AKUT
Die Tante Friedi weiß nicht weiter
Die Tante Friedi ist neunundachtzig geworden, letzte Woche war Geburtstag. Sie hat drei Mal feiern müssen, einmal mit der Großen und einmal mit der Kleinen. Weil die Mädeln wollen sich nicht mehr sehen. Am Geburtstag selber war gar niemand da dann, so ist sie zum Walter ans Grab gegangen und hat dort eine Torte gegessen. Der Walter ist schon bald zwanzig Jahre tot, ein Herzinfarkt, aber wahrscheinlich ist er an Trübsal gestorben. Weil er hat ihn grad noch erlebt, den Krieg, als 17-Jähriger haben sie ihn noch in den letzten Tagen losgeschickt. Viele Freunde sind nicht mehr heimgekommen. Und er hat Sachen tun müssen und Geschichten erlebt, die hat er nicht gut weggesteckt. Die Tante Friedi hat sich später von anderen Frauen aus dem Grätzel sagen lassen müssen, dass es ein Glück war, dass der Walter sich so früh verletzt hat, weil so hat er überlebt. Und dass sie jetzt wenigstens einen Mann hätte. Aber einfach war das eigentlich nicht, mit dem Walter, den hat sie schon kaputt geheiratet, Anfang der Fünfzigerjahre. Also war sie eigentlich alleine mit den Töchtern, den zwei Mädeln, ganz eng waren sie, ein Triumvirat. Und sie haben sich die ganze Zeit unterstützt und den Walter haben sie gut ausgehalten, auch wenn dem öfter einmal die Hand ausgekommen ist, in seiner Verzweiflung über sich und die Welt. Und dann haben sie ihn beruhigt. Gut war das, die Mädeln und Tante Friedi. Sie hat viel gearbeitet, war Näherin. Sie war auch stolz, dass sie den Mädeln alles geben hat können, sie selber hatte nicht einmal eigene Schuhe damals, da sind sie manchmal abwechselnd zur Schule gegangen, ihre Geschwister und sie. Aber ihre Mädeln, die haben viele Schuhe gehabt, jede vier, fünf Paar.
Komisch ist das jetzt, dass es jetzt so gekommen ist, dass sie am Geburtstag alleine sein hat müssen. Aber es ist so, dass die große Tochter findet, sie sollte sich impfen lassen. Und sie würde sich eh’ impfen lassen, wenn’s gesund ist, aber die Kleinere, also die ist so eine ausgebildete Heilpraktikerin. Und die will die Impfung nicht, sie schwört, die ist gefährlich für alle. Und die Tante Friedi weiß jetzt auch nicht, man liest viel, aber ja, doch, sie hätte sich wirklich impfen lassen. Früher hat man sich ja auch gegen Pocken geimpft. Was der wohl denken würde, der Walter, über die Zeit gerade. Ob er sich impfen hätt’ lassen? Wohl schon, weil ein Freund von ihm hatte Kinderlähmung und der saß sein Lebtag lang im Wagerl. Und wie gut war es, als sie die Impfung gegen die Kinderlähmung gefunden haben.
So schade, die Töchter, die wollen sich nicht einmal mehr sehen. Und die Ältere redet so arg ein, auf die Tante Friedi. Hat letztens geschrien, dass alle, die sich nicht impfen lassen, Corona kriegen. Und dann gehts wie im russischen Roulette. Aber die Kleine sagt, wer gesund ist, wird nicht so arg krank und sie hat extra einen Tee aus Nordeuropa bestellt, den trinken die da oben, um gegen harte Zeiten gerüstet zu sein. Die Tante Friedi streckt den Tee mit Rum, er ist ein bisserl gar grausig. Und die Große kommt jetzt am Freitag nicht mehr zum Familienessen. Erst wieder, wenn die Tante Friedi geimpft ist. Es reicht ihr jetzt, der Großen. Seit je her Jahren gibt es doch Freitag Abend das Essen, das war immer fix und wer Zeit gehabt hat, ist vorbeigekommen. Sie kocht jetzt immer zuviel, weil kaum wer kommt, weil die Kleine hat auch nicht immer Zeit. Hat sie halt den Schweinsbraten und alles in den Kühlschrank gepackt, die Tante Friedi. An dem isst sie jetzt die ganze Woche. Geröstete Knödel mit Saft sind ja auch was Feines.
Und sonst weiß sie einfach nicht. Wenn sie sich impfen lässt, sieht sie die Kleine nimmer. Die hat auch mit ein paar uralten Freundinnen gebrochen. Und wenn sie sich nicht impfen lässt, dann hat die Große so eine Sorge mit ihr, das ist kaum auszuhalten und sie reden auch nur über das. So gern würd’ sie einfach mit den Mädeln und ihren Familien und den Enkerln einen Ausflug machen – so wie früher, in ein Tanzlokal. Oben am Wilhelminenberg hat es einen Heurigen gegeben, da hat man tanzen können, da war sie oft hin mit dem Walter, als der noch ein bisserl tanzen wollte, am Anfang. Irgendwie hören die Leut’ mit der Zeit auf zu tanzen, sagt die Tante Friedi. Und sie versteht eigentlich gar nicht, was passiert ist, dass jetzt alles so ist. Vor Corona und vor dem Tod hat sie keine Angst. Weil wenn keiner mehr kommt am Freitag, dann will sie eh nimmer. Wieso das Triumvirat kaputt geworden ist, versteht sie nicht. Weil sie haben doch so viel gemeinsam geschafft, die Mädeln und sie, die Tante Friedi.
Heidi List
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.