das der spätere „l’Avvocato“ Agnelli einst regieren sollte „wie einen souveränen Staat“.*

Die Welt des Lebemannes Agnelli war wesentlich kleiner. Sie umspannte wenig mehr als die paar Seemeilen von den Jachthäfen der Côte d’Azur bis zu den Buchten der Insel Capri. Aber einem Player mit dem nötigen Kleingeld bot sie weitaus bessere Chancen, an die Existenz eines Gottes zu glauben. So gesehen war Gianni Agnelli von Haus aus gottesfürchtig. Als Enkel des Fiat-Gründers Giovanni Agnelli verfügte er nicht nur über eine kolportierte jährliche Dollarmillion (damals ein extrem stolzer Betrag), sondern auch über die passende Jacht und den motivierenden großväterlichen Auftrag: „Er riet mir, zunächst meine Hörner abzustoßen, damit sie mir später während der Karriere nicht im Weg sind“, stellte Enkel Gianni später einmal klar.**

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Ein Rat, den er in den folgenden zwei Jahrzehnten mit tadellosem Pflichtbewusstsein befolgte. Wobei nie jemand behauptete, dass er sich dazu übermäßig zwingen musste. Schon in den Kriegsjahren hatte er das entsprechende Talent gelegentlich aufblitzen lassen. Auf Früchte dieser Gabe könnte auch der 81-jährige Agnelli von heute noch verweisen. Zum Beispiel eine Schussnarbe am Oberarm, die an sich als „Kriegsverletzung“ in die Agnelli-Legende einging. Tatsächlich wurde der Schuss an der nordafrikanischen Front abgegeben. Kurioserweise war der Absender ein deutscher Soldat, der damals noch als „Kamerad“ eingestuft wurde. Aber wenn im Krieg in einer Bar am Ende der zivilisierten Welt um die Gunst einer Frau gefochten wurde, dann hörte sich die Kameradschaft eben auf.*** Legende auch sein zertrümmerter Fuß, der Agnelli über ein halbes Leben zur Benutzung eines Stockes zwang. Die Story dazu feierte heuer ihren 50. Geburtstag. Die Begleitumstände dazu waren typisch Lebemann Gianni: ein schnelles Auto (laut „Spiegel“ ein Ferrari, andere sprachen von einem Lancia***), am Beifahrersitz ein bezauberndes Society-Girl (damals die 17-jährige Anne-Marie d’Estainville), im Cockpit ein Gianni am Ende einer jener berüchtigten Nächte, die unter seinen Freunden als „les nuits blanches“ (= „weiße Nächte“) einen Namen hatten – Referenz an die Substanz Kokain, die in seiner Lebewelt die Sonne nie untergehen ließ.

Der Bolide prallte damals an einen LKW, und im Bemühen, die Affäre von den Schlagzeilen fern zu halten, wurde vermutlich der richtige Zeitpunkt für die Operation des siebenfachen Bruches versäumt. Als Agnelli endlich am OP-Tisch der diskreten „Clinique Lutetia“ zu Cannes lag, hatte sein Beinfleisch schon Fäulnis angesetzt – die ihm bei vollem Bewusstsein rausgeschnitten wurde. Eine Narkose schien wegen des Kokains in seinem Blut nicht ratsam.*** Kein Zufall, dass er das Gerücht, seine Nasenscheidewand mit einer Silberplatte zu stützen, ein Leben lang nicht loswurde. Anzunehmen, dass die Lebewelt des Gianni Agnelli nicht um vieles harmloser war als der Zweite Weltkrieg zuvor. Der Zeitgeist diktierte eine neue Lebenslust, und die Umstände wollten es, dass Agnelli zu einem Trendsetter derselben avancierte. Nicht dass ihm das notwendigerweise bewusst war. Bekanntlich wird ja nach vorne gelebt und erst im Rückblick verstanden. Jedenfalls bedarf ein Trendsetter einer gesunden Dosis Flexibilität, und dass ihn diese Qualität zierte, hatte er schon im Krieg bewiesen. Wer den Zweiten Weltkrieg im Sold Mussolinis beginnt, um ihn auf Seiten der Amerikaner gegen Deutschland zu beenden, ist eindeutig flexibel.

Gianni Agnelli huldigte bereits einem Rock’n’Roll-Lifestyle, ehe die Musik dazu erfunden war. Er war schon ein Vertreter des Jetsets, als die Flugzeuge noch Propeller hatten. Ein Umstand, der sich schon dem 14-jährigen Gianni unvergesslich ins Gemüt geschraubt hatte, als sein Vater Edoardo 1935 vom Propeller eines Wasserflugzeugs praktisch geköpft wurde.*** (siehe Kasten „Die Agnellis“) Als schließlich seine halbamerikanische Mutter 1945 nach einem Autounfall starb, lag über dem Agnelli-Clan auch bereits jener tragische „Kennedy-Mythos“, dem die Kennedys erst in den Sixties zum Namen verhalfen.

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Giannis Charisma tat dies keinen Abbruch. Er musste in der Regel nicht viel unternehmen, um etwas Leben in seinen Mann zu bringen. Eines schönen Sommertags des Jahres 1948 etwa vertäute er seine Jacht „Tomahawk“ am Pier des südfranzösischen Anwesens „l’Horizon“. Eine zufällig anwesende Dame der Gesellschaft beobachtete ihn dabei. Sie hieß Pamela Churchill. Eine Britin, die heute noch als Pamela Harriman das rare Vertrauen eines gewissen Bill Clinton genießt. Ihrer Schilderung nach*** war der Anblick Agnellis nicht von dieser Welt. Sein Kopf, deponierte sie, gehörte eigentlich auf eine römische Münze. Der 27-jährige Gianni selbst war vermutlich nicht weniger angetan. „Buon giorno, cara“, soll er gesagt haben. „Mein Name ist Gianni Agnelli.“ Das reichte. Der Rest enthob die mediterranen Klatschkolumnisten fünf Jahre lang der Sorge, Material zum Stopfen etwaiger Sommerlöcher zu finden. Die Schwiegertochter des britischen Premierministers im Bett mit dem ehemaligen Kriegsgegner Agnelli, das war eine Verbindung, wie sie sonst nur im Himmel gemacht wird. Gianni sah es vermutlich ähnlich. Denn er war einer, der Geld hatte. Miss Churchill aber, frisch geschieden von Winston-Sohn Randolph, verströmte eine Klasse, wie sie nur den höheren Töchtern Englands anerzogen wird. Bereits einen Tag später segelten die beiden Richtung Capri, wo sie im Sommerhaus des Grafen Rudy Crespi das Gastrecht genossen. Noch Jahre später sollte Graf Rudy von seinem ersten Eindruck berichten. Demnach kam ihm Gianni nackt entgegen, um ihm die ebenfalls nackte Pamela vorzustellen. „Nie zuvor habe ich einen echten Rotschopf gesehen“, soll er gesagt haben.***

Die Vorstellung einer neuen Flamme, wie Gott sie schuf, war unter seinen Freunden nicht ungewöhnlich. Eine spätere „Trophäe“, die schwedische Sexbombe Anita Ekberg („La Dolce Vita“) wurde zu diesem Zwecke sogar gebeten, auf einen Tisch zu steigen. Wie er es mit anderen Klassefrauen seiner Welt hielt, beispielsweise mit den Schauspielerinnen Rita Hayworth, Linda Christian (Partnerin von Tyrone Power) und Danielle Darrieux (Gattin des „Players“ Porfirio Rubirosa), oder auch mit Jackie Kennedy, verschweigt das Archiv.

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Pamela Churchill jedenfalls genoss in Agnellis Lebewelt einen besonderen Rang. Zum einen waren ihr die großen „Player“ seiner Szene seit Jahren vertraut. Sie hießen unter anderem Aly Khan, Elie Rothschild, Gunter Sachs und Ari Onassis. Sie waren alle millionenschwer und Jacht-bewaffnet. Und sie teilten alle eine Leidenschaft, die im ausschweifungsschwangeren Klima der Nachkriegsjahre eher selten Leiden schuf: die Jagd nach den attraktivsten „Trophäenfrauen“, die das Mittelmeer zu bieten hatte. Wenn die Lust eines „Players“ erlahmte, kam bei der Nachfolgefrage selten Verlegenheit auf. Als Pamela etwa zu Gianni fand, war ihr Ex-Lover Aly Khan auch schon bei Rita Hayworth zu Gast. Gianni & Co waren die ultimativen Playboys. Aber wie so vieles kam auch dieser Begriff erst später in Umlauf.

An sich stand Agnelli im Ruf, sich mit seinen Geliebten ungewöhnlich schnell zu langweilen. „Gianni will seine Frauen nicht lieben“, kommentierte seine spätere Gattin einmal, „er will sie erobern.“ Pamela Churchill stellte diesbezüglich eine Ausnahme dar. Was zum anderen – mit Qualitäten zu tun hatte, die keine andere Schönheit der Riviera zierte. Von Anfang an unterzog sie ihren Gianni einer Behandlung, die in der Szene als „Pamelisieren“ einen stolzen Ruf hatte. Seinen Hang zur Promiskuität quittierte sie emotionslos. Auch an jenem Tag, als sie sein Kind abtrieb, während er sich mit einem One-Night-Stand vergnügte.*** Seine Partys am mächtigen Anwesen La Leopolda in Cap Ferrat, das er 1951 erstand, kamen erst durch ihre sensationelle Hostessentätigkeit zum legendären Ruf. Sie kannte, so hieß es, die bevorzugte Zigarettenmarke jedes geladenen Gastes. Sie war es, die Giannis diskreten Abtransport nach dessen 1952er-Unfall mit dem Ferrari/Lancia organisierte, und als es 1953 für Agnelli darum ging, mit einer Gattin sesshaft zu werden, war es Pamela (sie kam als Gattin, u.a. mangels Jungfräulichkeit, nicht in Frage), die ihn zur Heirat mit der neapolitanischen Fürstentochter Marella Caracciolo di Castagneto überredete. Ein im Wesentlichen recht sentimentales Zeremoniell. Gianni habe, sollte sie später vermerken, während der Trauung kein einziges Mal gelächelt. Es war, als wüsste er, dass mit der Eheschließung der legendäre Abschnitt seines Lebens zu Grabe getragen wurde. Nachspiele kamen vor. Aber spätestens 1966 – mit seiner Berufung zum alleinigen Boss – wurde ihm der Turiner Konzern zum Lebensinhalt. Fiat war nicht mehr länger nur ein Vehikel.