AKUT

Herr Kurt und sein SS-Opa

Christian Jandrisits

Kurt Molzer erinnert sich an eine Autofahrt in den frühen Achtzigerjahren. Mein Vater hat geradeaus durch die Windschutzscheibe gestarrt und ganz ruhig zu ihm gesagt: „Aussteigen, jetzt.“

Text/Foto: KURT MOLZER

Meine Oma hat riesengroße Duttln gehabt. Ich hab mir oft gedacht: Schade, dass ich nur ihr Enkerl bin und nicht der Opa. Und meine Oma hat einen weißen Peugeot 504 gehabt, und ich hab hinten auf der Rückbank immer das Gefühl gehabt, dass sie mit ihren Duttln lenkt anstatt mit den Händen. Der Opa, der zu blöd für den Führerschein war, ist wie ein Wachhund danebengesessen und hat Anweisungen zum Spurwechsel oder Überholen gegeben.

KURT MOLZER – nachrichten in unkorrekter sprache (WIENER 449)


Meine Oma hat Ossy Molzer geheißen, sie war eine Wienerliedsängerin, und ihre größten Hits waren „Urli, Urli“, „A Standerl im Schuach“ und „A Muatterl hast nur amol“. Sie hat Schallplatten gemacht, sie hat im Radio und in Heurigenlokalen gesungen und ist auch im Fernsehen aufgetreten, zum Beispiel bei Heinz Conrads („Guten Abend am Samstag“). Mein Opa, der Wachhund, ist auch in den Heurigenlokalen und bei der Aufzeichnung von „Guten Abend am Samstag“ im Publikum gesessen. Er war rasend eifersüchtig, er hat oft gesagt: „Da Conrads wü mei Oide pudern.“ Aber wer weiß, vielleicht war da ja auch wirklich was dran, also wär ich der Conrads gewesen …

Womöglich hat mein Opa als menschlicher Wachhund im KZ Mauthausen auch den einen oder anderen Juden umgebracht.

KURT MOLZER


Wie auch immer, mein Opa war überhaupt der geborene Wachhund. Aber kurz bevor er Wachhund geworden ist, wurde er Mitglied der Leibstandarte SS Adolf Hitler. Das hat er lange nach dem Krieg und auch erst nach meiner Geburt meinem ­Vater, seinem Sohn also, gesagt, als der ihn gefragt hat, was denn die eintätowierte Blutgruppe unter dem linken Oberarm zu bedeuten habe (all die Jahre hat Opa diese Tätowierung verborgen gehalten). Opa hat weiters erzählt, er sei an der Westfront gewesen. Jedoch gibt es erhebliche Zweifel daran. Später hat er nämlich auch erzählt, er habe 1945 in Oberösterreich schwimmend die Donau überquert, um den Amerikanern nicht in die Hände zu fallen. Am 3. Mai 1945 haben sich die letzten SS-Angehörigen des Lager Mauthausens aus dem Staub gemacht, bevor Einheiten der 3. US Army zur Befreiung gekommen sind. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war mein Opa einer von diesen SSlern. Womöglich hat mein Opa als menschlicher Wachhund im KZ Mauthausen auch den einen oder anderen Juden umgebracht.

„Warum bremst’n du für den Jud?“

Ich habe als Kind mit einem ehemaligen KZ-Aufseher der Leibstandarte SS Adolf Hitler „Hoppe, hoppe Reiter“ gespielt. Das muss man erst einmal verdauen. Und ich hab ihm ein Busserl auf die Wange gedrückt, wenn er mir zum Geburtstag ein Matchbox-Auto geschenkt hat. Da war mein Opa ja immer noch ein Nazi und ein Judenhasser. Er ist es bis zu seinem Tod geblieben (im Schaukelstuhl bei der „Zeit im Bild“). Als ich in der Pubertät war, bin ich mit meinem Vater und meinem Großvater im Auto unterwegs gewesen, und zwar in Vaters rotem 2CV. Wir sind die Taborstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk entlanggefahren. Mein Vater hat vor einem ­Zebrastreifen angehalten, um einen gebrechlich wirkenden, schwarz gekleideten ­alten Mann mit hohem Hut und langen Schläfenlocken queren zu lassen. Opa hat meinen Vater verständnislos von der Seite angeschaut: „Warum bremst’n du für den Jud?“ Mein Vater hat geradeaus durch die Windschutzscheibe gestarrt und ganz ruhig gesagt: „Aussteigen, jetzt.“ Opa hat sich wortlos aus dem kleinen Franzosen gezwängt und die dünne Pappendeckeltür so heftig zugeschlagen, dass sie gar nicht eingerastet, sondern zurückgependelt ist und wieder sperrangelweit offen war.


Und dann habe ich alles über meinen Opa erfahren, der Kurt Molzer geheißen hat wie mein Vater und ich. Mich hat das damals bis in meine Träume verfolgt. Ich habe von dem KZ-Schergen Kurt Molzer geträumt, der einen Schäferhund auf einen jüdischen Häftling loslässt und ihm dann mit der Pistole in den Kopf schießt. Ich habe den ausgemergelten Körper zu Boden sacken sehen, und ich habe gesehen, wie das Blut aus der Wunde strömt und wie Kurt Molzer dem Toten noch einen Tritt verpasst.
„Keine Angst“ lautet das Kern­thema dieser WIENER-Ausgabe. Und ich hab tatsächlich keine Angst, vor nix und niemandem, denn was soll einer noch fürchten, der solche Träume hatte?
Ein stacheliges Virus? Eine verglühende Erde? Oder gar den neuen GröFaz am Roten Platz?

Es lebe die
Ukraine!

Kurt Molzer
ist eine der heißesten Aktien unter den deutschsprachigen Journalisten. Er war Chefreporter bei „Bild“ und „Bunte“, Chefredakteur von „Pent­house“ und ist auch den Lesern von „RAMP“ kein Unbekannter. Für den WIENER lässt der gebürtige und nun auch wieder hier lebende und arbeitende Buchautor seine Hochzeiten als „GQ“-­Kolumnist wieder aufleben. Allerdings in leicht veränderter Form.